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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Timeshift

Barbara Robertson

Die Jury für Computeranimation und Visual Effects — Ellen Poon, Barbara Robertson, Shuzo John Shiota, Virgil Widrich, Lance Williams — kam am Donnerstag, den 23. April, abends aus Japan, Wien und Kalifornien in Linz an. Beim Begrüßungsempfang im Ars Electronica Center erfuhren wir, welche Arbeit in den nächsten zweieinhalb Tagen auf uns warten würde: 388 Filme ansehen, bis Sonntag Nachmittag aus dieser Zahl höchstens 15 auswählen und die Gewinner der Goldenen Nica, der Auszeichnungen und Anerkennungen bekannt geben. Als wir uns am Freitagmorgen trafen, beschlossen wir, in einer ersten Runde die Durchsicht eines Films sofort zu stoppen, wenn eines der Jurymitglieder mit einem „Ja“ stimmt. Trotz dieser Vorgangsweise dauerte es den ganzen Freitag und mehr als den halben Samstag, bis wir alle Filme einmal gesehen hatten. Am Samstagnachmittag begannen wir, die verbliebenen 73 Einreichungen anzuschauen, die wir großteils noch nicht in voller Länge gesehen hatten. In dieser Runde benötigte ein Werk zwei Ja-Stimmen, um im Bewerb zu bleiben. Da bei etlichender Filme eine einfache Abstimmung nicht reichte, sondern intensivere Diskussionen erforderlich wurden, dauerte es bis abends, bis wir mit der Liste durch waren. „Ich will das auf jeden Fall sehen!“ wurde ebenso ein Standardsatz wie „Wir sollten den Künstlern wenigstens ein paar ermunternde Worte schicken können — das Werk ist schon fast gut genug!“ Überraschenderweise hatten wir bei Arbeitsschluss am Samstagabend die Liste auf 22 eingekürzt. Da wir ohnehin sicher waren, dass Chris Landreths Ryan ebenso dabei sein würde wie Pixars Finding Nemo, verzichteten wir darauf, sie vor der Endrunde in voller Länge zu betrachten. Jedenfalls waren wir am Samstagabend recht zufrieden damit, eine so gute Auswahl an Filmen für die Entscheidung über die Sieger getroffen zu haben; auch die bisherigen Diskussionen in der Jury zeigten, dass hier eine fruchtbare Mischung unterschiedlichen Expertenwissens vorlag. Am Sonntagmorgen, noch mit dem Kaffee in der Hand, wurde die abschließende Vorgangsweise festgelegt: Anstatt zu versuchen, die 22 verbliebenen Werke auf die letzten 15 zu reduzieren und anschließend die Sieger auszuwählen, wollten wir ohne lange Diskussion über die möglichen drei Geldpreisträger abstimmen, einfach um zu sehen, ob es eine Übereinstimmung gab. Falls ja, würden wir aus diesen die Gewinner der Goldenen Nica und der Auszeichnungen wählen und in der Folge darüber nachdenken, welchen Werke wir noch eine Anerkennung aussprechen sollten.

So setzten wir uns also hin, die vollen 14 Minuten von Ryan anzusehen. Als der Film zu Ende war, sagte keiner ein Wort — minutenlang herrschte Stille im Juryzimmer. Wir sahen uns nicht einmal gegenseitig an, so sehr waren wir in unsere eigenen Gedanken versunken, bis schließlich jemand vom Ars-Electronica-Team zögernd anfragte, ob wir nicht doch den nächsten Film ansehen wollten.

