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Veranstalter
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich
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Das Hybride – die Signatur unserer Zeit
Scott deLahunta, Jens Hauser, Golan Levin, Sandrine von Klot, Elaine Ng
Sucht man nach der etymologischen Bedeutung des Wortes „hybrid“, wird man unweigerlich zu einer Definition wie „Kreuzung verschiedener Arten oder Unterarten von Tieren oder Pflanzen“ gelangen. In letzter Zeit aber haben KulturtheoretikerInnen und -kritikerInnen überzeugend dargelegt, dass sich Hybridität und Hybridisierung auch gut zur Beschreibung der Interdependenzen und Wechselbeziehungen eignen, die im Kontext sich verschiebender globaborders durch kulturelle Mischung und Migration entstehen. Unter welcher Perspektive soll man angesichts des Gebrauchs dieses Begriffs in seiner ältesten und neuesten Erscheinungsform die Einführung der neuen Kategorie „Hybrid Art“ im Rahmen des Prix Ars Electronica sehen?
Die beste Perspektive liefert vielleicht Ars Electronica selbst. Seit 1979 der „kritischen Diskussion und Reflexion der Medienkultur im Zwischenbereich zwischen Kunst, Technologie und Gesellschaft“ verpflichtet, ist Ars Electronica – so könnte man sagen – immer schon an Hybridität interessiert gewesen. Explizit in den Vordergrund gerückt wurde der Begriff beim Festival Ars Electronica 2005 mit dem Thema Hybrid – living in paradox. „Das Hybride“, so hieß es damals im Festivalstatement, „ist die Signatur unserer Zeit, der Gelassenheit mit der wir uns in real physischen ebenso wie in digital virtuellen Habitaten eingerichtet haben, der Selbstverständlichkeit, mit der wir kulturelle Differenzen und Antipoden verhandeln und neu konfigurieren, der beunruhigenden Routine, mit der wir mit den Bausteinen des Lebens spielen.“ Der Text veranschaulicht die Tendenz zu einer hybriden Intermedialität vermittels austauschbarer Ebenen der Formung von Materie, sprich: ihrer – biologischen wie kulturellen – „In-Formation“, die nicht mehr auf der Vorstellung eines universellen Codes beruht, sondern auf der Kombination spezifischerer und stärker kontextualisierter Codes.
Verständlich wird die Entscheidung des Prix Ars Electronica zur Einführung der neuen Kategorie Hybrid Art auch durch eine weitere Entwicklung. In den letzten Jahren begannen die Verantwortlichen des Prix Ars Electronica sich ein neues Mandat für die Kategorie „Interaktive Kunst“ zu überlegen: ein klareres, zu Begriffen wie Echtzeit und direkte Interaktion zurückkehrendes und die Rolle des Interface betonendes Set von Kriterien. Eine derartige Reaffirmation der Kriterien interaktiver Kunst war dazu angetan, viele Einreichungen auszuschließen, die diese eher orthodoxe Definition interaktiver Kunst früher in Frage gestellt und also erweitert hatten. Die Kategorie Hybrid Art war – zumindest teilweise – als eine Lösung für Kunstprojekte gedacht, die nach dieser Redefinition nicht mehr als „interaktiv“ durchgehen konnten, aber auch für Arbeiten, für die sich kein Platz in anderen Kategorien wie Net Vision, Digital Musics und Computeranimation / Visual Effects fand.
