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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Eine neue Zwiespältigkeit – menschlich und digital

David Toop & Naut Humon


"Wenn ich die Wahl habe, etwas anzuhören, was ich wirklich mag, oder gar nichts zu hören, dann höre ich oft lieber gar nichts."
David Toop


Inzwischen ist die digitale Technologie in unserem Leben allgegenwärtig geworden. Selbst für einen akustischen Gitarristen erfolgen Aufnahme, Abmischung, Schnitt, Mastering, Distribution, Promotion und Wiedergabe von Musik mit größter Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Hinsicht mit digitalen Mitteln. Im Jahr 2003 sieht sich die Digital-Musics-Jury mit einem Dilemma konfrontiert: Wie kann digitale Musik noch von anderen Musikformen unterschieden werden? Einige der neuesten Trends in der Musik lassen sich als Antwort auf die digitale Technologie interpretieren, auch wenn die Mittel zur Klangerzeugung innerhalb des Körpers liegen oder in Instrumenten aus Holz oder Metall.

Digitales Hören ist einer der Aspekte dieser Veränderung. Der mikroskopische Schwerpunkt auf den kleinen Klängen, die der Computer in Verbindung mit den winzigen Transformationen, die für Audio-Software-Programme typisch sind, erlaubt, hat Timbre und Form vieler verschiedener Arten des Musikschaffens beeinflusst. Selbst der reduzierte Geräuschteppich bei Aufnahme und Wiedergabe, der mit der Digitalisierung einhergeht, bringt all jenen Musikern neue Möglichkeiten, die ein bisher unbekanntes Verhältnis von Geräusch und Stille oder Inaktivität zu Aktivität erforschen wollen. In einem größeren Zusammenhang hingegen hat sich die überbordende Informationsflut, die für digitalisierte Gesellschaften typisch ist, zu einem Katalysator für eine Gegenbewegung entwickelt, in der Rückzug, Subtilität und Stille zu Kernbegriffen geworden sind.

Die aus einer solchen philosophischen Position entstandenen Audiowerke zeigen im wesentlichen eine Art Fluchtverhalten; sie sind nach weniger offensichtlichen Prinzipien strukturiert, ihre "narrative Gestalt" entwickelt sich weniger transparent oder dramatisch als in irgendeiner der bestehenden ästhetischen Formen digitaler Klangkunst. Dies hat für die diesjährige Jury einige schwer zu beantwortende Grundsatzfragen aufgeworfen (und wird es wohl auch für die kommenden Jurys tun): Ein Preis wie die Goldene Nica impliziert stets ein "Meisterwerk", ein in seiner Gesamtheit und in seiner technischen, technologischen und formalen Virtuosität unangreifbares Stück. Und das Problem könnte durchaus sein, dass man bei Wettbewerben dazu neigt, automatisch nach den "großen Statements" zu suchen und die kleineren, eher persönlich gehaltenen Stücke dabei zu übersehen.

Aber ist das im 21. Jahrhundert überhaupt noch von Bedeutung, in einer Zeit, in der der Wandel so rapide erfolgt und die Publikumsgruppen so aufgesplittet und so unterschiedlich sind? So ein enormer Paukenschlag, wie ihn eine alle Grenzen durchbrechende Komposition wie etwa Karlheinz Stockhausens Telemusik darstellte, scheint der Vergangenheit anzugehören. Ob zum Vorteil oder Nachteil – die Quantität scheint einer der entscheidenden Trends der digitalen Musik zu sein. Da es inzwischen schon sehr simpel geworden ist, auf einem Heim-PC mit Standardsoftware-Paketen Aufnahmen zu machen und die Ergebnisse dann auf CDRs zu brennen, hat sich eine wahre Lawine von technisch durchaus ausgefeilter, aber dennoch häufig uninspirierter Musik über uns ergossen. Ein bemerkenswerter Aspekt vieler der Werke, die sich dieses Jahr über den allgemeinen Sumpf erhoben, war, dass sie im positiven Sinn neue Möglichkeiten eröffnen und weniger in Richtung Beschränkung gehen. Auch wenn dies auf den ersten Blick eine bescheidene Errungenschaft scheint, so können ihre Implikationen und Einflüsse doch viel profunder sein als jene eines lauteren, großartigeren Werks.

