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Prix Ars Electronica
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Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Statement der Jury für Computermusik

Die Computermusik blickt inzwischen auf eine Geschichte von etwa dreieinhalb Jahrzehnten zurück und könnte deshalb als "erwachsen" betrachtet werden. Die Ergebnisse, die dieser Reifungsprozeß jetzt hervorgebracht hat, stellen keine einheitliche Sammlung von Vorgehensweisen dar, die durchgehende Zustimmung finden, und schon gar keine durchgehend akzeptierte Ästhetik.

Was sich uns jetzt präsentiert, ist ein Übermaß an kreativer und phantasievoller Anwendungen der Computertechnologie in verschiedenen Bereichen, z. B. bei der Synthese von Klang und Instrument, bei der Modifizierung von Klängen zu neuen Gebilden, bei der Entwicklung neuer formgenerierender Konzepte, die durch Computerbearbeitung ermöglicht werden, oder bei der computergestützten Präsentation von Musik, vor allem was die Gestaltung der räumlichen Umgebung betrifft. Der Begriff "Computermusik" scheint zu wenig aussagekräftig, um die vielen Gebiete abzudecken, die seit der ursprünglichen Verwendung des Begriffs entstanden sind (und man konnte sich am Anfang sicherlich kaum vorstellen, welche Bandweite der Begriff "Computermusik" noch abzudecken haben würde!) Neben geläufigen Beispielen wie der Tonbandmusik könnten wir anführen: Tonband mit akustischen Instrumenten, Live-Performance mit computergestützten elektronischen Instrumenten, interaktives und reaktives Computing in Echtzeit als Teil einer Performance, von Computern gesteuerte, nicht-elektronische "mechanische" Instrumente und Werke, die für einen Kontext außerhalb der Konzertpräsentation konzipiert werden, wie z. B. Klanginstallationen und Klangskulpturen. Gerade diese Vielfalt macht die Reife der Computermusik aus.

Im Kontext des Prix Ars Electronica möchte man neue Tendenzen aufsparen und durch die Anerkennungen explizit würdigen. Doch in diesem Jahr war es der Musikjury unmöglich, dieses Ziel angesichts der vorliegenden Einreichungen zu erreichen. Jetzt, wo die Computermusik erwachsen ist, treten einige der weniger vorteilhaften Aspekte des mittleren Alters in den Vordergrund. Zum eigenen Wohle sollte sie vielleicht wieder etwas
schlanker und fitter werden! Die Ideen der Computermusik und deren Ausdrucksweisen treten gewissermagen auf der Stelle. Stück für Stück begegnen uns immer wieder die gleichen Manierismen, wenn die Stücke von verschiedenen Komponisten stammen - so daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, ein Virus des Klischeehaften sei ausgebrochen und nehme womöglich epidemische Ausmaße an.

Besonders enttäuschend ist, daß sich offenbar auch schon die jüngere Generation von Komponisten angesteckt hat. Mit allem Verständnis dafür, daß sich Studenten oder junge professionelle Komponi-sten die mittlerweile etablierte Praxis als Vorbild nehmen - diese Vorgehensweise ist ein durchaus wertvoller Bestandteil des Lernprozesses - ist es jedoch befremdend zu sehen, wie groß die Bereitschaft der jüngeren Leute ist, sich vor den aufgebauten lkonen mittleren Alters zu verbeugen. Eine etwas bilderstürmerische Haltung wäre eine größere Respektsbezeugung!

Die Musikjury fand ein oder zwei bilderstürmerische Beispiele, die lebhafte Debatten auslösten, uns jedoch schließlich doch enttäuschten, da ein neues konzeptionelles Denken sich nicht in hoher Qualität niederschlug. Die Jury ist überzeugt, daß bessere Beispiele existieren, und hofft, diese bei einer anderen Gelegenheit anerkennen zu kdnnen. Eine Tendenz, die ausführlich diskutiert wurde, ist das Aufkommen "untrainierter Musik". Damit ist die Art von Musik gemeint, für deren Komposition und Aufführung jene traditionellen Fähigkeiten, die durch formale Ausbildung auf diesen Gebieten erworben werden, keine Vorbedingung mehr sind. Diese theoretische Möglichkeit entstand Anfang der 8oer Jahre durch die Entwicklung von MIDI und dem Mikrocomputer. Sie wird seither zunehmend in demselben Maß umgesetzt (besonders auf dem Gebiet der Pop-musik), in dem Stärke, Leistungsfähigkeit und Flexi-bilität der Computer und der elektroakustischen Musikgeräte weiterentwickelt werden. Um es präzis zu formulieren: Die Musikjury würde einen größeren Anteil an Einreichungen begrüßen, die mit anderen Präsentationsmodi als dem Konzert/Vorführungsparadigma experimentieren,
- die hochqualitative Beispiele eines breiteren ästhetischen Spektrums aufweisen;
- die von Komponistinnen und KlangkünstlerInnen kommen, die nicht in Verbindung mit Institutionen stehen;
- die von Komponistinnen kommen, denn die sind bei den derzeitigen Einreichungen in beunruhigendem Maße unterrepräsentiert.
Die Jury ist außerdem zu der Ansicht gekommen, daß es sinnvoll wäre, die Grenze der Kategorie "Computermusik" dahingehend zu erweitern, daß auch andere Artefakte - nicht nur Kompositionen -eingereicht werden könnten - z. B. neue und originelle technologiegestützte Strategien zur Förderung musikalischer Tätigkeit.