Juryverfahren
In der neuen Kategorie Hybrid Art wurden über 450 Arbeiten eingereicht – eine Anzahl, die etwa der in den etabliertesten Kategorien entspricht. Schon daraus könnte man schließen, dass die Künstlerinnen und Künstler bereits seit einiger Zeit über die Wettbewerbskategorien hinaus gedacht haben. Auch wenn wir uns zu Beginn unserer Arbeit Kriterien für Hybrid Art zurechtlegten, so war für unseren Zugang letztlich doch die Sichtung der Einreichungen bestimmend. Schon sehr bald zeichneten sich gewisse Cluster ab. In diesen spiegelte sich die große Vielfalt der Arbeiten insgesamt, darunter auch viele, die früher zwischen oder neben die anderen Kategorien des Prix Ars Electronica gefallen wären (und in manchen Fallen auch tatsächlich sind). Wie erwartet gab es etliche Einreichungen, die ganz klar auch in andere Kategorien gepasst hätten, doch wurden die Arbeiten von den Künstlern ja bewusst in der Kategorie Hybrid Art eingereicht. Bei allen Einreichungen versuchten wir die „Hybridität“ des Werks im Sinne der jeweiligen künstlerischen Intention zu sehen. Im Allgemeinen betrachteten wir jedes Cluster als eine potenzielle Entwicklungslinie hybrider Kunst, und wir sind der Meinung, dass sich diese Vielfalt auch in unserer Auswahl niederschlägt.
Eines der Cluster, das sich bei unserer Sichtung der Einreichungen herausbildete, waren eine Reihe von Arbeiten, die wir unter dem Begriff „Data Translation Art“ zusammenfassten. 1996 hielt der Künstler Jim Campbell einen Vortrag am Museum of Modern Art (New York), in dem er eine „Formel für Computerkunst“ vorstellte, die sich heute als eine Kritik von Kunstwerken interpretieren ließe, die einen beliebigen Input (z. B. Wind, Internetaktivität, Aktienkurse usw.) auf einen beliebigen Output (z. B. bewegte Bilder, Wärmeerzeuger, robotische Aktuatoren usw.) abbilden. Einreichungen, die derartige Verbindungen ohne signifikante Schichtung und Verknüpfung von Konzept, Umsetzung und Kontext herstellten, wurden rasch verworfen. Weiters gab es auch eine große Gruppe mechatronischer Werke mit unterschiedlichen Programmierniveaus von scripted (d. h. animatronisch) bis autonom und intelligent oder responsiv. Außerdem reichten diese Werke von ernsthaften formalen Studien bis zu solchen von eher ironisch-sozialkritischem Charakter. Wir fanden, dass Arbeiten dieser Art unbedingt einen Platz in der Kategorie Hybrid Art haben sollten, und waren sehr froh, mechatronische Techniken auch in Projekten wie Cloaca und Nothing Happens am Werk zu sehen. Zwar gab es dieses Jahr keine preisgekrönten Arbeiten, die als „primär robotisch“ zu bezeichnen wären, aber angesichts herausragender älterer Arbeiten wie Robotic Chair von D’Andrea et al. meinen wir, dass dieses Gebiet viel Potenzial besitzt.
Eine kleinere Gruppe von Einreichungen waren Arbeiten, die sinnliche Erfahrungen jenseits von Bild und Ton schaffen, also Geruchssinn, Tastsinn usw. mit einbeziehen. Man könnte diese Arbeiten aufgrund ihrer Einbeziehung eines größeren Sinnesbereichs als in hohem Maße hybrid bezeichnen, und schließlich war die olfaktorische Komponente – in Verbindung mit einer eindrucksvollen konzeptuellen und materiellen Realisation – mit ausschlaggebend dafür, dass unsere Wahl aufCloaca fiel. Neben diesen multisensorischen Arbeiten, die auf eine Ausweitung der Parameter ästhetischer Erfahrung deuten, zeichnete sich noch ein weitere Gruppe von Arbeiten ab, für die der gesamte Umfang sinnlicher Erfahrung seit jeher als konstitutiv gilt – verkörpert in den Aktionen von SchauspielerInnen oder TänzerInnen auf der Bühne. Auch wenn es keine dieser Performances in unsere Endauswahl schaffte, so verbanden doch mehrere davon Bild, Gestik und Bewegung in Echtzeit über diverse Computerinterfaces – was sie per definitionem auch für die Kategorie Interaktive Kunst qualifiziert hätte. Die bedeutendste neue Richtung trat in einer Form auf, die wohl performativ zu nennen ist. Nur dass die lebenden Organismen, die im Zentrum dieser Arbeiten stehen, mikroskopisch klein sind. Außerdem wachsen sie zwar interaktiv, doch geht es nicht in erster Linie um Informationsübertragung. Diese Organismen stellen neue Beziehungen zwischen dem physischen