Ein gutes Beispiel in dieser Hinsicht ist der Gewinner der Goldenen Nica 2003, eine Aufnahme von zwei Duos: die Vokalistin Ami Yoshida mit dem Synthesizer-Spieler Utah Kawasaki ("Astro Twin") und Yoshida mit Sachiko M ("Cosmos"), die die in einem digitalen Sampler installierten Sinewaves spielt. Diese drei Musiker sind in einer Szene engagiert, die den subversiven Einsatz von Technologie erforscht und sich dem Minimalismus, der Zurückhaltung und Stille und der Auslotung der äußersten Grenzen der Gehörwahrnehmung verschrieben hat. Diese Szene ist ebenso eindeutig japanisch wie international und Teil einer größeren Bewegung, die sich nicht länger in irgendeiner Rubrik wie Improvisation, Minimalismus, elektronische Musik oder Komposition einordnen lässt. Die Musiker sind einerseits sehr anpassungsfähig, andererseits beschränken sie ihren Aktivitätsbereich ganz bewusst und umgehen die Verlockungen des 21. Jahrhunderts, in dem alles möglich ist.

Begriffe wie Stärke oder Interaktion werden infrage gestellt, genau wie John Cage in den 50-er Jahren die überkommenen Ansichten von Musik, Geräusch und Stille in Frage stellte. Vor allem hinterfragt diese Art von Musik die Relevanz von Definitionen jedweder Art von Audio-Aktivität in Zusammenhang mit einem einzelnen technologischen Ansatz. Die utopischen Träume des 20. Jahrhunderts sind durch die Erfahrung gedämpft worden. Unsere Zukunft als Menschen hängt von einer Beziehung zur Technologie ab, die unsere eigenen Humanität unterstützt.

Solange digital arbeitende Musiker weiter die Rolle, die Software für Charakter und Identität ihres speziellen Klanges spielt, aktiv erforschen, fragt man sich, wie sehr solche Prozesse die Identifikation eines Hörers mit den vielleicht ungewohnten oder unüblichen Details beeinflusst, die der Künstler zu transportieren versucht. Verschreibt sich der Künstler einfach den kompositorischen Erwartungen und dem Stil eines elektronischen Genres, oder bemüht er sich, über trendige musikalische Anachronismen hinauszugehen und eine technologische Transparenz zu suchen, wo die offensichtliche Demonstration der Software in einem tieferen, erfahrungsorientierten Organismus zu "verschwinden" scheint? Traditionellerweise benützt ein großer Teil der modernen elektronischen Musik akustisches oder synthetisches Quellmaterial und verkleidet es durch transformierende Signalbearbeitung oder nicht-destruktive Schnitttechniken. Wenn einerseits neu entwickelte Programme zur physikalischen Modellierung versuchen, ältere analoge oder instrumentale Klänge exakt zu emulieren, gibt es andererseits bei einigen menschlichen Improvisatoren, die mit analogen Synthesizern, Stimme und Live-Instrumenten arbeiten und die in ihren Werken eine Art digitaler Haltung und digitalen Einflusses vermitteln, eine diesem Trend ebenbürtige Gegenbewegung.

Und genau an diesem Schnittpunkt kreuzt sich das Reich der digitalen Musik mit dem seiner analogen Vorgänger und bringt frische hybride "Audentitäten" hervor, die keineswegs immer mit ihren vermuteten Quellen verbunden sind. Zahlreiche der heuer ausgewählten Werke reflektieren die immer deutlicher werdende Tendenz, diese Grenzen zwischen den ohnehin nur mehr schwach unterschiedenen Audio-Terrains noch weiter zu verwischen.

Die außergewöhnlichen Qualitäten, die wir in Ami Yoshidas Zusammenarbeit mit Sachiko M und Utah Kawasaki fanden, repräsentieren unscheinbare Bereiche der Improvisation, die in den vergangenen Jahren des Prix Ars Electronica nur selten Thema von Einreichungen waren.

