www.aec.at  
 
 
 

Prix Ars Electronica
Archive

Prix-Jury

 
 
Veranstalter
ORF Oberösterreich

Die eroberte Fahne ? Vorwärts mit dem Lärm!

Naut Humon


Die Musique Concrète kann auf eine fünfzigjährige Tradition zurückblicken. Doch nach dem, was die Jury dieses Jahr beim Durchforsten der Mehrheit der Werke als klangliche Ausbeute zu hören bekam, stellt sich die Frage, ob wir uns in der Zeit vorwärts oder rückwärts bewegen.

Sind die jüngsten Appelle nach einem breiteren Spektrum repräsentativer digital unterstützter Werke weitgehend ungehört verhallt? Obwohl ein echtes Interesse seitens des Prix Ars Electronica vorhanden zu sein scheint, seine Tore einem breiteren Spektrum musikalischer Stile und Praktiken zu öffnen, dürfte die Botschaft nicht ganz durch die stählernen Tore der Definition "Computermusik" dringen.

Der Titel dieser Kategorie mag ein wenig unter dem zeitgenössischen Mißverständnis der Geschichte des Terminus selbst leiden, und es ist keineswegs klar, was er für interessierte Außenstehende bedeutet, die eine Teilnahme an einem so betitelten Wettbewerb in Erwägung ziehen.

Trotz aller Bemühungen, die Benennung aktiv neu zu definieren, scheint es eine - durchaus verständliche - Abneigung seitens einiger potentieller Einreicher dagegen zu geben, verwandte Begriffe einzusetzen, um die in der verzwickten Geschichte der "Neuerfindung" der Computermusik enthaltenen Feinheiten zu entziffern.

Unser Handicap scheint das überholte Verständnis eines aus der Mode gekommenen, überholten Begriffs der sechziger Jahre zu sein. Die wichtigeren Autoren und Kunstkritiker bezeichnen das Elektronische, Experimentelle oder Abstrakte selten mit dem Epitheton "Computer-". Digital geschaffene Phänomene sind heute nichts Außergewöhnliches mehr, und so helfen die Bemühungen, diese Kreationen als "Cyber-Kunst" oder "interaktiv" zu bezeichnen, mit, auch die Wahrnehmung der sie schaffenden Künstler zu verändern.

In der Computermusik hat es heuer eine große Zahl von Einreichungen gegeben, und ungeachtet der Appelle der letzten Jahre war die Mehrzahl von ihnen wiederum "Werke für Tonband" - vorwiegend männlich-akademischer Herkunft mit nur wenigen Ausnahmen hinsichtlich Rasse und Geschlecht. Nicht, daß wir eine politisch korrekte Widerspiegelung demographischer Verhältnisse erwartet hätten, aber mehr Material aus dem Bereich der Mixed- und Multimedia-Anwendungen, Installationen, interaktive und Live-Performance-Werke wäre uns willkommen gewesen.

Eine Interpretation der Einreichungsstatistiken ist problematisch - entweder reflektieren die eingereichten Werke die Anzahl der Praktiker in den verschiedenen Unterabteilungen der Computermusik (was in Anbetracht der Tatsache, daß das Musizieren mit Technologie heute keineswegs mehr ausschließlich auf den akademischen Bereich beschränkt ist, wohl so nicht stimmen kann), oder jene Künstler, die in "nicht-akademischen" Bereichen tätig sind, haben nicht eingereicht (entweder weil sie nichts vom Prix Ars Electronica wissen oder weil sie glauben, das sei nichts für sie).

Wie dem auch sei - der Wunsch nach einer Verbreiterung des musikalischen Horizonts des Wettbewerbs und die Beurteilung der eingereichten Werke haben nichts miteinander zu tun - als Jury konnten wir nur bewerten, was eingereicht wurde, und nicht, was wir vielleicht gerne an Einreichungen gesehen hätten. Eine Jury sollte sich auch nicht für Alibiaktionen hergeben und ein Werk nur deswegen auszeichnen, weil es ein Beispiel einer unterrepräsentierten Kategorie ist. Es muß ein überzeugendes, handwerklich sauberes Werk sein, um einen Preis zu gewinnen. Und um neue, kreative Prozesse zu fördern, brauchen wir mehr Beispiele von Qualität, die wir herausstreichen können.

Einige werden sich fragen, warum die vorliegende Auswahl sich eher von der Erfahrung der Musik als lebendigem, interaktivem Moment in der Zeit wegzubewegen scheint. Obwohl die Technologie es uns ermöglicht hat, unsere musikalischen Erfahrungen zu erweitern, scheint sie sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückzuziehen, indem sie das Überleben eines bestimmten Genres vermittels eines effizienten und sehr geschickten, aber häufig allzu vorhersehbaren Cloning-Prozesses sicherstellt.

Wie aber soll man andererseits Musik mit einem Vokabular beurteilen, das klangliche Komplexität und strukturelle Klanglichkeit besser zu beschreiben weiß als rhythmische Artikulation, Erforschung des Zeitlichen, Interaktivität und raumabhängige Installationen? Als Beurteilende würden wir gerne die Möglichkeit sicherstellen, Arbeiten aus stärker kontrastierenden musikalischen Feldern auf den Tisch zu bekommen, die für die Ideologie der etablierten musikalischen Konzepte eine neue Herausforderung darstellen.