Medium (das nicht durch ein einziges technisch definiertes Medium induziert werden kann) und seiner Vermittlung und Mediatisierung her. In unserer Auswahl aus dieser Gruppe von Arbeiten und Arbeitssituationen verschwimmen (insbesondere im Fall der Goldenen Nica) die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft. Wenn sich über die neue Kategorie Hybrid Art etwas verallgemeinernd feststellen lässt, dann eine Verschiebung des medienkünstlerischen Interesses von der Informationstechnologie vernetzter Computer hin zu Materialtechnologien biologischer, chemischer, mechanischer und zweifellos bald auch nanotechnologischer Art. Die damit verbundenen schöpferischen Prozesse beruhen häufig auf technisch höchst anspruchsvollen Fähigkeiten im Umgang mit Materialien, die zwischen lebend und doch nicht lebend anzusiedeln sind; Materialien, die in ihrem Lebendzustand erhalten, entmystifiziert und in den Raum der prägenden Diskurse des zeitgenössischen Kunstgeschehens verpflanzt werden. Diese Werke hängen mit der etymologischen Urbedeutung des Wortes „hybrid“ zusammen und eröffnen durch „Rematerialisation, Entbildlichung, Performativität und hybride Intermedialität“ doch zugleich den Zugang zu neuen kulturellen Erfahrungen und ontologischen Auffassungen. Bei der „In-Formation von Materie“ sollte man heute nicht mehr allein an die Übertragung und Transformation von Information qua Daten denken – wie in Campbells „Formula for Computer Art“ –, sondern eher an „In-Formationsphänomene“ und die mögliche Transformation des Begriffs „Neue Medien“ in etwas, das auch den Übergang von silikon- zu kohlenstoffbasierten Informationsträgern umfasst.
Goldene Nica
SymbioticA: The Art and Science Collaborative Research Laboratory, University of Western Australia, Perth (vertreten durch den Mitbegründer und künstlerischen Leiter Oron Catts)
SymbioticA ist ein von Prof. Miranda Grounds, Prof. Stuart Bunt und Oron Catts gemeinsam gegründetes Künstlerlabor, das sich mit der Erforschung, Lehre und Kritik der Life Sciences und ihrem Verhältnis zur Kunst beschäftigt. Seit dem Jahr 2000 ermöglicht es KünstlerInnen, an einem biowissenschaftlichen Institut und auf einer permanenten Basis praktisch mit biotechnologischen Verfahren zu arbeiten und dort zwar an wissenschaftliche Regeln gebundene, sonst aber ausschließlich von Neugier geleitete Forschungen durchzuführen. Auf einzigartige Weise unter dem Dach der Fakultät für Anatomie und Humanbiologie der University of Western Australia in Perth angesiedelt, bietet SymbioticA Künstlern „ein neues Mittel künstlerischer Forschungstätigkeit, eines bei dem sie aktiv mit den Werkzeugen und Techniken der Naturwissenschaft arbeiten können, und zwar nicht nur um sie zu kommentieren, sondern auch um ihre Möglichkeiten zu erkunden.“ Die Jury würdigt die außergewöhnliche Leistung von SymbioticA als eine Struktur für Zusammenarbeit, die seit ihrer Gründung mehr als 40 KünstlerInnen die Möglichkeit geboten hat, über längere Zeiträume mit biologischen Labortechniken zu arbeiten. Der Jury wurde deutlich vor Augen geführt, wie sehr viele der Einreichungen in der Kategorie Hybrid Art von der Art von Ressourcen abhängig sind, wie sie bei SymbioticA gepflegt und zur Verfügung gestellt werden –, auch insofern, als das Labor mittlerweile zu einem Modell für andere derartige in Institutionen eingebettete Strukturen wie Ectopia in Lisabon und die soeben ins Leben gerufene BioArts-Initiative am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy, N.Y., geworden ist. Mit biologischen Formen arbeitende KünstlerInnen unterliegen heute ähnlichen Zugangsbeschränkungen zur Technologie wie die ComputerkünstlerInnen der späten 1960er Jahre. Die dafür nötigen Ressourcen sind immer noch unerschwinglich, der Zugang zu ihnen erfordert Investitionen in Größenordnungen, die nur Institutionen leisten können. Ohne institutionelle Unterstützung für kritische künstlerische Praktiken, bliebe das Feld auf isolierte Einzelversuche beschränkt. SymbioticA ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie eine künstlerische Forschungsgemeinschaft neue Betätigungsfelder für die Entwicklung systemisch sinnvoller Kunstformen eröffnen kann.
