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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich

Interaktive Kunst heute: zwischen Tradition und Innovation

Masaki Fujihata, Karin Ohlenschläger, Ingvar Sjöberg, Joachim Sauter, Pamela Winfrey

Unter den insgesamt 609 Projekten in der Kategorie interaktiver Kunst sind dieses Jahr sind eine nicht unwichtige Anzahl von Arbeiten eingereicht worden, die sich rückblickend auf den historischen Kontext interaktiver Kunst beziehen. Statt sich vorbehaltslos in die fortschrittsorientierte Soft- oder Hardwarentwicklung hineinzustürzen, setzen somit viele der diesjährigen Projekte bewusst Akzente der Reflexion. Der Rückgriff auf einfache, historisch begründete Interaktionsprinzipien, die teils ironisch und teils auch kritisch in heutigen Kontexten neu beleuchtet werden, geben einen spannenden Einblick in die konzeptuelle Entwicklung interaktiver Kunst.

Wie auch andere Jurymitglieder in früheren Statements zum Prix Ars Electronica ausgeführt haben, ist die interaktive Kunst seit Ende der 1990er Jahre in eine Phase konzeptueller und formaler Reife eingetreten und hat eine große Bandbreite von neuen Anwendungen erschlossen: von der interaktiven Skulptur zum partizipatorischen „Hactivism“, von Körperkunst zu Interaktion mit genetischen Codes, von der Mensch-Maschine-Verknüpfung bis zu globalen Kommunikationsprozessen.

Die interaktive Kunst begann sich im Kontext performativer Kunst in den 1950er Jahren zwischen Künstlern und ihren prozessorientierten Projekten zu entwickeln. Ab den 1960er Jahren fand die Interaktion auch zwischen Künstlern und Publikum statt. In den 1970er Jahren erschien dann die Untersuchung interaktiver sozialer Beziehungen und Verhaltensweisen gleichzeitig mit der Erforschung und Visualisierung der Mensch-Maschine-Interaktion. Damals begannen auch Video- und Klangsynthesizer sowie Computer eine entscheidende Rolle in der interaktiven Kunst zu spielen. Andererseits ermöglichten die Closed-Circuit-Videoinstallationen den Künstlern, die Präsenz und das Verhalten des Publikums in eine prozessorientierte Umgebung einzubinden. In den 1980ern entfaltet sich die Mensch-Maschine-Interaktion vor allem über Videoinstallationen und Multimedia-Performance-Kunst. Die 1990er zeichneten sich durch den „Big Bang“ im Hardware- und Software-Interface-Design ebenso aus wie durch neue Verknüpfungen zwischen menschlichem Verhalten und KI-Environments oder Virtual-Reality-Anwendungen in Skulpturen, Installationen oder der darstellenden Kunst.

Seit der Mitte des letzten Jahrzehnts verschiebt sich die interaktive Kunst mit Hilfe des Internet mehr und mehr von den lokalen und Mensch-Maschine-Interaktionen hin zu globalen Community- und System-Interaktionen. Konzepte aus der Systemtheorie werden eingesetzt, um ökologische, ökonomische oder soziale Verhaltensmuster und Beziehungen zu untersuchen. Innovative Software-Entwicklung trägt dazu bei, Kommunikationssysteme zu entwickeln, die lokale Prozesse mit globalen Strukturen und Funktionen verknüpfen.

All dies hat auch die Notwendigkeit geschaffen, immer komplexere Beziehungsgeflechte und gegenseitige Abhängigkeiten sichtbar zu machen, und so wird die Interaktivität immer enger verknüpft mit Echtzeit-Datenbanksoftware und -visualisierungen.

Wenn wir auch darin übereinstimmen, dass die interaktive Kunst sich noch immer in eine Vielzahl neuer Anwendungsbereiche hineinentwickelt, so möchten wir doch drei wichtige Richtungen aufzeigen:

- Erstens taucht die interaktive Kunst immer tiefer in die Grundlagenforschung über natürliche und künstliche Lebenssysteme ein.

- Zweitens konzentriert sie sich auf partizipatorische lokale und globale Kommunikationssysteme und ihre soziale und politische Anwendung.

- Drittens engagiert sich die interaktive Kunst stärker in kritischen Auseinandersetzungen hinsichtlich der ideologischen Mustern der Programmierung und der Beziehung zwischen Code, Sprache und Verhalten. In diesem Kontext hat sich die interaktive Kunst auch wieder ihren Ursprüngen in der performativen Kunst und den Environments angenähert.

Sehr herausragend ist in diesem Zusammenhang das interaktive Installationsprojekt The Messenger von Paul DeMarinis, das dieses Jahr die Goldene Nica erhalten hat. Diese übers Internet gesteuerte Arbeit erforscht die Archäologie der interaktiven Technologie und verbindet ein von immensen politischen und sozialen Konnotationen begleitetes historisches Ereignis mit unserem gegenwärtigen globalen Informationsbedarf. Auf Basis früher Entwürfe für einen elektrischen Telegrafen des katalanischen Wissenschaftlers Francesc Salvá untersucht diese Installation die innerhalb der Informationstechnologie eincodierten Metaphern.