Der nächste Film war Pixars Zusammenstellung von Szenen aus Finding Nemo, was uns gleich in eine fröhliche Stimmung versetzte. Ein wenig Zeit verbrachten wir noch damit, uns gegenseitig auf die anderen Filme auf unserer Liste aufmerksam zu machen, der eine oder andere wurde auch nochmals angesehen. Und dann stimmten wir ab. Jedes Jurymitglied wählte drei Werke als mögliche Preisträger aus. Als die Stimmen ausgezählt waren, erwies sich, dass sie sich auf insgesamt acht Werke verteilten, von denen eines klar herausragte: Ryan. Und innerhalb von Minuten, ohne weitere Abstimmung, ja, sogar ohne viel Diskussion, herrschte Einigkeit darüber, dass Ryan der Gewinner der Goldenen Nica sein müsse. Die Auszeichnungen zu wählen war dann schon schwieriger. Nach etlichen Runden von Abstimmungen und intensiven Diskussionen einigten wir uns schließlich aus recht unterschiedlichen Gründen auf zwei studentische Arbeiten — aber eins war allen drei ausgewählten Werken gemeinsam: Sie übertrafen unsere Erwartungen bei weitem. Alle drei wurzelten in der Geschichte des Films und trieben dennoch die Kunst des Filmemachens mit Computeranimationen und Visual Effects in neue Richtungen voran.

Als Shuzo unsere Preisträger den Mitgliedern der anderen Juries präsentierte, sagte er: „Unsere Auswahl zeigt, wie weit wir schon gekommen sind, sie zeigt aber genauso, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben.“

Ryan ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Nur wenige Animationen und noch weniger Computeranimationen sind Dokumentarfilme — auf den ersten Blick klingt der Gedanke geradezu paradox. Bob Sabistons 2D-Animation Snack and Drink über ein autistisches Kind und Aardmans Puppentrickfilm Creature Comforts gehören zu den wenigen Beispielen. Aber Chris Landreth (Kanada) hat die Grundidee sowohl im Technischen wie im Erzählerischen auf ein neues Niveau gehoben. Der Film basiert zum größten Teil auf Videoaufzeichnungen von Interviews, die Chris mit Ryan Larkin gemacht hat, einem legendären kanadischen Animationskünstler, der inzwischen zum Bettler in den Straßen Montreals heruntergekommen ist. Der Film enthält auch historisches Material aus Larkins frühen Arbeiten; im Übrigen st er vollständig als 3D-Animation aufgebaut. Alle Gestalten — Chris selbst, Ryan, die Leute in der Cafeteria, in der die Interviews aufgenommen wurden — sind ebenso 3D wie die Cafeteria selbst, alle dargestellt in einer Form, die Landreth „Psychorealismus“ nennt. Die Gesichter der Gestalten sind fotorealistisch, aber sie sind auseinandergerissen und verzerrt. Ryan etwa fehlt die Hälfte des Gesichts. Seltsame grellbunte Formen erscheinen auf den Gestalten, um den Dialog zu unterstreichen, und verschwinden wieder. Auch die Umgebung ist fotorealistisch und dennoch psychorealistisch verzerrt. Ja, das Gespräch selbst wird genau in dem Augenblick verzerrt, als der Figur des Chris bewusst wird, dass dies auch eine Dokumentation über ihn selbst ist. Und so gibt Landreth dem Grundgedanken der Dokumentarfilmerei und dem Erscheinungsbild fotorealistischer 3D-Grafiken eine ganz neue Richtung und eröffnet der Animation damit völlig neue Möglichkeiten. Er vermittelt uns Ideen, die uns noch weit tragen werden. Was nun die Auszeichnungen betrifft — hätten wir vier zu vergeben gehabt, wären zwei davon an Pixars abendfüllende Animation Finding Nemo und an den von Studenten des französischen Supinfocom-Instituts geschaffenen Kurzfilm Pfffirate gegangen. Kein Studio produziert bessere 3D-Trickfilme als Pixar, keine Schule produziert bessere studentische Arbeiten als Supinfocom. Finding Nemo und Pfffirate sind farbenfrohe, intelligente, lustige Filme; beide stehen für die perfekte Anwendung von 3D-Grafik in der Animation. Finding Nemo ist brillant ausgeführt — Story, Regie und der Einsatz computergrafischer Techniken arbeiten wunderbar Hand in Hand. Und vom finanziellen Standpunkt her ist es die erfolgreichste Animation aller Zeiten, außerdem hat der Film dieses Jahr den Oscar gewonnen. Unser Lob schließt sich dem von Tausenden Kinogängern an. Auch wenn er „nur“ ein studentisches Werk ist, so hat doch der aufblasbare Pirat in Pfffirate auf seinem aufblasbaren Schiff viele Eigenschaften mit Finding Nemo gemeinsam — eine fröhliche, lustige Geschichte erzählt von Gestalten in leuchtenden Farben.

