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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich

Es zählt nur eins: Macht ein fesselndes Stück!

Shuzo John Shiota

Die letzten vier Jahre hatte ich das Glück, immer wieder zur Jury des Prix Ars Electronica eingeladen zu werden, und habe so über 1700 Einreichungen zu sehen bekommen, die entweder umwerfend, großartig, gut, soso la-la oder schlichtweg schlecht waren. Und obwohl wir Juroren den Großteil dieser drei Tage in einem abgedunkelten Vorführraum verbringen, scheint mich das Prozedere niemals zu langweilen. Nicht nur, dass ich einen umfassenden Schnappschuss dessen sehe, was in der Welt der Computeranimation und Visual Effects vorgeht, nein, als Draufgabe gibt es immer diese wertvollen Juwele, die so berührend und fesselnd sind, dass das Ganze mehr als nur der Mühe wert ist.

Ein anderer Aspekt der Jurysitzungen, den ich sehr zu schätzen gelernt habe, ist das Zusammentreffen, Zuhören und Debattieren mit den anderen Jurymitgliedern, die das Team des Prix Ars Electronica so sorgfältig auswählt. Jedes Jahr gelingt es dem Prix, die talentiertesten, erfahrensten, offenherzigsten und engagiertesten Experten und Künstler auf diesem Gebiet einzuladen. Und das heurige Jahr war keineswegs eine Ausnahme: Mitglieder der Jury waren Rick Sayre (US), der führender Mitarbeiter an den meisten Pixar-Filmen von Toy Story bis The Incredibles war; Mark Dippé (US), ehemals bei ILM, jetzt Regisseur und Produzent; Sabine Hirtes (DE), die an der erstaunlichen Filmakademie Baden-Württemberg lehrt (zu welcher später noch mehr zu sagen sein wird); Dietmar Offenhuber (AT), langjähriger Mitarbeiter des Ars Electronica Futurelab und jetzt Professor an der Fachhochschule Hagenberg; und eben ich selbst, Präsident und Executive Producer beim seit 23 Jahren bestehende Computergrafik- und Animationsstudio Polygon Pictures in Tokio.

Und so trafen wir uns am ersten Abend beim Willkommensempfang und erfuhren, dass es eine Rekordanzahl, nämlich umwerfende 581 Einreichungen, gäbe! All meine Zuversicht schwand dahin, aber ich fing mich wieder, als wir erfuhren, dass Dietmar und unsere verlässliche Freundin Christine Schöpf in einer ersten Sichtung schon die Knochenarbeit für uns erledigt und die Anzahl auf etwas handlichere 321 reduziert hatten. Die erste Runde begann am nächsten Morgen, wobei wir uns darauf konzentrierten, jene unglücklichen Stücke auszusondern, bei denen wir sicher waren, dass sie es nicht in die Endauswahl schaffen würden. Dazu gehörten Werke, die technisch schlecht, ohne ersichtliche Aussage und generell von schwacher Qualität waren. Wenn keiner der Juroren ausdrücklich mit Ja stimmte, wurde das Werk ausgeschieden. Nach eineinhalb Tagen war so die Liste auf 84 Arbeiten geschrumpft.

In der zweiten Runde hatten wir mehr Muße, die Einreichungen näher zu betrachten. Wir nahmen uns die Zeit, jedes Stück in ganzer Länge zu sehen, wenn auch bei einigen ein Schnelldurchlauf erfolgen musste. Anschließend stimmten wir darüber ab, ob wir das Werk weiter im Rennen behalten wollten; mindestens drei Ja waren erforderlich, um der Eliminierung zu entgehen. Auf diese Weise konnten wir die Auswahl auf 22 einengen.

In den vergangenen Jahren hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt schon ein wenn auch vager Konsens über die drei Preisträger-Werke herausgebildet. Heuer war die Sache komplizierter, denn obwohl es eine Anzahl beeindruckender Werke gab, schienen sich keine eindeutigen Sieger abzuzeichnen. Und so konnten wir auch nicht den üblichen Ansatz anwenden, die Entscheidung durch Analyse und Diskussion jener drei Werke zu finden, die jeder Juror als seine persönlichen Siegeskandidaten benennt. Stattdessen wählte jeder von uns seine Top Fünfzehn aus.

