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Veranstalter
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich
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Die Werkzeuge den Menschen in die Hand geben
Steven Clift, Andreas Hirsch, Peter Kuthan, Lara Srivastava
Stellen Sie sich vor, Sie sind an einen Rollstuhl gebunden, mit dem Sie sich in den engen Gassen Barcelonas bewegen müssen, und der einzig mögliche Weg ist durch die Autos, Habseligkeiten oder den Müll Ihrer sorglosen Mitbürger verstellt. Stellen Sie sich vor, Sie versuchen praktisch ohne Geld ein Community-Radio in den Weiten des brasilianischen Regenwalds aufzubauen, wo Internet-Zugang und selbst einfachste Hardware eine Rarität sind, ebenso wie das Know-how, etwas daraus zu machen. Stellen Sie sich vor, Sie schieben Ihren Einkaufswagen durch die Gänge irgendeines Supermarkts in Europa, vorbei an Regalen voller Produkte, deren Verpackung wenig bis gar keine Information darüber enthält, welche Auswirkungen ihr Inhalt auf die Gesundheit Ihrer Kinder haben kann. – Sie sind vielleicht der Meinung, diese drei Situationen hätten sehr wenig miteinander gemein, und Sie haben Recht damit. Zugleich aber liegen Sie auch falsch, denn was diese Situationen trotz aller Unterschiede verbindet, ist ihr Potenzial, das Leben von Menschen durch die kollaborative Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKTs) zu verbessern – eine Nutzung, die mit Courage und Kreativität das Beste aus einer gegebenen Situation macht.
Beflügelt vom ständigen Fluktuieren der digitalen Medienlandschaft in der globalisierten Welt, wird jedes Jahr ein neues Kapitel in der Geschichte der Rückeroberung des Internet als sozialem Raum geschrieben – einer Geschichte, die sich auch in der Kategorie „Digital Communites“ widerspiegelt. Wiewohl aber in den sozialen Online-Räumen, die wir sehen, sowohl Technologie als auch Marktkräfte deutlich ihre Spuren hinterlassen, bleibt immer noch genügend Platz für soziale Entwicklungen und die Initiative, Gemeinschaften zu bilden.
Der Begriff „Digital Communities“ und die gleichnamige Kategorie des Prix Ars Electronica entstanden aus der Erkenntnis, dass es in der Geschichte des Internet eine Verschiebung hin zu einer Rückeroberung seiner sozialen Funktionen gegeben hat, aber auch aus dem Bedürfnis, herausragende Leistungen zu würdigen, die zur Überbrückung der globalen digitalen Kluft beitragen. Vor diesem Hintergrund, der (wie die Weltpolitik) wechselhaft und unbeständig ist, scheint eine fortwährende Redefinition der Kategorie eine Voraussetzung für ihre Relevanz zu sein.
Dieses Jahr hielten wir nach Projekten Ausschau, die sichtbar mehrere entscheidende Aspekte dessen, was in unseren Augen eine „digitale Community“ auszeichnet, miteinander zu verbinden vermögen. Wir suchten nach Originalität und Innovation, sowohl im Hinblick auf neue Tools oder die intelligente (Re-)Kombination existierender Tools als auch im Hinblick auf soziale Innovation. Die Besitzverhältnisse des Projekts, seine organisatorische Struktur und die von ihm vertretenen (oder geschaffenen) Werte sollten ihr Fundament in der Community selbst haben und sich nicht zur leichten Übernahme durch Konzerne eignen. Ein dritter wesentlicher Faktor war Nachhaltigkeit, d. h. die Fähigkeit, eine Saison oder den Subventionszeitraum zu überdauern. Wir versuchten, Projekte ausfindig zu machen, die den Wissensaustausch und die kollektive Erzeugung öffentlicher Gemeingüter fördern oder die dazu beitragen, Menschen zu mobilisieren und eine Kultur der Partizipation zu schaffen. Das impliziert auch die Fähigkeit von Projekten, zum gesellschaftlichen Wandel beizutragen und als praktische Musterbeispiele für andere zu dienen, sowie deren Open-Source-Charakter, der sie realistisch replizierbar, erschwinglich und leicht zugänglich macht. Vor dem Hintergrund derart verfeinerter Kriterien zeichneten sich neue Eigenschaften „ditigaler Communities“ ab und zeigten bekannte Aspekte eine beträchtliche Weiterentwicklung.