Aber nach vielen Diskussionen beschlossen wir, zwei keineswegs perfekte Filme auszuzeichnen, die beide von Studenten gemacht wurden. Birthday Boy von Sejong Park, Student an der Australian Television and Radio School, erzählt eine ergreifende Geschichte von einem koreanischen Kind im Jahr 1951, dessen Vater Soldat ist. Die Kamera folgt dem Knaben und fängt liebevoll sehr persönliche Momente ein, häufig dargestellt nur durch perfekt getimte kleine Bewegungen und überzeugenden Gesichtsausdruck. Der Film zeigt auch eine kreative Zurückhaltung, wie sie Animationsfilmen häufig fehlt; die Kameraführung und der Einsatz von Ton sind wesentlich ausgefeilter, als wir von einer studentischen Arbeit erwarten würden. Wir fanden vor allem die Zärtlichkeit der Animation einzigartig und konnten die wenigen technischen Unzulänglichkeiten leicht verzeihen. Wie auch Ryan bietet Birthday Boy einen Blick auf Möglichkeiten der Zukunft.

Ebenso wie Birthday Boy kommt auch Parenthèse, eine weitere Studentenarbeit, ohne Dialog aus. Aber anstatt sich bei der Erzählung der Geschichte von Parenthèse einzig auf die animierten Gestalten zu verlassen, fließen bei dieser Arbeit von Studenten der Supinfocom immer wieder literarische Textzeilen über die wie gemalt erscheinenden Gebäude. Die Animation mit dem traurigen, einsamen Helden, der sich durch die Straßen der Stadt bewegt, fesselte unsere Aufmerksamkeit sogar noch, als das Band während der Jurysitzung technische Probleme bereitete. Es zeugt von der Qualität der Arbeit, dass wir es sogar dann, als wir gezwungen waren, einen Teil des Werks in Schwarzweiß statt wie vorgesehen in Farbe zu betrachten, noch fesselnd und einzigartig genug fanden, um es mit einer Auszeichnung zu bedenken. Wie Birthday Boy und Ryan überraschte uns auch Parenthèse damit, dass es einen neuen Weg gefunden hat, wie mit einer Animation eine Geschichte erzählt werden kann. Keine Schwierigkeiten hatten wir, aus unserer Liste von 22 Animationen die zwölf Anerkennungen herauszufinden — jedes der 22 Werke hätte eine Anerkennung verdient. So konnten wir uns den Luxus leisten, Beispiele für die unterschiedlichen Formen, Stile und Anwendungsbereiche von Computeranimation und Visual Effects auszuwählen.

Joe Takayama von der Kyushu University in Japan hat mit Microcosm eine fast hypnotisierende, abstrakte Animation geschaffen, die wir ihrer Schönheit wegen ausgewählt haben.

Im Kurzfilm Mother – Excerpt from Lines of Unity – Eleven Aboriginal Poems hängt der unabhängige deutsche Filmemacher Markus Bledowski den Blick der Kamera an Objekte innerhalb des Filmkaders und verändert auch auf andere Weise unsere Wahrnehmung von Kinderspielen, um damit die Poesie der Aboriginals zu illustrieren.

In Moo(n) verwendet die Britin Leigh Hodgkinson von Slinky Pictures Schwarzweiß-Zeichnungen in wildem Cut-out-Stil, um eine verschrobene Animation wie aus dem Märchenbuch zu schaffen.