Astro Twin & Cosmos waren immer wieder Thema unserer Diskussionen, denn sie sind ein herausragendes Beispiel für dieses jüngere unprätentiösen Musikmilieus. Wir hatten zwar einen Grund, uns über alle mit ihrer Live-Erforschung verknüpften Intentionen nachzudenken, aber übertrieben ernsthaft fiel dieses Nachdenken nicht aus, da die Musiker selbst von den subtilen Richtungsänderungen ihrer Klänge überrascht zu sein schienen. Amis Stimme – die niemals wirklich singt – klingt wie ein technisches Artefakt von einer gesprungenen CD oder so ähnlich, wenn sie Utahs analog generierten Ausbrüchen gegenüber gestellt wird, die ihrerseits wiederum heftigst nach "digital" klingen. Sachiko Ms Sinuswellen-Klangbetten beeinflussten Yoshidas Stimmeinlagen hin zu eher insulären stimmlichen Äußerungen - insgesamt also ein sehr personalisierter "Kosmos" aus Texturen und Nuancen.

Als diese beiden Gruppen angespielt wurden, gab es so etwas wie einen Knackpunkt, der den Raum und die Atmosphäre zu verändern und gleichzeitig den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit zu verschieben schien. Und solche Momente blieben in unserem Gedächtnis haften und führten letztlich zu dieser überraschenden Goldenen Nica – und zur Auswahl einiger sehr signifikanter anderer Werke.

Eine der diesjährigen Anerkennungen ist Foldings, ein Live-Dokument einer Performance von Mark Wastell, Taku Sugimoto, Tetuzi Akiyama und Toshiimaru Nakumara auf präparierter akustischer Gitarre, Turntable, Kontaktmikro, Verstärker, Druckluftreiniger und einem No-Input-Mischpult. Hier sind die elektronischen Klänge rar, die Momente der Stille hingegen lang. Diese Live-Vorgänge sind so subtil, dass das Aufmerksamkeits- uhd Spannungsniveau bei Ensemble und Publikum extrem erhöht ist. Diese Hingabe an den Klang als reinen Klang versetzt Musiker wie Hörer in ein neues Hyper-Bewusstsein. Fast verschwunden sind jene überstrapazierten Performance-Techniken vieler Generationen freier Improvisation. Der "neue" Musiker hat nichts, hinter dem er sich verstecken könnte. Es sind der Fleiß und die Sorgfalt, mit denen diese gefühlvollen Umgebungen erarbeitet werden, die die übrigen Kernbestandteile eines jeden mikroklanglichen Ereignisse vorantreiben. Hier handelt es sich um eine Improvisationssprache aus definierten Methoden und Parametern, getränkt mit einer "digitalen" Sensibilität. Solch eine Aufnahme wäre im vor-digitalen Zeitalter unmöglich gewesen. Die hier agierenden Personen haben auf alle Details gelauscht, die in der digitalen Musik möglich sind, und gelangen zu Ergebnissen, die sich stark von der Vinyl-Werktreue früherer Dekaden unterscheiden.

Sowohl die Astro Twins / Cosmos-Konfiguration wie auch die Foldings-Gruppe reflektieren einen Teil einer reduktionistischen Musik-Community, die die Konzentration auf diese stillere, intimere Ästhetik untersucht. Es gibt Teile in diesen Aufnahmen, die unterentwickelt bleiben und nur halb ausformuliert oder fragil sind, aber mit der Anerkennung dieser bemerkenswerten kleineren Szene bestätigt sich einmal mehr der Anspruch des Prix Ars Electronica, dass auch ein Projekt, welches ziemlich obskur, weniger ausgereift oder sogar technisch sehr sparsam ist, noch immer eine gute Chance bei den jährlichen Juroren hat. Dieses Signal an die Digital-Musics-Community soll auch zeigen, welche Herausforderung es bedeutet, in einem gesättigten Klima, in dem elektronische Musik und Computer überall präsent und längst nichts Außergewöhnliches mehr sind, noch neue Werkzeuge und Klänge zu schaffen.