Für viele, die ihre Arbeiten zu Bewerben wie dem Prix Ars Electronica einreichen, wird der Auswahlprozess ein Buch mit sieben Siegeln sein. Man mag sich fragen, ob die Juroren dem Werk – dem Ergebnis langer Monate, wenn nicht gar Jahre hingebungsvoller Arbeit – auch die geschuldete Aufmerksamkeit widmen. Man kann auch unsere Kriterien und ihre Gültigkeit hinterfragen.

In aller Aufrichtigkeit kann ich sagen: Nichts ist uns egal, und wir sind wirklich sorgfältig. Großartige Einreichungen inspirieren uns und öffnen unsere Augen für neue Möglichkeiten. Uns ist auch bewusst, dass die Definition von „hervorragend“ sich ständig entwickelt und niemals statisch bleibt – schon aus diesem Grund ist unsere Aufmerksamkeit gefordert. Wir müssen Ideen und Ideale austauschen und ein Set von Kriterien entwickeln, das zu den uns jeweils vorliegenden Einreichungen passt, hier und jetzt.

Und genau das erfolgte in unserem Bemühen, die 15 besten Einreichungen herauszufiltern. Hitzige und offene Diskussionen fanden statt, jeder Juror verfocht vehement seine Vorlieben und Abneigungen und verteidigte leidenschaftlich seine Lieblingsstücke. Eine dieser Diskussionen entzündete sich rund um die Frage der Einstufung von Visual-Effects-Arbeiten. Wie jedes Jahr reichten die großen Studios viele beeindruckende Visual Effects aus Filmen mit Riesenbudgets ein. Alle waren von höchster Qualität und professionell ausgeführt. Und dennoch entschloss sich die Jury nach langen Diskussionen, den größeren Teil davon nicht in die Endauswahl aufzunehmen. Um ihnen eine Anerkennung zukommen zu lassen, „reicht es nicht,“ wie Rick Sayre es formulierte, „bloß alle teuren Einstellungen aneinander zu hängen, egal wie gut sie sind.“ Er setzt fort: „Macht ein fesselndes Stück daraus – das ist letztlich das einzige Erfordernis.“ Ricks Kommentare illustrieren, wie schwer es für Visual Effects heutzutage ist, ausschließlich mit technischer Raffinesse zu punkten.

Nach mühevollen Überlegungen entschieden wir letztlich über unsere 15 auszuzeichnenden Werke, wobei ich anführen muss, dass jeder von uns auf ein oder zwei Arbeiten verzichten musste, die ihm ans Herz gewachsen waren, um auf diese Maximalzahl zu kommen (und es gab sogar einen richtigen Kuhhandel Marke „Ich geb das auf, wenn du dies aufgibst!“ zwischen zwei Juroren). Dann wurde es höchste Zeit, ernsthaft in uns und auf die Suche nach den drei Preisträgern zu gehen. Wir entdeckten, dass es eine Tendenz gab zu einem Stück, das zunächst nicht wie ein augenscheinlicher Sieger ausgesehen hatte, das aber bei jedem Mal Ansehen an Attraktivität gewann. Die Arbeit heißt 458nm, produziert von Studenten der Filmakademie Baden-Württemberg, und zeigt die romantische Geschichte zweier mechanischer Schnecken, die im Mondlicht zueinander finden. Der Film ist gleichzeitig erotisch und gewalttätig, seine Emotionen können ausschließlich durch die perfekte Umsetzung im Medium transportiert werden. Und letzten Endes waren wir alle sehr glücklich, dieser brillanten studentischen Arbeit die Goldene Nica zuerkennen zu können. So beschreibt Rick sie:

458nm
Jan Bitzer, Ilija Brunck, Tom Weber / Filmakademie
Baden-Württemberg (DE)

Ein fehlerfrei ausgeführter Foto-Surrealismus. Biomechanische Schnecken vollziehen das älteste Ritual der Welt und mit den allerfuturistischsten Details. Dieses unmögliche Szenarium wird mit erstaunlichem visuellem Realismus dargeboten, samt allen Feinheiten der Makro-Fotografie im Großmaßstab. Der Film spielt mit den strukturellen Konventionen, indem er sich mühelos – einfach durch Maßstabsänderung – von der Abstraktion zur Narration bewegt. Sein Ende durch den Corvus Corax ex Machina warnt uns davor, dass auch Maschinen Naturgesetzen unterliegen können.
( Rick Sayre)