Luc Froehlicher und das französische Studio la maison ließen einem Toyota RAV4 mit Grandezza die Luft aus — ein hervorragendes Beispiel von Visual Effects für die Fernsehwerbung.

Das mit Action vollgestopfte flotte Winning Eleven Tactics von Morio Kashida, Yoshihiko Dai und Hiroshi Chida für Konami Computer Entertainment zeigt eine dramatische Anwendung von 3D-Animation in der Werbung.

Und das dritte kommerzielle Werk, das eine Anerkennung erhielt, ist der kurze Spot No Limits von Heidi Wittlinger, Anja Perl und Max Stolzenberg von der Filmakademie Baden-Württemberg. Er verwendet Animation und Rendering im Stil von Illustrationen auf sehr fantasievolle Weise, um eine Botschaft über Gesetze zur Kinderarbeit zu vermitteln.

Über New Balls Please, eine brillante Satire von Richard James (Sherbet, Großbritannien), haben wir so sehr gelacht, dass wir nicht umhin konnten, diesen Drei-Minuten-Film in unsere Auswahl einzubeziehen.

Und natürlich gehörten die Auszüge aus Finding Nemo und der Kurzfilm Pfffirate als weitere fröhliche Ergänzungen mit auf die Liste der Anerkennungen.

Zwei Anerkennungen haben wir für Arbeiten ausgesprochen, die vor allem technische Errungenschaften illustrieren. Kaum jemand hat solch einen Einfluss auf die Methoden der Lichtgestaltung in filmischen Computergrafiken gehabt wie Paul Debevec, jetzt am Institute of Creative Technology in San Diego, Kalifornien. In seiner Arbeit The Parthenon bringt er die Computergrafik dem filmischen Fotorealismus wieder ein Stück näher. Als wir zum ersten Mal das Mädchen in Liam Kemps This Wonderful Life auf der Brücke sitzen sahen, hielten wir es für eine Schauspielerin. Die realistische Gestalt aus dem Computer des unabhängigen britischen Animators ist wahrhaft erstaunlich – umso mehr, wenn man bedenkt, dass sie mit der handelsüblichen Software 3DS max geschaffen wurde.

Wenn auch alle bisher genannten Werke Beispiele für Computeranimationen und Visual Effects im Kurzfilm sind — egal ob im Unterhaltungs-, Bildungs- oder kommerziellen Bereich —, so dürfen wir doch bei den Überlegungen zur Zukunft der Computeranimation und der Visual Effects die interaktiven Spiele nicht außer Acht lassen, und zwar sowohl hinsichtlich ihres Einflusses auf die Arbeit in anderen Bereichen als auch als Anwendungsgebiet für Animation und Effekte selbst. Und wer noch Zweifel daran hat, dass Videospiele über kurz oder lang wie Filme aussehen werden, der lasse sich vom Vorspann zu Onimusha 3 überzeugen, der von Mikitaka Kurasawa von Robot Communications Inc. Und Takashi Yamazaki von Shiroguma Inc. stammt. Und damit ist die Liste der zwölf Anerkennungen vollständig. Wie es der Zufall haben will, ist „Timeshift“, das Thema der diesjährigen Ars Electronica, gleichzeitig die passende Beschreibung für die Preisträger der Kategorie Computeranimation und Visual Effects 2004. Wie Shuzo gesagt hat: Unsere Auswahl illustriert, wie weit wir schon gekommen sind, zeigt aber gleichzeitig, welch weiter Weg noch vor uns liegt. Insgesamt zeigten alle 388 Einreichungen ein überraschendes Maß an Qualität. Sie — und natürlich vor allem die ausgewählten Arbeiten — bewiesen uns, dass Computeranimation und Visual Effects auch weiterhin den Filmemachern helfen, neue und kreative Wege des Geschichtenerzählens zu finden.


 
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