Das Außergewöhnliche dabei ist aber unter Umständen der Langzeiteffekt, dass nämlich die digitale Musik mit anderen Arten des Musikschaffens verschmolzen ist. Womit wir uns hier auseinandersetzen, ist die Frage, wie die aktive Technologie die Musik zum Guten oder zum Schlechten geformt hat. Und was die Frage nach der Kontrolle betrifft – bewegen sich Gruppen wie diese weg von der romantischen Idee, dass der Komponist dank des Einsatzes von Technologie zur Gestaltung einer narrativen Verbindung jeden Aspekt der Zuhörerreaktion vorhersehen und steuern kann? All diese Ansätze sind noch im Fluss, sind verschwommen und vieldeutig. Unser Urteil war keineswegs einmütig.

Und was gibt es über einige der anderen Arbeiten zu sagen?

Der Gewinner einer der beiden Auszeichnungen, Florian Hecker, arbeitet an zahlreichen Fronten: Hecker steht in einem Dialog mit Entwicklern digitaler Instrumente und bezieht sich auf eine experimentelle akademische Ästhetik, ohne in die Fallen der scholastischen Gehirnwäsche zu tappen. Er verändert Software und Klänge nach seinen eigenen Bedürfnissen, die nicht den üblichen Regeln folgen. Jeder Track auf Sun Pandämonium verwendet einen anderen Ansatz zur wissenschaftlichen Synthese - roh, dicht und manchmal sogar verblüffend. Selbst die Klarheit der Intention, die in seinen arbiträren Formationen zum Ausdruck kommt, bahnt sich einen intuitiven Pfad durch die inneren Welten von Microsound und dessen Nachkommenschaften.

Die Norwegerin Maja Solveig Kljestrup Ratkje ist die andere bemerkenswerte Auszeichnung; ihre ausgedehnten vokalen Bearbeitungen stellen die Grundlage für ihre CD Voice dar. Die Zusammenarbeit von Ratkje mit John Hegre von Jazzkammer und dem Koproduzenten Lasse Marhaug umfasst wild durcheinander gewürfelte und als Samples zerschredderte stimmliche Äußerungen, die über zeitlich gestreckte Ebenen ihrer perkussiven lauststarken Cut-ups und Klangwände dahin babbeln, bellen, quackeln und quietschen. Zunächst hat dieser dynamische Platzregen uns überraschte Juroren gefesselt und gleichzeitig auch abgeschreckt. Auch durch wiederholtes Hören blieb diese Gegensätzlichkeit bestehen, ja, sie fesselte eher die Aufmerksamkeit bis zum Ende. Aber egal ob diese virtuosen Implikationen den einen allzu dramatisch erschienen oder den anderen allzu beunruhigend – es ist schwer, die Kraft des mutigen, geradezu besessenen Geists zu leugnen.

Eine weitere improvisierende Gestalt, die den Übergang von Gitarren-Massakern zur Laptop-Absorption geschafft hat, ist Kevin Drumm. Sein zutreffend Sheer Hellish Miasma genanntes Album kombiniert beide Ansätze in ein brutales wirbelndes Chaos knurrender Verzerrungen und anschwellender durchdringender Töne. Es erinnerte die Jury an die Tradition der Metal Machine Music, als ob diese durch einen etwas weniger explizit an den reinen Noise-Sektor gebundenen Filter gelaufen wäre. Drumms Einsatz von Drones in dieser Aufnahme ist trügerisch, spastisch und alles durchdringend und zeigt in Richtung einer persönlicher Signatur in seinem anschwellenden Werkkatalog.