Wissen und Raum stehen in einem komplexen und engen Verhältnis – einem Verhältnis, das von der Datenverarbeitung und den digitalen Medien in deren ganzer Geschichte begleitet wurde. Aber erst in jüngster Zeit sind relativ einfache Formen des Verhältnisses von Wissen und Raum (z. B. handliche Möglichkeiten, Inhalt und Geografie aufeinander abzubilden) allgemein zugänglich geworden. Diese eröffnen überraschende neue Formen der „Kontextualisierung“, die mit der Entwicklung der Wissensgesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Die Innovation besteht in neuen Formen der Zusammenarbeit, die ohne digitale Medien und Netzwerke nicht möglich wären. Die freie Zugänglichkeit des Codes ist eine Voraussetzung für den nachhaltigen Erfolg solcher Zusammenarbeit, und zwar sowohl im eigentlichen Sinn von Programmcode als auch im eher metaphorischen Sinn von Regeln und Strukturen. Insbesondere muss die „freie Zugänglichkeit“ auch für Hardware und Infrastrukturen gelten, weil erst das die Schaffung von Gemeingütern vervollständigt. Diese Prozesse fördern die Bildung sozialen Kapitals durch Teilen und Wiederaneignen. Das geht Hand in Hand mit Bemühungen um dem Aufbau von Kapazitäten, namentlich zur Überwindung aller Arten von digitaler Kluft oder Ausschluss, sei es aus Gründen des Geschlechtes, aus ethnischen oder anderen Gründen. Das Versprechen der Technologie wäre im größeren Rahmen der menschlichen Entwicklung bedeutungslos, würden sich nicht die User selbst die Tools – Software wie Hardware – zu eigen machen. Die Geschichte des „Open-Source-Denkens“ und der „Ökonomie des Teilens“ folgt schon sehr früh der Geschichte des Internet, aber erst in den letzen Jahren hat diese Kultur des Teilens und Zusammenarbeitens die Rückkehr des „digitalen Gemeinguts“ befördert, das in den Kämpfen um legislative Einschränkungen zugunsten der Marktherrschaft der Konzerne in Gefahr geraten war. Allein durch Partizipation und Capacity Building, durch Architekturen und Haltungen der Einschließung wird jenes soziale Kapital gefördert, auf das es hier ankommt.
Ob in den Straßen von Barcelona, in den abgelegensten Dörfern Brasiliens oder im konsumversessenen Europa, es ist stets der Mut, einen Bereich der Offenheit und aktiver Bürgerbeteiligung zu schaffen, indem man IKTTools in die Hände normaler Menschen legt, der wirklich etwas verändert. Eine solche Veränderung haben die diesjährigen Preisträger in der Kategorie „Digital Communities“ wie auch die, denen eine Anerkennung ausgesprochen wurde, unter oft schwierigen und mitunter sogar hoffnungslosen Bedingungen herbeigeführt. Sie sollten weltweit als Vorbilder für andere dienen und sie ermutigen, die relevanten verfügbaren Tools in die Hand zu nehmen, um unserer globalen Informationsgesellschaft ihren eigenen Stempel aufzudrücken.
Goldene Nica
canal*ACCESSIBLE www.zexe.net/barcelona Dieses Projekt vereint auf elegante Weise mehrere der entscheidenden Faktoren für eine herausragende „digitale Community“. Die Gruppe von Barcelonesen im Rollstuhl, die auf ihrem Weg blockierte Straßen und andere Hindernisse – aber auch die seltenen positiven Beispiele rollstuhladäquater Zugänge – dokumentiert, nutzt die vorhandene Technologie auf bestmögliche Weise, um eine Veränderung herbeizuführen. Das Projekt sagt viel über das Problem des Zugangs in seiner grundlegendsten Form, aber auch in Bezug auf Technologie und Netzwerke: Es setzt sich für den Kampf einer marginalisierten und behinderten Gruppe um physische Zugangsmöglichkeiten zu Gebäuden und zur Infrastruktur ein, fördert das Bewusstsein für die Probleme dieser Gruppe und legt die gemeinsame Nutzung der Technologie direkt in die Hände der Betroffenen. Diese benutzen die verbreitetste Form ubiquitärer Computertechnik: Mobiltelefone mit Digitalkameras. Die Internetplattform von canal*ACCESSIBLE dient als verbindendes Element der Community und überträgt ihre Erkenntnisse und Beobachtungen auf die physische Geografie Barcelonas. All das wird mithilfe eines simplen Interface bewerkstelligt, das einfachen Zugriff auf die ständig wachsende und aktualisierte Informationssammlung gewährt. Sie werden das Preisgeld für die Goldene Nica nicht nur zur Verbesserung der Handhabbarkeit ihres Interface einsetzen, sondern auch zur Implementierung ähnlicher Projekte in Ländern des globalen Südens – eine Investition in Replizierbarkeit und in die Überbrückung der globalen digitalen Kluft.