Ein wesentlicher Aspekt von SymbioticA ist das Bemühen um ein ausgewogenes Verhältnis von Künsterlnnen und WissenschaftlerInnen – eine Aufgabe, die dem künstlerischen Kernteam Oron Catts und Ionat Zurr vom Tissue Culture & Art Project viel kreative Energie abverlangt. Neben der Betreuung anderer KünstlerInnen, der Auseinandersetzung mit verpflichtenden Ethikprüfungen sowie Gesundheits- und Sicherheitsfragen, bietet das künstlerische Kernteam Lehrveranstaltungen über „Biologische Kunst“ für Undergraduate-Studenten sowie ein einmaliges spezialisiertes „Biological Arts Masters Program“ an. Außerhalb des Universitätsbetriebs veranstaltet es Workshops für KünstlerInnen etwa über DNA-Entnahme und die Erstellung von DNA-Fingerabdrücken, über Gentechnik und die Grundlagen des Tissue Engineering – mit dem Ziel, das Wissen der Life Sciences zu demokratisieren und jeden in die Lage zu versetzen, sein eigenes Heimlabor einzurichten.
Der Preis wird sowohl in Anerkennung der Arbeit von SymbioticA wie auch als Unterstützung für die Erhaltung des Labors und die Entwicklung und Schaffung neuer Arbeiten vergeben. SymbioticA zeigt neue Wege für die Medienkunst auf, die über Plug-and-Play-Strategien hinausgehen und den Horizont für neue Kunstformen öffnen, die Zeit, Equipment, technische Fertigkeiten und ein philosophisches Bewusstsein für die betreffenden Probleme erfordern. Die Jury betrachtet diese Verschiebungen in punkto Zeitdauer, Transdisziplinarität und Infragestellung der zentralen Rolle von Daten als wesentliche Faktoren für die Kategorie Hybrid Art.
Auszeichnungen
Nach der Vergabe der Goldenen Nica an eine Institution, die die Entstehung einzigartiger Arbeiten im Zwischenbereich zwischen Kunst und Wissenschaft ermöglicht, vergab die Jury die Auszeichnungen an die ungewöhnlichen und eindrucksvollen Werke zweier sehr unterschiedlicher Künstler, die beide ihr Leben der Aufgabe verschrieben haben, neuen Denkweisen und Träumen schöpferischen Ausdruck zu verleihen.
Unsere Auszeichnungen gehen an Cloaca (2000–2007, Vorstudien seit 1997) von Wim Delvoye und die diversen Biologischen Habitate von Zbigniew Oksiuta. Stellt man diese beiden Projekte nebeneinander, kann man zwischen ihnen sowohl zahlreiche Unterschiede als auch faszinierende Ähnlichkeiten feststellen. Das eine, ganz im Kontext der zeitgenössischen Kunst (d. h. im Galeriebetrieb, Kunstmarkt usw.) angesiedelt, ist eine zwar ironische, aber voll realisierte künstlerische Arbeit; das andere ist sowohl in der Konzeption als auch in der Ausführung offener. Das eine erkundet das Innere des Körpers, während sich das andere den fernen Räumen zuwendet, in denen unsere Körper vielleicht dereinst siedeln werden. Beide Arbeiten sind – als Ergebnis singulärer kreativer Visionen – über einen langen Zeitraum und in Verbindung mit „untypischen“ Wissenschaftlern (Gastroenterologen, Botanikern usw.) entwickelt worden. Vor allem aber sind beide Werke in höchstem Maße ikonoklastisch und futuristisch – und es hätte vor Einführung der neuen Kategorie Hybrid Art wohl kaum eine Möglichkeit gegeben, sie im Rahmen des Prix Ars Electronica zu würdigen.