Was schließlich die Preise an sich betrifft, so spiegelt die Auswahl der Preisträger zumindest einige der oben genannten Anliegen wider. Zwei der Hauptpreise werden Komponisten zuerkannt, die in privaten Studios und nicht im Rahmen großer Institutionen arbeiten, und zwei von den drei Hauptpreisträgem haben die Soziologie des elektroakustischen Konzerts entweder neu erfunden oder zugunsten einer alternativen Präsentation verworfen. Alle ausgewählten Werke zeigen ein hohes Maß an
Können, Phantasie und künstlerischer lntegrität.

Einstimmig entschied sich die Musikjury, die Goldene Nica an Robert Normandeau für seine akusmatische Komposition "Le Renard et la Rose" zu vergeben. Das Werk zeichnet sich durch die nur scheinbar einfache Ausführung aus; es ist unmittelbar ansprechend, mit einem stark narrativen Element, das nicht nur durch den Text zum Ausdruck gebracht wird, sondern auch durch die durchgehend bearbeiteten oder dekonstruierten Formen, sowie durch die umgebenden und begleitenden Computer"Instrumente". Die Verwendung der Periodizität als musikalische Quelle ist faszinierend. Das Werk ist Ausdruck der Bemühung, sämtliche konzeptionellen musikalischen Aspekte aus der dem digitalen Medium inhärenten Natur zu entwickeln.
Beeindruckt war die Jury auch davon, mit welcher Sorgfalt der Komponist das Werk in die grundsätzliche kon-zeptionelle Gestaltung des Performance-Raums integriert hat. Die reichhaltige Klangwelt bietet das, was der Komponist ein "Kino für das Ohr" nennt: Zweifellos wird dies - wie auch der narrative Aspekt des Werkes - dadurch unterstützt, daß das Werk ursprünglich auf ein Hörspiel mit demselben Thema und denselben musikalischen Quellen zurückgeht.

Eine der zwei Auszeichnungen wird zufälligerweise an ein Radioprogramm mit dem Titel " Media Survival Kit" vergeben. Dieses Werk ist eine lyrische Satire von James Dashow mit einem Text von Bruno Ballardini. Trotz der unterschiedlichen Komponenten - Schauspieler, Stimmen, Sopran, ein lnstrumentalensemble und ein pfeifender Mensch sowie unzählige computerbearbeitete und -generierte Klänge -erscheint dieses äußerst
unterhaltsame Werk als eine surreale Vision darüber, wie der Computer, sein Bildschirm und das lntemet in unser Leben und unsere Gedanken eindringen. Die Wirklichkeit der alltäglichen persönlichen Existenz wird nach und nach durch die verführerischen, doch richtigen Freuden der virtuellen Welt ersetzt, bis zu dem Punkt, wo alles, selbst die Wirklichkeit persönlicher Existenz, unsicher wird. Aber was uns betrifft, sind wir wirklich da?" Solche gefährlich tiefe und uralte philosophische Fragen werden mit Leichtigkeit und angenehmem Witz und Humor behandelt. Aus musi-kalischer Sicht wird der gesprochene Text mit den synthetischen und bearbeiteten Elementen sehr fein-sinnig kontrapunktiert, was nur den kreativsten Komponisten gelingt.

Die zweite Auszeichnung geht an Regis Renouard Lariviere für sein Werk "Futaie" ("Hochwald") für ein Lautsprecherensembie. Dieses Werk ist ebenfalls reich an Anspielungen, und die außermusikalische Symbologie bezieht sich auf authentische Weise auf das Musikmaterial und die Entfaltung der Komposition. In "Futaie" werden die Klangfarbe und das rhythmische und dynamische Material bewußt sehr eingegrenzt.
Es stellt die herkömmlichen Vorstellungen vom Ablauf musikalischer Zeit in Frage und lenkt die Aufmerksamkeit auf eine besondere zeitliche Dramaturgie, die nicht zuletzt durch die sorgfältige Behandlung sowohl des Raums zwischen den Tönen als auch der Töne selbst entsteht. Wie schon oben bemerkt, gilt die Vergabe einer "Anerkennung" weniger der Innovation, sondern mehr der Würdigung eines Werkes für seine inhärente Qualität oder besonderen Zugänge, die in dieser vielfältigen Welt der Computermusik gefunden werden können.

 
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