Selbst zwanzig Jahre nach ihrer Gründung ist die britische Gruppe Whitehouse noch immer zu extrem, um eine Mehrheit in dieser Jury zu finden. Die Band hat sich von einem ambivalenten "80s Industrial" zu einem zeitgemäß klingenden digitalen Blast hin entwickelt und konzentriert sich stärker als je zuvor auf ihre Anliegen. Offensichtlich, aber nicht offensichtlich genug, ist Whitehouse eines von wenigen Kollektiven, die explizit politische Fragen mit ihren extremen und kontroversen Anliegen verknüpft. Angesprochen werden Themen von Macht, Medien, Gewalt, Missbrauch und Fetischismus, und Whitehouse löste die heftigsten Debatten unter den Juroren aus. Der voyeuristische Aspekt ihrer Werke erschien den einen von uns bloß als choreografierte Provokation, den anderen wiederum als abstoßende Theatralik. Aber allein die Tatsache, dass die Qualität der Abscheu, des Widerspruches oder der Faszination, die ihre Musik und deren dialektische Botschaft auslöste, in der Jury eine derartige Polarisierung bewirken konnte, war Garant dafür, dass unsere geteilte Meinung letztlich zu einem heiß diskutierten Platz unter den Anerkennungen führte. Die ungebrochen kraftvollen Live-Spektakel und die wilden Soundworks sind ein untrüglicher Beweis für die brutale Kraft dahinter. Mögen die Exzesse weitergehen!

Gert-Jan Prins brachte uns sein Risk zu Gehör. Er verwendet absolut nichts als Instrument, was man im Laden kaufen kann. Technisch gesehen, könnte dies ein Nebenprodukt eines eigens entwickelten mechanischen Prozesses sein, der Radiosender und andere Objekte versammelt, um aurale Projektionen von Frequenz-Interferenzen auf Publikumsmassen (und irgendwann auch auf ProTools) loszulassen. Das ist scharf. Das hat schon was. Es ist wirklich differenziert und geformt. Es pulsiert wie wild und ist sehr roh. Nein, das ist keine Musik, wie wir sie normalerweise kennen, aber es verwendet eine technische Struktur, die man als nicht-lineare Klangerfahrung wahrnehmen kann. Jump Cuts und wildes Drehen. Beurteilen wir Künstler, Techniken, Objekte oder Stücke? In diesem besonderen Fall einer Einzelperson mit kleinen analogen Geräten auf einem Tisch müssen wir den Angeklagten in allen Punkten schuldig sprechen! Reagieren wir auf Namen oder auf das, was wir hören? Nun, dies war nicht einfach eine weitere elektroakustische "Quietsche-Spielzeug"-Narration, dies war auf eine grobe, massive Weise sehr geschickt – das zeigt eine frische Art, Geräte zusammenzufügen, und überhaupt, wer ist der Kerl eigentlich? Und worum geht es? Es versucht nicht, den Hörer in irgendeinen besonderen Zustand zu versetzen, der ihm dann irgendwas erzählen soll. Hier haben wir den direkten Ansturm.

Die Klangarbeit von Toshiya Tsunoda stellt eine radikale Neuinterpretation des Konzepts von Vor-Ort-Aufnahmen dar. Mit dem peinlich genauen wissenschaftlichen Ansatz eines Sammlers fängt Tsunoda die Tiefe der Landschaft, den lebensspendenden Atem der Dinge ein. Jedes seiner Werke ist allein schon wegen der kompositorische Struktur bemerkenswert, die, wie er beweist, den Klängen gefundener Objekte inhärent ist. Das Ergebnis sind erstaunlich schöne elektronische Werke, die nur wenig Ähnlichkeit mit dem aufweisen, was wir normalerweise unter "Umweltaufnahmen" verstehen. Tsunoda basiert seine Methodologie auf elektrisch vibrierende Objets Trouvés, an denen er Sensoren anbringt, die schwache elektrische Ströme transportieren, was sie letztlich hörbar macht. Die Ergebnisse zeichnet Tsunoda typischerweise im Freien und in der Nähe von Wasser auf. Zu den Objekten, die Tsunoda als Aufnahmequellen verwendet, gehören die Luft innerhalb einer Glasflasche ebenso wie die Risse in Kanaldeckeln oder die Luftbewegungen über – oder in besonderen Fällen innerhalb – feste(r) Oberflächen an speziellen Orten wie Häfen oder Lagereinrichtungen.