Cloaca Wim Delvoye
Wim Delvoyes Serie Cloaca ist eine im Verlauf des letzten Jahrzehnts entwickelte Gruppe von organischkinetischen Installationen. Diese Arbeiten sind sowohl in technischer als auch konzeptueller Hinsicht Meisterwerke hybrider Kunst. Ziel von Cloaca ist die Nachbildung des menschlichen Verdauungssystems einzig und allein zu dem Zweck, Exkremente zu produzieren. Diese zweimal täglich gefütterte absurde „Scheißmaschine“ besteht aus einer Reihe miteinander verbundener Glasbehälter, in denen durch bestimmte biochemische Mischungen das bakterielle Mikroklima verschiedener Stadien des Verdauungsprozesses nachgebildet wird. Cloaca ist als ein Labor materialisierter Prozesshaftigkeit angelegt, bestehend aus einer Fertigungsstraße aus rostfreiem Stahl, ständig auf Körpertemperatur gehaltenen Enzymbehältern, peristaltischen Pumpen, die das heranreifende Gebräu durch Silikongedärme weiterbefördern, und internen Stromkreisläufen für die Steuersoftware der Maschine. In einen gnadenlosen und unbeirrbaren Versuch, den Output seiner Maschine immer realistischer zu machen, hat Delvoye bis Dato sieben voll funktionsfähige Versionen seines „generativen Kunstwerks“ geschaffen – die neueste davon soll im September 2007 in Luxemburg enthüllt werden.
Mit seiner gründlichen Hybridisierung von Mensch und Maschine unterstreicht Delvoyes artenübergreifender Mechanismus, dass das Leben eigentlich ein Kontinuum ist. Wiewohl das Werk offensichtliche Parallelen zu anatomischen Sektionsstudien aufweist, so fungiert die materielle Fetischisierung der Transparenz doch zugleich als Kritik des Visiozentrismus und überhaupt des Vertrauens auf visuelle Beweise. Tatsächlich muss man das Kunstwerk eigentlich nicht „sehen“. Auch wenn die Installation visuell durchaus ergiebig ist, so beruht die Wirkung der Arbeit doch auch auf nicht-visuellen, von unserem Wahrnehmungssystem normalerweise nicht differenzierten Effekten: dem Geruch als einem zentralem Parameter bei der Würdigung von Kunst. Anders als ein vieldeutiges Bild bringt das „lineare Alphabet der Gefäße“ bei Cloaca Effekte hervor, die Präsenz direkt erzeugen, anstatt sie lediglich abzubilden. Cloaca ist nicht nur wegen seiner offensichtlichen organisch-mechanischen Qualitäten, sondern auch in manch anderer Hinsicht ein gutes Beispiel für Hybridität. Etwa in der Art, wie die Maschinen über einen Zeitraum von mehreren Jahren entwickelt und unter Mithilfe von Gastroenterologen, Wissenschaftlern, Maschinenbauern und Installateuren, die der Künstler ohne irgendein institutionelles „Wissenschaft&Kunst“-Programm hinzuzog, immer weiter verbessert wurden. In der Rolle eines „Gelbe-Seiten-Künstlers“, wie sich Delvoye selbst nennt – jemand, der ständig auf der Suche nach den besten Spezialisten zur Umsetzung seiner Ideen ist – verbindet er seinen Entwicklungsprozess bewusst mit kapitalistischen Strategien. Weiter hybridisiert wird das Cloaca-Projekt dadurch, dass sich Delvoye am kapitalistischen System beteiligt, indem er das „Endprodukt“ seiner Maschine auf dem Weltmarkt als Handelsware für Investoren und Spekulanten anbietet. Dass Cloaca wie ein wirklicher industrieller Produktionsvorgang funktioniert, ist nicht nur eine Metapher für den Kunstmarkt, sondern auch ein Nachvollzug der Logik, nach der jeder Künstler und jede Künstlerin, obwohl unter dem Einfluss zahlloser Vorläufer arbeitend, die eigene Welt und Methode zu einem persönlichen, idiosynkratischen und originellen Produkt entwickeln muss.