Die Auswahl der beiden Auszeichnungen war sogar noch schwieriger. Wie immer hatte jeder von uns seine Meinung, aber jeder in Frage kommende Titel hatte seine Stärken und Schwächen, was lange einen Konsens zwischen uns verhinderte. Letztlich sagte dann Mark, wenn ich mich recht erinnere: „Könnte nicht Kein Platz für Gerold eine Auszeichung sein?“

Und das war der Geistesblitz, den wir gebraucht hatten. Kann so ein einfaches Stück, das keinen besonderen Aufwand treibt und sich mit so etwas Trivialem wie Wohngemeinschafts-Konflikten beschäftigt, für eine Auszeichnung in Erwägung gezogen werden? Aber sicher! Die Geschichte dreht sich um drei WG-Mitglieder – Ellen, Armin und Roger –, die am Küchentisch sitzen und auf das Eintreffen Gerolds, des vierten Mitglieds, warten. Die drei müssen Gerold mitteilen, dass er aus der Wohngemeinschaft fliegt, aber das Gespräch nimmt eine unerwartete Wendung. Indem ein fleischfressender Alligator, Gerold, gegen drei Grasfresser gestellt wird, vermag das leicht frivole Stückchen sofort zu fesseln. Dietmar hat das so formuliert:

Kein Platz für Gerold
Daniel Nocke / Studio FILM BILDER (DE)

Hier haben wir einen bescheidenen, geradezu einfachen Film, der die Geschichte einer typischen Konfliktsituation zwischen den Mitgliedern einer deutschen Wohngemeinschaft in einem Format zeigt, das stark an die Reality-TV-Shows erinnert. Der Kurzfilm setzt die Computeranimation als Verfremdungsmittel in dem starken Kontrast zwischen der realistischen Szenerie und den tierischen Hauptdarstellern ein, um dadurch die Motive alltäglicher Rituale zu demaskieren.
( Dietmar Offenhuber)

Rückblickend ist unsere zweite Auszeichnung ein perfektes Gegengewicht zu Kein Platz für Gerold: Negadon: The Monster from Mars ist ein 25-minütiger Film, der fast zur Gänze vom unabhängigen Filmemacher Jun Awazu alleine geschaffen wurde. Während Kein Platz für Gerold die Einfachheit fast bis zum Extrem treibt und häufig Emotionen durch bloße Augenkontakte transportiert, erstaunt Negadon: The Monster from Mars durch seinen Detailreichtum und die massive Dichte einer jeden Einstellung.

Negadon: The Monster from Mars
Jun Awazu (JP)

Ein komplett computergenerierter Film in der Tradition der alten japanischen tokusatsu (Trickfilme) der 1960er und 1970er Jahre. Das große Interesse des Künstlers am Genre wird in seiner fast manischen Detailverliebtheit sichtbar; die Bezüge zu den alten Godzilla- und anderen kaijyu-(Monster-)Filmen sind unübersehbar. Die Umsetzung von Live-Action in Computeranimation ist nahezu perfekt und gibt dem ganze einen eigenständigen Look, ohne dabei die Retro-Atmosphäre zu verlieren. Drei gut investierte Jahre Arbeit!
( Shuzo John Shiota)

Und nun stellen meine Mitjuroren (außer Mark, der aus Zeitgründen nichts beitragen konnte) noch unsere Anerkennungen vor:

Discord: metal and meat
Stephan Larson (US)

Abstrakt in Form und Bewegung und dennoch fesselnd real in Textur und im Spiel von Licht und Schatten, besitzt dieses metaphorische Werk dramatische Spannung. Eine symbolische Meditation über die Macht der Biologie.
( Rick Sayre)

Straße der Spezialisten
Saschka Unseld, Jakob Schuh / Studio Soi (DE)

Auf den ersten Blick narrte die Straße der Spezialisten des Studio Soi die Jury, indem sie vorgab, eine narrative Animation zu sein – eine Theorie, die letztlich aber aufgegeben werden musste. Was bleibt, ist ein surreales Road-Movie mit einem gelben Roboter und einem alten Opel, einer schönen Kombination aus 2D- und 3D-Animation, die auch durch ihr langsames, musikalisches Tempo anspricht.
( Dietmar Offenhuber)

The Regulator
Philippe Grammaticopoulos (FR)