Nymphomatriarch war zufällig aus jener physikalischen Alchimie des Einfangens der Sexgeräusche der Partner Rachael Kozak (Hecate) und Aaron Funk (Venetian Snares) gemacht. Ein freakiges Set aus Stöhnen, Grunzen und Schlägen auf die Haut wurde in Chöre, Drumbeats und andre timbrale Konstruktionen geformt. Auch wenn die Jury diese sexuelle Morphologie bemerkte, maß sie ihr doch kaum Bedeutung zu. Was aus dieser sehr persönlichen Untersuchung jedoch herausragte, waren der Stil und der Punch der Musik selbst - unabhängig von ihren provokativen Quellen. Sie stand eigenständig vor uns, als ein beklemmendes Werk, das sich mit Mark erschütternder Dynamik und einer aus dem Bauch her behandelten Stimmung beschäftigte und nichts mit Pornomusik zu tun hatte, aber alles mit dem organischen musikalischen Ausdruck animalischer Instinkte.

Oren Ambarchi behandelt die Gitarre als Sound-Generator. Seine Interpretation des Instruments klingt nicht unähnlich einem Fender Rhodes von früher, wenn er in Echo und Hall ertrinkende Melodien schafft, die sich selbst aufzuhängen scheinen, dazu langsam drehende Narrative und sich wiederholende Muster, die bisweilen klingen wie hängengebliebene Vinylscheiben, innerhalb deren Wiederholungen abstrakte Muster aufsteigen und fallen. Schaltklicks und Knacken, Saitenquietschen, Kabelgeräusche und Rückkopplungsbrummen haben auch ihre eigene Musikalität, die Ambarchi einfängt und zum Komponieren verwendet. Das Ergebnis ist schlichtweg atemberaubend, einzigartig, und bisweilen meint man, Ambarchi spiele ein bislang unentdeckt gebliebenes Instrument. Um mit Ambarchi selbst zu sprechen – seine Gitarrentechnik besteht nur darin, das "Instrument in eine Zone fremder Abstraktion umzuleiten, in der es nicht mehr so leicht als das identifiziert werden kann, was es ist, sondern ein Laboratorium für eine erweiterte klangliche Untersuchung darstellt".

Die Gruppe Rechenzentrum verarbeitet Klangdesign, Musik und Videobilder in raue, emotional komplexe Melodramen, in denen sich die Ereignisse zu sich ständig verschiebenden Konflikten verbinden. Klänge und Rhythmen werden zu Darstellern, schaffen kaum lösbare Spannungen, rufen Szenen unterdrückter Bedrohlichkeit hervor. In dem, was ihr interdisziplinäres Werk einfängt, liegt etwas inhärent Lebendiges, das über die Unterscheidbarkeit ihrer ästhetischen Hybris hinausgeht. Verstimmte Saiten, Dance-Floor-Dumb, minimaler Techno, Hip-Hop und post-industrielle Klangcollagen verbinden sich mit einer Bildwelt aus Text, Autobahnen, Maschinen und Instrumentalensembles und schaffen wunderbar dunkle kinematische Allegorien, die uns dazu zwingen, ästhetische Erfahrungen durch die narrativen Art und Weise zu rekonstruieren, in der die Gruppe ihr aurales und visueller Grundmaterial verarbeitet. Der systematische Überfluss gesteuerter Bedeutungen, wie sie die Produktionen von Rechenzentrum kommunizieren, zeigt auf seltsame Methoden der Kunstproduktion, die viele jener ästhetischen Möglichkeiten realisieren, die uns von der AV-Produktions- und Multimedia-Theorie seit den späten 1960ern versprochen wurde.

Im Sektor der Liederschreiber fiel uns die Persönlichkeit von Tujiko Moriko auf, deren Make Me Hard-Projekt einen Schwerpunkt auf experimentelle Orchestrierung mit Elementen aus Harmonien, Noise und Beats legte. Die Herausforderung, die darin liegt, aus dieser doch eher seltsamen Mischung an sich recht einfacher Elemente etwas Interessantes zu machen, wurde positiv bewältigt: Es entstand etwas anderes als die rein abstrakten Werke, die die Jury zumeist zu hören bekommt. Durch den Einsatz ihrer Stimme auf so vielfältige und unterschiedliche Weise erzielt Noriko eine verschwommen romantisch gefärbte Stimmung, die gelegentlich von Dissonanzen und der Intervention ungewöhnlicher Arrangements unterbrochen wird. Ob man nun eine Beziehung zu den Songs aufbauen kann, wie das vielen Leuten im Rahmen der Popmusik gelingt, ist nebensächlich – die Gesamtatmosphäre war fesselnd genug.