Biological Habitat: Breeding Spaces Technology, Made in Space Zbigniew Oksiuta
Neuere Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Biologie und Biochemie stellen gegenwärtige physische und räumliche Lebensbedingungen in Frage und treiben sie über die bekannten Strukturen, Formen und Normen hinaus. Vor diesem Hintergrund entwickelt Zbigniew Oksiuta im Zwischenbereich zwischen Kunst, Architektur, Informatik und Life Sciences biologische Habitate, die „die Prinzipien des Lebens als eine Möglichkeit zur Entwicklung einer neuen biologischen Zukunft in der Biosphäre wie im Weltraum” untersuchen. Da die Klarheit einer festen Raumtypologie heute immer weiter verschwimmt und die ursprüngliche Form eines Gebäudes gegenüber seiner Performance (den räumlichen Variationen und Strömen in seinem Inneren) an Bedeutung verliert, versucht Oksiuta einen universellen Code entwickeln: eine generative Theorie der Gestalt im Einklang mit der Technologie, die Material, Technik und Form verbindet. Die Prototypen sind zwar noch immer ziemlich „primitiv“, zukünftige Raumstrukturen jedoch sollten Materie und Energie mit biologischen Mitteln aus ihrer Umwelt entnehmen, sie transformieren und synthetisieren und darüber hinaus sämtliche Funktionen und Ereignisse mittels interner Informationen steuern.
Oksiutas Architekturprojekte untersuchen das Verhältnis zwischen Hülle und Umhüllten. Er versucht Techniken flüssiger Formbildung (Morphogenese) zu entwickeln, die sich von den üblichen Prinzipien der Akkumulation und Verfestigung vormals dynamischer Prozesse unterscheiden. Logischerweise sucht Oksiuta also nach Formen und Materialien, die sich an extreme Bedingungen wie Unterwasserräume oder Schwerelosigkeit anzupassen vermögen. Statt simulierte geometrische Konzepte einem Material aufzupfropfen, „errechnen“ Oksuitas gelatineartigen architektonischen Gebilde und „isopyknischen“ Systeme ihre Gestalt mittels direkter Materialsysteme (einer Mischung aus Flüssigkeiten und Festkörpern) und kehren damit den Vektor des Denkens um. Das Verhältnis von Simulation und Materialität selbst ist das Thema: Seine technologischen Prinzipien führen u. a. zur Schaffung räumlicher Formen im Zustand der Schwerelosigkeit, zur Verwendung biologischer Polymere als Baumaterial, und zur Erzeugung biologischer Hüllen als pneumatische Formen.
Anerkennungen
Latent Figure Protocol Paul Vanouse
Statt – wie die „Visualisierungskunst“ – die Gel-Elektrophorese zur Erzeugung abstrakter „DNA-Porträts“ zu verwenden, also Bilder zu inszenieren, die eine DNASequenz in einem Gel hinterlassen (einen DNA-Fingerabdruck), erzeugt Vanouse in Latent Figure Protocol mit eigens dafür ausgewählten DNS-Sequenzen ein quasi-fotografisches Abbild eines anderen Gegenstands, etwa eines Copyright-Symbols. Die Jury würdigt diese performative Biotech-Kunstinstallation wegen des feinen subversiven Potenzials, das in ihrer Zurschaustellung von Biotechnologien im Zusammenhang mit ihren philosophischen, politischen und ökonomischen Parametern steckt.
