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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich

Theorien Interaktiver Kunst

Marie-Luise Angerer, Dieter Daniels, Söke Dinkla, Marie-Laure Ryan, Christopher Salter

Das Ludwig Boltzmann Institut Medien.Kunst.Forschung. schreibt im Rahmen des Prix Ars Electronica einen wissenschaftlichen Preis für kunsthistorische und medienwissenschaftliche Forschung aus. Der Schwerpunkt des Media.Art.Research Award liegt auf der wissenschaftlichen Grundlagenforschung, die jedoch dezidiert als ein zeitgenössisches Denken mit einer Verbindung zu den aktuellen gesellschaftlichen und künstlerischen Fragen zu verstehen ist. Entscheidend für die Preisvergabe ist dabei der Beitrag zur aktuellen Forschung, nicht die historischen Meriten des Autors, womit auch der übergeordneten Zielsetzung der Boltzmann Gesellschaft zur Förderung von akademischen Laufbahnen entsprochen wird. Im Unterschied zu den übrigen Kategorien des Prix Ars Electronica wird der Media.Art.Research Award jedes Jahr für ein anderes Themenfeld ausgeschrieben. Das Thema des Jahres 2008 ist „Interaktive Kunstformen“. Dabei umfassten die Formate der insgesamt 75 Einreichungen sowohl publizierte als auch nicht publizierte Bücher, Aufsätze und Sammelpublikationen. Im Unterschied zu 2007 wurden keine relevanten medienbasierten Publikation (z. B. Online oder Hypertext) eingereicht. Alle drei Auszeichnungen gingen 2008 an publizierte Bücher.

Die Einreichungen dokumentierten 2008 ein breites Spektrum der Auseinandersetzung mit dem Thema Interaktive Kunstformen“. Dabei stellte die Jury folgende Schwerpunkte fest: Die Relation von Körper und Datenraum, die Interaktionsmodelle von Computerspielen, die Verbindung von Architektur und Interaktion und die Bezüge zu organischen Lebensprozessen. Wie zu erwarten hatten einige Einreichungen thematische Verbindung zum Thema des letzten Jahres: „netzbasierte Kunstformen“.

Insgesamt zeigte sich, dass der Begriff „Interaktive Kunst“ sehr unterschiedliche Eingrenzungen und Definitionen erhält. Die sozusagen klassische Auffassung konzentriert sich auf computerbasierte Installationen im Kontext der digitalen Kunst, die weiter gefassten Auslegungen gehen beispielsweise auch auf direkte zwischenmenschliche Interaktionsprozesse, räumliche Modelle und biologische Prozesse ein. Es erwies sich damit, dass auch ein schon lange etablierter und diskutierter Terminus einer ständigen Reinterpretation unterworfen ist. Dies betrifft einerseits die historische Rückbindung an epistemologische und philosophische Modelle oder kunsthistorische Vorläufer, die vor der eigentlichen Ära der digitalen Interaktion entstanden. Andererseits trägt die Ausweitung auf alle hybriden Kommunikationsformen zwischen Menschen, Medien, Artefakten und Organismen zu dieser Reinterpretation und gleichzeitigen Innovation des Interaktionsbegriffs bei.

Die Diskussion der Jury berücksichtigte 2008 deshalb diese unterschiedlichen Interaktionsbegriffe und versuchte, diesem Spektrum durch die drei ausgezeichneten Beiträge von Arjen Mulder, Mark B. Hansen und Anna Munster gerecht zu werden. Dabei stehen die umfangreichen akademisch fundierten Studien von Munster und Hansen für eine tiefer gehende Analyse der Praxis und Geschichte digitaler Kunst, während die konzeptionell weiter gefasste Sammelpublikation von Mulder eine Öffnung des Interaktionsbegriffs für eine Vielzahl künstlerischer Praxen umfasst. Im Hinblick auf die Zukunft interaktiver Kunstformen zeigt sich dabei eine verwandte Tendenz in der Arbeit der Jurys aus den anderen relevanten Kategorien des Prix Ars Electronica (Interaktive Kunst, Hybrid Art, Digital Music), die 2008 auch an künstlerische Projekte vergeben wurden, die den Horizont Medienkunst jenseits einer rein technisch spezifizierten Abgrenzung erweiterten. Dieser aktuellen künstlerischen Entwicklung entspricht die Zielsetzung des Media.Art.Research Award, die wissenschaftliche Erschließung von noch nicht im musealen und kommerziellen Kontext etablierten Formen der Medienkunst zu fördern, die prozessual, konzeptuell, interaktiv und ebenso subversiv, situativ und engagiert an der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Gesellschaft arbeiten.