Niemand hat die Tradition des Wiener Aktionismus als Vorlage für musikalische Werke weiter entwickelt als Rudolf Eb.er und die Schweizer Schimpfloch-Künstler, die 1987 damit begannen. Die Themen von Eb.ers Werken sprechen für sich: Gewalt in der Familie, das Wiedererleben grundlegender traumatischer Erfahrungen, die bewusste Rückkehr zu nackten Schmerzerfahrungen. In seiner anderen Identität als Runzelstirn & Gurgelstock führt Eb.er Konzerte auf, die den gewaltsamen Widerstand des Publikums geradezu herausfordern, indem sie improvisierte Unmittelbarkeit, extrem tabubrechendes Verhalten und selbstbewusste Theatralik einsetzen. Audiodokumente dieser Events zeichnen sich durch kreischende Stimmakzente, stoßweise Atmung und ausgedehnte gespannte Stille aus. In kompositorischer Hinsicht ist Eb.ers Schnitttechnik einzigartig durch ihre präzise Sezierung seiner Aufnahmen. Durch traditionelle analoge Schnittmethoden – Tonbandschnitt mit Schere und Skalpell – entstehen Collagen aus diesem Material, die Eb.er gerne mit der biologischen Teilung und Zucht seiner Klänge vergleicht. Angesichts der eher bauch-orientierten Natur seines Outputs und der extrem körperbetonten Art seiner Performances ist in Eb.ers Fall der Begriff des Heranzüchtens musikalischer Zellen durchaus angebracht.

Konzeptuell hat der Gedanke hinter Phill Niblocks Stück The Movement of People Working bei den Juroren sofort Widerhall gefunden. Dieser lang gediente Komponist und Filmemacher nimmt die Instrumente vieler Musiker auf und assembliert sie in Drone-ähnliche Klanggemälde, die seine visuelle Odyssee begleiten. Die Bilder auf der DVD zeigen arbeitende Menschen von verschiedenen Orten des Globus, wie sie ihrer täglichen repetitiven Tätigkeit nachgehen, begleitet von einem breiten Kontinuum sich langsam entfaltender musikalischer Ebenen. Ein kompromissloser ästhetischer Effekt, der auch die vielen Publikumsgruppen anspricht, die seine häufigen Live-Präsentationen besuchen, und bei ihnen Anklang findet.

Die Kompositionen von Yuko Nexus 6 Kitamura erinnern uns an ein Klangtagebuch. Als Kind hatte sie ihr musikalisches Interesse dadurch gezeigt, dass sie über die Bach- und Beethoven-Kassetten ihres Vaters aufgenommen hat; jetzt beginnt Kitamura, ihr Werk zusammenzusammeln, indem sie Kassetten mit Freunden austauscht, von denen jeder über das vorherige Material aufnimmt, und zwar Quellenmaterial, das an diversen Orten, z. B. auf der Straße, aufgenommen wird. Kitamura nennt die bei diesem Prozess entstehende Musik "Kotatsu"-Musik: nach einem kleinen japanischen Tisch mit darunter eingebautem Heizgerät, um den sich japanische Familien im Winter versammeln. Die ausdrücklich soziologische Bedeutung ist in Kitamuras Projekt der musikalischen ebenbürtig: Durch diese in Kollaboration entstehenden Aufnahmen auf den immer wieder überkopierten Kassetten will sie die Aufmerksamkeit auf die Beziehung der Musik zur Lebensweise der Menschen und auf die gemeinschaftsbildende Funktion lenken, die aufgezeichnete Musik für diese hat, wenn sie über die Zeit hinweg unter ihnen ausgetauscht wird.

 
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