Autoinducer_Ph-1 (cross cultural chemistry) Andy Gracie, Brian Lee Yung Rowe
Autoinducer_Ph-1 ist eine „kulturübergreifende Chemieinstallation“, die traditionelle asiatische Reisanbaumethoden im Rahmen des maschinellen Charakters der Ökologie in Szene setzt. Mit teichartigen Strukturen, Elektronik, Labor- und Hydrokulturtechnik verbindet diese performative Arbeit seine organischen Protagonisten mit einem synthetischen, softwaregestützten „Bakterium“, das mit ersteren in den Rollen von Symbiont und Parasit interagiert. Autoinducer_Ph-1 stellt eine funktionierende Symbiose zwischen einem realen (organischen) und einem synthetischen (virtuellen) Ökosystem her und schafft damit ein einzigartiges „hybrides“ bidirektionales Feedback.
Camera Lucida: Sonochemical Observatory Evelina Domnitch und Dmitry Gelfand
Camera Lucida: Sonochemical Observatory transformiert Schallenergie mittels eines ungewöhnlichen physikalisch-chemischen Phänomens namens Sonolumineszenz in Licht. Für die Arbeit muss sich der Betrachter oder die Betrachterin eine Zeitlang an das Dunkel gewöhnen, „ehe sich ein Korridor lumineszenter Details auftut“. Der Umstand, dass es die Austauschbarkeit von Ton und Licht unmittelbar erfahrbar macht, qualifiziert dieses Werk in hohem Maß für die Kategorie Hybrid Art.
public conVENience Tabaimo
Tabaimo belebt das bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende traditionelle japanische Holzschnittgenre ukiyoe wieder und schafft damit digitale Animationen, die sich durch Satire und architektonische Räume mit den gesellschaftlichen Übeln und der Gemeinschaftsnostalgie des zeitgenössischen Japan auseinandersetzen. In public conVENience präsentiert Tabaimo einen Raum mit einer dreikanaligen Installation, die auf einer öffentlichen Toilette spielt. Eine flatternde Motte mit Kameraverschlussaugen bietet BetrachterInnen einen voyeuristischen Blick auf surreale, unerwartete Aktivitäten. In dieser Arbeit erkundet Tabaimo die unheimliche Wirkung öffentlicher Räume, in denen Anonymität und Intimität aufeinander prallen.
Unreflective Mirror Masaki Fujihata
Die jüngste Arbeit eines etablierten Meisters der Medienkunst ist vielleicht das erste Augmented-Reality-Werk, bei dem die dazu erforderlichen Brillen nicht als störendes, konzeptuell überflüssiges Anhängsel erscheinen. Unreflective Mirror ist ein ungewöhnlich überzeugender hybrider Raum – zwei identische Welten: eine, in der sich der Betrachter oder die Betrachterin aufhält, und eine erstaunlich ähnliche, aus der diese/r fast völlig entfernt worden zu sein scheint. In seiner minimalistischen aber nahtlosen Umsetzung bildet das Projekt ein neues Bindeglied zwischen interaktiver und konzeptueller Kunst.
PigeonBlog Beatriz da Costa mit Cina Hazegh und Kevin Ponto
PigeonBlog stattet Brieftauben mit eigens für diesen Zweck entwickelten kleinen Luftverschmutzungssensoren aus. Die von diesen gesammelten Informationen werden an einen Online-Server übertragen, kompiliert und in Echtzeit auf das beliebte Kartenwerk von Google abgebildet. Das Projekt fördert das öffentliche Bewusstsein in einer Sache, die ernste Auswirkungen auf Gesundheit, Umwelt und Politik hat, aber kaum öffentliche Gegenmaßnahmen und ein öffentliches Eintreten für eine Umkehr nach sich zieht. Mit dem Einsatz nichtmenschlicher Agenten in einer Tactical-Media-Strategie „basisdemokratischen Datensammelns“ errichtet PigeonBlog Brücken zwischen wissenschaftlicher Forschung und aktivistischen Bürgerbelangen.