Der 15-minütige Film von Philippe Grammaticopoulos (einem französischen Comic-Autor, von dem auch die preisgekrönte Animation Le Processus stammt) ist eine unheimliche, spannende Geschichte über das Elterndasein in einer mechanisierten Welt. Aus der Vielzahl von Einreichungen im schwarz-weißen Comic-Buch-Stil sticht The Regulator als ästhetisch kraftvollstes Beispiel hervor, unterstützt durch eine reduzierte, aber sehr effiziente „mechanische“ Animation der Gestalten.
( Dietmar Offenhuber)

Cafard
Thomas Leonard, Guillaume Marques, Paul Jacamon (FR)

Ein technisch erstaunliches Stück, das ein Blockbuster-Feeling transportiert, wie es in studentischen Arbeiten kaum zu sehen ist (und in professionellen übrigens auch nur selten). Es war nicht nur sehr dynamisch – die Aufmerksamkeit, die den Detail gewidmet wurde, verleiht ihm einen unheimlichen Realismus. Ohne sein etwas enttäuschendes Ende wäre es ein Anwärter auf eine Preis gewesen.
( Shuzo John Shiota)

MTV: Crow
Marie Hyon, Marco Spier / PSYOP (US)

Krähen wirbeln in schwarzen Schwärmen
Krähe landet, schwarzer Wald wächst.
Ein visueller Haiku.
( Rick Sayre)

Als ich hier angekommen bin
Perrine Marais / Filmakademie Baden-Württemberg (DE)

Unvorhergesehene Probleme tun sich auf, wenn man in fremde Länder reist, selbst wenn sie gleich hinter der nächsten Grenze liegen – eine zauberhaft erzählte, exzellent gestaltete und bemerkenswert sensibel animierte Geschichte.
(Sabine Hirtes)

Kakurenbo: Hide and Seek
YAMATOWORKS (Shuhei Morita, Shiro Kuro, JP)

Eine reine 3D-Computeranimation mit allem, was japanische Animes auszeichnet. Die Technologie wird perfekt hinter atemberaubenden Designs und einer eloquenten Kinematografie versteckt, bleibt aber effizient genug, um einen Hauch von Tiefe zu vermitteln, wie er in den 2D-Animes nicht zu finden ist.
(Shuzo John Shiota)

Shinsatsu Shitsu (Behandlungszimmer)
Kei Oyama (JP)

Ein Mann lässt seine Gedanken zurückreisen in die Tage der Kindheit, als seine Ängste und Vorstellungen geradezu grenzenlos schienen. Eine weitgehend handgezeichnete Animation, die realistische Texturen und bei einzelnen Aufnahmen Rotoskopie-Techniken verwendet, um einen stärkeren Grad an Realität hervorzubringen. Ein Stück, das bei jedem Betrachten etwas Neues zu bieten hat.
( Shuzo John Shiota)

Rexona – Stunt City
The Mill (UK / US)

Alltägliche Männer, magisch geschützt, können sich auf jedes erdenkliche Risiko einlassen: Das ist die Prämisse von Stunt City, einer witzigen Geschichte, die brillant geplant und umgesetzt ist, indem echte Filmszenen durch unsichtbare Visual Effects aufgepeppt werden. (Sabine Hirtes)

Sin City
Stu Maschwitz / The Orphanage (US)

Ein Visual-Effects-Stück mit Haltung. Technischer Mut allein reicht heute nicht mehr; die klare ästhetische Aussage des Stücks machte auf unsere kritischen Juroren einen guten Eindruck, und so blieb es als einzige von vielen VFX-Einreichungen im Rennen.
( Shuzo John Shiota)

Renaissance
Christian Volckman / onyx films (FR)

Ein abendfüllender Film mit beeindruckendem Design, der Anlass zahlreicher Diskussionen unter den Juroren war. Wer ihn befürwortete, lobte seinen geradezu waghalsig neuartigen Ansatz des narrativen Filmemachens; wer nicht, stellte die Frage, ob der Versuch allein für eine positive Bewertung schon ausreicht. Ein guter Zusammenschnitt seiner besten Sequenzen hätte Renaissance möglicherweise näher an die Goldene Nica gebracht.
( Shuzo John Shiota)

One Man Band
Mark Andrews, Andrew Jimenez / Pixar Animation Studios (US)

Mit seiner sehr dichten Gestaltung der Musik und dem beinahe aggressiven Ton zeigt dieser Kampf zwischen Straßenmusikanten eine neue Seite von Pixar, wo man den eigenen Character-Animation-Stil stets in neuen Facetten wieder erfindet.
( Dietmar Offenhuber)


 
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