Das „Hacking“ der immer stärker privatisierten und kommerzialisierten Bereiche des öffentlichen Raums, ihn zugänglich zu machen für die Selbstartikulation und Partizipation der Bürger, ist eines der Ziele von Graffiti Research Lab, das eine Auszeichnung erhalten hat. Durch Umfunktionierung der allgegenwärtigen kommerziellen Technologien versucht man mit diesem Projekt, sich den öffentlichen Raum wieder anzueignen, um die unternehmerische Kultur herauszufordern und neue Wege urbaner Kommunikation zu eröffnen.

Eine weitere Auszeichnung wurde an Zachary Liebermans performative Installation drawn vergeben, die uns zurück zu einer der einfachsten und ältesten Ausdrucksformen von Kreativität bringt: zum Malen. Aber hier wird dieser analoge Prozess in Echtzeit mit einem digitalen Animationssystem verbunden. Dieses erweckt eine einfache Tuschezeichnung zum Leben, wandelt sie in eine animierte organische Gestalt um und erlaubt dem User, mit der Zeichnung auf dem Bildschirm zu interagieren, sie zu schieben, zu bewegen und dabei auch Sound zu generieren. Diese Verbindung zwischen Low und High-Tech, zwischen manuellen und virtuellen Mitteln, einer anwenderfreundlichen intuitiven Software sowie einer Klang- und Bild-Performance in Echtzeit macht drawn zu einem Mehrzweck-Werkzeug, dem eine große Bandbreite von Anwendungen in der performativen Kunst und auch als didaktisches Tool offen steht.

Hacking und das Umprogrammieren von kommerziellen Videospielen ist nicht nur eine Frage der Unterhaltung, sondern auch des Widerstandes. Joan Leandre kritisiert die Art und Weise, wie die Industrie diese Spiele ebenso programmiert wie deren Anwender. Retroyou Nostal(g) von Joan Leandre ist ein kommerzieller Flugsimulator, dessen grafische Interfaces für Navigation, Orientierung im Raum und Steuerinstrumente modifiziert wurden. Wenn Anwender unter diesen Bedingungen fliegen wollen, müssen sie ihre eigene Erfahrung, Kenntnis und Wahrnehmung von Raum, Zeit und Geschwindigkeit umprogrammieren.

double helix swing (Konzeption: Ursula Damm, Programmierung: Christian Kessler, Sound: Yunchul Kim) ist eine interaktive Echtzeit-Installation, die Systeme natürlichen Lebens und Artificial-Life-Environments verbindet. Der Flug von Mückenschwärmen wird von einer mit einem Computer verbundenen Kamera aufgezeichnet. Ein Programm formt die Bewegung der Mücken in Spuren um, die auf dem Bildschirm visualisiert werden. Diese Spuren wiederum werden zum Futter für Zellen künstlichen Lebens, die sich auf Basis der Doppelhelix-Spuren der Schwärme ebenso entwickeln wie mit Hilfe der Interaktionen der User. Die Benutzer können den genetischen Code und das Verhalten dieser künstlichen Kreaturen programmieren und modifizieren und so die komplexen Beziehungen zwischen biologischen, sozialen und technologischen Systemen erforschen.

SOBJECT von Alberto Frigo ist ein noch laufendes Projekt, bei dem der Künstler jedes Objekt fotografiert, das seine dominante Hand verwendet. In ihrer Nahansicht werden diese Gegenstände zu einem Ready-Made-Code, der sowohl wiederkehrende wie einmalige Lebenshandlungen darstellt. Das Projekt begann 2003 und umfasst mittlerweile eine enorme Menge alltäglicher Bilder. Durch die Aufstellung von Digitalkameras, die Registrierung der Bilder in einer indizierten Datenbank und durch seine geradezu obsessive Hingabe an das Projekt hat er ein enormes Werk geschaffen, das die Grenzen der Dokumentation stark ausweitet. Wer an diesem Werk partizipieren will: www.albertofrigo.net.

Ryota Kimuras S.U.I. erforscht die Beziehung zwischen der Bequemlichkeit, die diverse Dienstleistungen in unserer Konsumgesellschaft bieten, und Fragen des Datenschutzes rund um die Überwachung. S.U.I. („Surveillance Urban Intelligence“) verwendet die persönlichen Informationen über Zeit und Ort, die auf der Tokioter U-Bahn-Dauerkarte gespeichert werden, und bildet sie auf ein zukünftiges Transportsystem ab. In diesem Werk liest ein Computer die Informationen dieser Karten aus, interpretiert sie und erlaubt seiner Künstlichen Intelligenz, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. So werden Fakten mit Fiktion vermischt, die Künstliche Intelligenz übernimmt aktiv die Erschaffung einer Erzählung über unsere private Geschichte. S.U.I. macht uns einen wichtigen, kritischen Kipppunkt im Zusammenhang mit dem Vordringen von „intelligenten Systemen“ in unser Privatleben bewusst.