Nothing Happens Nurit Bar-Shai
Dieses elegante Projekt kreuzt Net.Art und mechatronische Installationskunst auf eine Art und Weise, die an Ken Goldbergs und Joseph Santarromanas berühmten Telegarden (1996) erinnert. Die Differenz besteht in seiner kunstvollen Sinnlosigkeit – es fehlt jede Teleologie, jeder Wunsch, einer laienhaften Öffentlichkeit das großartige soziale Potenzial der Telerobotik vorzuführen. Nothing Happens stellt mit seinen hermetischen und absurden Zielen den Blick auf Goldbergs und Santarromanas Überlegungen zur „Telepistemologie“ scharf und kommt dabei auf ein reines, ausgereiftes Konzept.
Five Pieces of Evidence Raqs Media Collective
Das Raqs Media Collective ist eine seit 1992 in Dehli tätige dreiköpfige Künstlergruppe (bestehend aus Jeebesh Bagchi, Shuddhabrata Sengupta und Monica Narula). Ihr interdisziplinäres Kunstschaffen verbindet Bild, Ton, Plastik, objets trouvés, Performance, Technologie mit Networking, Publikation, Distribution und kuratorischer Tätigkeit, wobei ihrer Werke unterschiedliche affektive und ästhetische Register umfassen. Zu ihren ständigen Themen gehören Individual- und Sozialgeschichten, Modernität und urbane Erfahrung sowie die Mechanismen von Macht und Eigentum; für sie alle bildet Five Pieces of Evidence einen guten Beleg.
Exploding Camera Julien Maire
Julien Maires neueste Arbeit Exploding Camera bezieht sich auf einen Selbstmordanschlag zwei Tage vor dem 11. September, bei dem der gegen die Taliban kämpfende Kriegsherr Ahmed Schah Massud mit einer explodierenden Kamera getötet wurde. In seiner Arbeit zerstört und zerlegt Maire eine Videokamera so, dass nur der Lichtsensor intakt bleibt. An einen Videoprojektor angeschlossen, emittiert die Kamera über den ganzen Raum sich ausbreitende, abrupte Explosionseffekte erzeugende Lichtflecken. Durch die Dekonstruktion und Neuentdeckung audiovisueller Medien versucht Maire auf den jeweiligen Gegenstand abgestimmte Medien zu entwickeln. Der Ausstellungsraum wird in ein experimentelles Filmstudio für Live-Operationen „dysfunktionaler“ Medien umfunktioniert.
Day Of The Figurines Blast Theory
2003 erhielten Blast Theory für ihr über eine ganze Stadt sich erstreckendes ortsgebundenes und mobiles Medienspiel/Medienkunstwerk Can You See Me Now? die Goldene Nica für Interaktive Kunst. Das Spiel bzw. Kunstprojekt Day of the Figurines führt ihre Untersuchung mobiler Medien fort, kehrt aber die Verwendung der neuen Geräte um und konzentriert sich auf das fast allgegenwärtige Mobiltelefon. Wiewohl die Arbeit einen gewissen Grad an „klassischer“ Interaktivität aufweist, sah die Jury darin sowohl eine neue Richtung ihrer künstlerischen Praxis als auch eine Möglichkeit, stabilisierte und allgemein verbreitete Medienplattformen zur Entwicklung von Arbeiten heranzuziehen, aus denen neue Medienkunst-Communities hervorgehen.
@c + Lia Miguel Carvalhais / Pedro Tudela / Lia
Seit nahezu einem Jahrzehnt treibt die österreichische generative Künstlerin Lia zusammen mit dem Kollektiv @c die Hybridisierung auf Klang reagierender Visuals und auf Bilder reagierender Klänge zu einem außergewöhnlich hohen Grad ästhetischer Verfeinerung. Die Jury vergibt an das Gemeinschaftsprojekt @c + Lia eine Anerkennung für die durchgehende Qualität ihrer Arbeit und ihren dauerhaften Einfluss auf die audiovisuelle Kultur.
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