Media.Art.Research Award 2008
Der diesjährige Preis geht an Interact or Die!, herausgegeben von Arjen Mulder in Zusammenarbeit mit Joke Brouwer, produziert von V2 (NAi Publishers, Rotterdam 2007). Diese Publikation mit einer Sammlung von theoretischen Beiträgen (u. a. von Arjen Mulder selbst) sowie Interviews mit Künstlern und Wissenschaftlern und exemplarischen Darstellungen von Einzelwerken stellt den Begriff der Interaktivität in einen erweiterten Rahmen von Referenzen. In einer offenen, auch gestalterisch ansprechenden Form wird weniger eine endgültige Theorie als vielmehr ein fortlaufender Denkprozess in einem Netzwerk von Experten vorgestellt. Dabei finden neben der Human-Computer-Interaction auch die organischen Lebensformen, die prozessuale Architektur, die Systemtheorie sowie die soziale, ethische und affektive Dimension von Interaktivität Berücksichtigung. Als historische Rückbezüge werden sowohl künstlerische Positionen der 1960er (z. B. Lygia Clark) als auch philosophische Denkmodelle aus den 1950ern (Gilbert Simondon) sinnvoll in den aktuellen Diskurs integriert. Damit wird eine zukunftsträchtige Perspektive aufgezeigt, die über die Fixierung auf den digitalen Medienkunstbegriff der 1990er hinausweist. Mulder scheut sich nicht vor einer Erweiterung seiner Thesen auf kulturell und epistemologisch übergreifende Fragen und erlaubt ihre Extrapolation auf die „großen“ Themen des lebensweltlichen Zusammenhangs von Menschen, Apparaten und sozialen Strukturen.

Anerkennung eines Beitrags zum Wissensfeld 2008
Die erste Anerkennung des Beitrags zum Wissensfeld ergeht an Anna Munster und ihr Buch Materializing New Media: Embodiment in Information Aesthetics (Dartmouth College Press, 2006) für die kritische Analyse von Verkörperung und Materialität in der interaktiven digitalen Medienkunst. Basierend auf praktischen Erfahrungen als Künstlerin wie als Wissenschaftlerin, stellt Munster herrschende, auf informatischen und entkörperlichten Modellen des Digitalen beruhende Interaktionsparadigmen in Frage und unterbreitet stattdessen eine brauchbarere „Genealogie der digitalen Beschäftigung mit der Maschine”, eine, die auch Fragen der Sinneswahrnehmung, der Dauer, der Situiertheit und der sinnlichen Erfahrung mit einbezieht; Fragen, die in Disziplinen wie Kulturwissenschaft und Philosophie auf eine lange Geschichte zurückblicken können, aber laut Munster im Licht neuer Verkörperungsansätze in Medienkunst und Mediendesign neu untersucht werden müssen.

Die zweite Anerkennung eines Beitrags zum Wissensfeld geht an Mark B. N. Hansen für sein Buch Bodies In Code: Interfaces with Digital Media (Routledge, 2006). Ähnlich wie Munster richtet Hansen sein Augenmerk auf die Rolle von Affekten, Körpern und Mensch-Maschine-Verbindungen im interaktiven Medienkunst- und Architekturschaffen. Hansens Argumentation für eine Schwerpunktverschiebung von den herkömmlichen visuellen Repräsentationsmodellen auf nichtvisuelle Sinne wie Haptik und Wahrnehmungsmotorik bereichert die Medientheorie um dringend nötige phänomenologische Analysemethoden. Vor allem seine Theoriebildung zur Fusion von Körperlichkeit und Technologie erweist sich als wertvolles Mittel zum Verständnis der von digitalen Medienkünstlern und –designern in materieller Form zum Ausdruck gebrachten komplexen Interaktionen in Mensch-Maschine-Beziehungen.

Insgesamt stellte die Jury bei allen drei ausgezeichneten Publikationen einen hohen Grad der intellektuellen Durchdringung des Themenfeldes fest, welcher die langjährige Theoriebildung auf exzellentem wissenschaftlichem Niveau bei allen drei Autoren dokumentiert. Dies zeigte sich auch an den teilweise sehr interessanten, weitreichenden Parallelen zwischen diesen zeitgleich und unabhängig voneinander entstandenen Studien. Dies betrifft u.a. die Referenz auf den Körper und die Performativität als Grundelement aller Interaktivität, reicht aber auch weiter zu historischen und aktuellen Theoriemodellen (von Gilbert Simondon bis Brian Massumi). Ebenso erwies es sich als aufschlussreich, wie einzelne Künstlerpositionen in allen drei Studien aus verschiedenen theoretischen Perspektiven beleuchtet wurden.

 
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