Bei Occular Witness bekommt Arijana Kajfes das Immaterielle des Lichts fest in den Griff, indem sie verschiedene Methoden, mit ihm als künstlerisches Medium zu arbeiten, kartiert und dokumentiert. Innerhalb eines Werks aus sechs Modellen und einem Künstlerbuch untersucht sie sowohl die physischen Eigenschaften von Licht als auch seine sozio-kulturellen Kontexte. Ihre Installation bewegt sich zwischen Natur und Wissenschaft, konzentriert sich aber gleichzeitig auf die Aufrechterhaltung einer freien künstlerischen Interpretation der Studien – und auf diese Weise erreicht ihre Arbeit eine poetische Tiefe. Occular Witness ist ein bedeutendes Projekt, das sich einem der wichtigsten Teile der Informationstechnologie widmet – dem Licht.

The Robotic Chair von Max Dean, Raffaello D’Andrea und Matt Donovan ist ein hölzerner Stuhl, der in der Lage ist, auseinanderzufallen und sich wieder selbst zusammenzubauen. Mit Hilfe eines eigens entwickelten Roboters, der in der Sitzfläche des Stuhls integriert ist, und eines über dem Stuhl angebrachten Sichtsystems ist der Stuhl selbst in der Lage, seine Einzelteile zu lokalisieren und sich selbst vermittels zahlreicher Andock-Komponenten wieder zusammenzufügen. Bei der Betrachtung dieses Werks kann man nicht umhin, es als eine Metapher für den Prozess des Lebens als solches zu sehen.

Office Live der Gruppe Techart ist eine interaktive Kettenreaktions-Installation in Echtzeit, die das Büroleben kommentiert. Mit dem von einem Goldfisch ausgehenden Anstoß werden die vier Elemente des „Büros“ von einem einzigen Fax in Betrieb gesetzt und schaffen eine Serie von miteinander in Beziehung stehenden Ereignissen. Ein Computernetzwerk, RFID, Klang- und Bildsensoren sowie andere Sensortechniken werden eingesetzt, um einen dynamischen Dominoeffekt in Echtzeit zu erzeugen.

Vexations von Yoko Mohri und Soichiro Mihara ist eine Installation, die auf einer Komposition von Eric Satie aufbaut. Das ursprünglich 840 Mal abzuspielende Satie’sche Werk bindet bei seinen Wiederholungen nach und nach die Umweltklänge des Ausstellungsraums mit ein und erlaubt gewöhnlichen Frequenzen, das Werk subtil in ein völlig neues Stück umzuformen. Diese Arbeit zeigt die spinnwebenfeinen Beziehungsmöglichkeiten zwischen klassisch komponierter Musik und aufgenommenen Klanglandschaften.

Alvaro Cassinellis Khronos Projector ist eine Forschungsreise in eine neue Technologie. Cassinelli ist gelungen, ein neues Mensch-Maschine-Interface zu entwickeln, das es Benutzern erlaubt, eine verformbare Projektionsfläche physisch so zu manipulieren, dass die Zeit innerhalb der Bilder selbst sichtbar wird. Diese neue Projektionsfläche könnte von Künstlern und Erziehern ebenso eingesetzt werden wie von bemerkenswert vielen kommerziellen Anwendungen.

Outerspace von Andre Stubbe und Markus Lerner ist eine geschmiedete interaktive Roboter-Kreatur, deren anthropomorphes Verhalten auf Neugierde basiert. Sie ist empfindlich für Licht, Bewegung und besonders Kontakt und reagiert einem lebenden Wesen erstaunlich ähnlich.

Alan Prices Tartarus verwendet Echtzeitgrafik und Game-Engine-Technologie, um die unwahrscheinliche virtuelle Gestalt eines emotionalen alten Mannes in einer nihilistischen und absurden Umgebung zu erschaffen. Der Anwender begleitet den alten Mann, dessen Last ein einzelner Stuhl ist. Während man abenteuerlich durch diese Welt nackter Stiegenhäuser und wenig einladender Zimmer wandert, sammeln sich immer mehr und mehr Stühle an – eine metaphorische Hommage daran, welche Sisyphusarbeit es ist, ein Individuum zu sein.

Yunchul Kim hat einen skulpturartigen Turm aus gebürsteten Kupferrohren konstruiert, die alle miteinander verbunden sind und Hello World! genannt wird (der Name „Hello World“ bezieht sich auf ein simples einführendes Computerprogramm). Die 300 Meter lange Röhre dient als temporärer Speicher. Yunchul Kim sendet modulierte Wellen durch das System, in denen die Worte „Hello World“ eincodiert sind. Am Ende wird der Klang nach einer halbsekündigen Reise durch die Rohre decodiert und an einen Monitor gesandt, wo der Text dargestellt wird. Man kann den Klang durch die Rohre reisen hören, und weil dieses Memory-System so fragil ist, kann schon der Klang des Raums die Nachricht stören.

Dieses Statement wurde von Pamela Winfrey und Karin Ohlenschläger vorbereitet und zusammengestellt und enthält Beiträge der anderen Jurymitglieder Ingvar Sjöberg, Joachim Sauter und Masaki Fujihata.


 
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