Auszeichnungen
Proyecto Cyberela – Radio Telecentros http://www.cemina.org.br Das Radio mag als ein Medium mit viel Geschichte und wenig Zukunftsperspektive gelten, aber die Erfahrung zeigt, dass dem nicht so ist. Das Radio hat – vor allem für Communities in den Ländern des Südens – nichts von seinem Reiz und seiner Schwungkraft eingebüßt, ja, durch die digitalen Produktions- und Verbreitungsmethoden sogar noch einiges an Potenzial gewonnen. Bei Proyecto Cyberela, das Frauen dazu ausbildet und befähigt, ein unabhängiges Community-Radio zu betreiben, wird das Medium zusammen mit IKTs zur Überbrückung der digitalen Kluft verwendet, insbesondere auch in ihrer wichtigen, aber oft übersehenen geschlechtsspezifischen Dimension. Was die geografische Dimension betrifft, erfordert die globale digitale Kluft vor allem in ländlichen Regionen unser Augenmerk, was dieser Tätigkeit für die Einbeziehung abgelegener Landstriche in Brasilien umso mehr Bedeutung verleiht. Dass der Akzent dabei auf Kapazitätenaufbau und Ausbildung gelegt wird, trägt wesentlich dazu bei, den Wandel von der Informations- zur Wissensgesellschaft, der sich bis in die fernsten Gebiete der Erde erstreckt, mitzuvollziehen.
Codecheck http://www.codecheck.ch Die ubiquitäte Computertechnik bringt Informationen zunehmend überall dort hin, wo sie wirklich benötigt werden. Codecheck ist ein Beispiel dafür, wie ubiquitäre Computertechnik dazu eingesetzt werden kann, in einer gemeinsamen Anstrengung Produktinformationen zu sammeln und sie der Öffentlichkeit via Mobiltelefon dort zur Verfügung zu stellen, wo der Bedarf am größten ist – direkt beim Einkaufen. Mehr als die meisten anderen Versuche kritischer Konsumenteninformation hat dieses Projekt das Potenzial, die Produzenten von Konsumgütern dazu zu bewegen, gleich vor Ort Rede und Antwort zu stehen. Es erlaubt Austausch und Erörterung kritischer Informationen über Inhalt und mögliche Folgewirkungen von Produkten, wobei das System der Produktidentifikation – der Barcode – als Schlüssel zu diesen Informationen dient, ein Schlüssel, der sich auf RFID-Tags ausdehnen lässt, sobald die nächste Generation von Objektkennungen Einzug in die Läden hält. Das Preisgeld sollte die Ausweitung auf andere Sprachen ermöglichen und auch bei der Vorbereitung auf diesen nächsten technologischen Schritt helfen, der das Konsumentenbewusstsein mehr fordern wird als je zuvor.
Anerkennungen
Kartierung der realen und virtuellen Welt
stencilboard.at www.stencilboard.at Stencils zieren zahlreiche Wände und sind eine wichtige Form politischen und kulturellen Ausdrucks. Weil sie am Rand der Legalität angesiedelt sind und einen Eingriff in öffentliches und privates Eigentum darstellen, sind sie ein flüchtiges Phänomen. stencilboard.at ist nicht nur eine ermutigende Community-Plattform für Menschenaus aller Welt, die sich der freien Meinungsäußerung und der Schablonenkunst verschrieben haben, sondern auch eine wachsende öffentliche Dokumentation dieses kulturellen Phänomens.
The Organic City www.theorganiccity.com Städte sind voll von Geschichte. The Organic City macht daraus einen herrlichen Strauß von Geschichten, die an die Stadtlandschaft von Oakland gekoppelt werden. Das Projekt lässt sich als Applikation für eine lebendige Kulturgeschichte begreifen, die – vor allem mit dem demnächst erscheinenden Open-Source-Kit – auf andere Städte übertragbar ist.
Semapedia www.semapedia.org Die Relevanz von Wikipedia wurde von „Digital Communities“ bereits mit einer Goldenen Nica gewürdigt und hat seither eine interessante Entwicklung gezeigt. Semapedia verknüpft Objekte in der realen Welt mit Informationen in Wikipedia und ist insofern ein interessanter Schritt hin zu einer „Vernetzung von Dingen“, die sich durchaus als die nächste Welle auf dem Feld der Kommunikation erweisen könnte.
Bürgerbeteiligung und Aktivismus
Charter97.org www.charter97.org Vor allem in politisch restriktiven Situationen wie in Weißrussland kommt einer Plattform wie Charter97.org eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung und Förderung des öffentlichen Raums und bürgerlichen Engagements zu. Gegeninformation ist fast überall ein kostbares Gut, aber in diesem Land noch mehr.
Northfield http://northfield.org Northfield.org vereint verschiedene Online-Ansätze, um relevante Inhalte für eine lokale Community zu schaffen und den Dialog in ihr zu beleben. Bürgerbeteiligung über einen längeren Zeitraum ist keine Selbstverständlichkeit, sondern des Ergebnis nachhaltiger Initiative und einer optimalen, andere einbeziehenden Nutzung der verfügbaren Mittel.
Pambazuka News www.pambazuka.org Die wöchentlichen Pambazuka News (Pambazuka heißt auf Kisuaheli „Aufstehen“ oder „Erwachen“) bieten nicht nur umfassende und aktuelle Online-Informationen in Sachen Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit in Afrika, sondern sind auch eine wertvolle Inspirationsquelle und ein Mutmacher für bürgerliche Aktionsnetzwerke und E-Aktivisten.
Aufbau sozialen und wirtschaftlichen Kapitals durch Teilen und Wiederaneignung
MetaReciclagem http://metareciclagem.org Nicht die Jagd nach dem neuesten Objekt der Begierde für Technikfreaks, sondern das Recyclen scheinbar veralteten technischen Equipments hat sich MetaReciclagem zum Ziel gesetzt. Das ist echte Basisarbeit für gesellschaftlichen Wandel und die Wiederaneignung von Technologie durch die Menschen.
The Freecycle Network www.freecycle.org Teilen und Wiederaneignen tragen zum Aufbau sozialen Kapitals bei. Freecycle widmet sich dem Austausch kostenloser Güter und hält sich dabei an eine hohe und strenge Ethik.
Capacity Building
UgaBYTES Initiative www.ugabytes.org Ein Telecenter in Uganda zu gründen und zu betreiben, ist keine einfache Aufgabe, aber es existiert wertvolles Wissen da draußen, das es anderen ermöglicht, auf den Schultern derer zu stehen, die es bereits geschafft haben. Ausbildung und Kapazitätenaufbau spielen dabei eine wesentliche Rolle, und UgaBYTES leistet beides.
Mountain Forum www.mtnforum.org Die Situation von Bergbewohnern, ihrer Umwelt und Kultur ist weltweit äußerst schwierig und wird häufig marginalisiert. Mountain Forum, ein globales Netzwerk von Individuen und Organisationen, die sich um das Wohl von Bergbewohnern kümmern, nutzt eine digitale Plattform auf adäquate Weise, um den Zugang zu den abgelegenen Gegenden und ihren ökologischen Anliegen zu verbessern.
Zusammenarbeit und Open-Source-Innovation
CodeTree www.codetree.org Die Zusammenarbeit zwischen Programmierern von Open-Source-Code ist an sich nichts Neues; aber CodeTree verfolgt einen interessanten und ermunternden Ansatz der Zusammenarbeit. Es hebt die Kunst der Open-Source-Entwicklung auf eine neue Stufe.
Arduino www.arduino.cc Der Erfolg der Open-Source-Idee und der Open-Source-Ethik wäre nicht vollständig ohne die Ausweitung auf den Bereich der Hardware. Wenngleich Arduino speziell künstlerische und experimentelle Arbeiten mit Sensoren unterstützt, so ist das Projekt doch auch ein schönes Beispiel für eine Community, die unsere Hardware im besten Sinn des Wortes „offen“ hält.
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