Als Anwender wiederum müssen wir innovative Methoden der Musikpräsentation anstreben, ohne Rücksicht auf Risiken, auf Ästhetik, auf Technologie, die die Medien wie die Zuhörer herausfordern, die sich dem Akademismus entgegenstellen (nicht nur den Musikakademien, Kritikern oder den Pseudo-Marktgesetzen, sondern jedweder Form von Konvention und Einfachheit), die Theorie und Praxis synchronisieren und sich nicht mit einer noch so guten Idee zufrieden geben, sondern entsprechende handwerkliche Fähigkeiten in der Umsetzung entwickeln.

Wir müssen auch die Grenzen der Wahrnehmung akzeptieren, die das Medium CD bzw. Band uns auferlegt und ungeachtet unserer persönlichen Neigungen und der hier angeführten Beschwerden erkennen, daß die typische Architektur im elektroakustischen Bereich sich langsam hin zu neuen Paradigmen entwickeln wird. Insgesamt sind wir zu einer würdigen Liste außergewöhnlicher Siegerwerke gelangt, wenn auch unsere Aufgabe bisweilen dadurch problematischer wurde, daß wir uns der Unterrepräsentation einiger Bereiche bewußt waren und wir manchmal in Versuchung gerieten, dieses Ungleichgewicht zu überkompensieren. Wir mußten bewußt darauf achten, einige Werke nicht deswegen auszusondern, weil sie zu einem "überrepräsentierten" Genre gehörten (besonders die Werke für Tonband), und wir wollen hier auch festhalten, daß - aus welchem Grunde immer - eine signifikante Anzahl hochqualitativer Bandwerke eingereicht wurde.

Hingewiesen werden muß auch auf die Tatsache, daß die beiden Auszeichnungen für Aquiles Pantaleão und Hans Tutschku zwar nominell an "Bandwerke" gehen, diese aber aus deutlich unterschiedlichen Traditionen kommen und beinahe gegensätzliche Ansätze zur Organisation von Klangmaterial repräsentieren.

Die detaillierte Ausführung von Pantaleaos "Three Inconspicuous Settings" verschleiert die Herkunft der Klangquellen aus unserer Umwelt fast völlig und führt diese Maskerade auf ein erstaunlich hohes Niveau.

"extremités lointaines" von Tutschku verwandelt religiöse und urbane Klänge aus Südostasien in ein mehr als überzeugendes dramatisches Tableau.

Die Goldene Nica geht an Peter Bosch und Simone Simons für ihre einfallsreiche Klanginstallation "Krachtgever" ("Kraftgeber"). Diese phantastische Konstruktion besteht aus mehreren hohen Stapeln von Holzkisten, die durch Schwingmotoren, die an jedem der Stapel befestigt sind, über Computer
angesteuert werden können. Je nachdem, welche Motoren und Frequenzen
gewählt werden, kann jede der Kisten samt ihrem Inhalt aus unterschiedlichen Materialien mechanisch "rasseln", allein oder gemeinsam mit anderen, wobei außergewöhnlich komplexe unverstärkte Klang- und Resonanzwellen entstehen, die in Stärke, Ton und Kadenz variieren.

Es ist kein Zufall, daß angesichts all der hochgezüchteten Audiotechnologie, die von den dominierenden Kandidaten eingesetzt wird, ein simpler Haufen gebrauchter Kisten voller Steine, angetrieben von kleinen Motoren, gesteuert über einen Atari 1040, bis in diese Höhen der Anerkennung vorstößt.

Die meisten der Anerkennungen (wie weiter unten beschreiben) überspannen einen breiten Querschnitt von Charakter und Konzept und unterscheiden sich sichtlich im Bemühen um angewandte Dynamik in Einfachheit und Form. Von den verschmelzenden Instrumentalmassen Joshua Finebergs "Empreintes" über die ausgearbeiteten rhythmischen Landschaften Luigi Ceccarellis "De zarb à daf" bis hin zu den Echtzeit-Videoumsetzungen bei Joseph Hydes "Zoetrope" gab es faszinierende Momente reinster Schönheit.

Eine eigene Note bringt Gordon Monahans automatische Saitenskulptur "Machine Matrix" ebenso ein wie David Behrmans visualistische Reflexionen über Trinkgläser in "QS/RL - Penlight".

Maggie Payne und Bret Battey demonstrierten überzeugende klanggetriebene videographische Impressionen "fremder" Formationen oder psychologisch-spiritueller Archetypen. Und schließlich fehlt es auch im breiten Feld der elektroakustischen Bandwerke nicht an einer Fülle von beeindruckenden Werken - Ambrose Field, Hildegarde Westerkamp, Natasha Barrett und Adrian Moore beweisen, daß dieses kontroversielle Feld noch immer auf seinem Zenit steht.

Wo also stehen diese unterschiedlichen klanglichen Indikatoren heute? Jenseits der augenscheinlich einsamen Begrenzungen der Nachkommen der Musique Concrète in der Elektro-Akusmatik liegen noch erstaunliche Welten einzigartiger digitaler Innovation. Und obwohl der Jury Einreichungen aus diesen anderen aufregenden Bereichen gefehlt haben, soll hier und jetzt in aller Deutlichkeit festgehalten werden, daß in zukünftigen Jahren die Cyber-Sound-Abteilung des Prix Ars Electronica verstärkt nach der Einbindung all jener suchen wird, die in jenem grenzüberschreitenden Bereich arbeiten, der analog-digitale Hybride erforscht - auch nach Projekten der Popkultur.

Wir hoffen, daß diese Bemühungen nach und nach die gegenwärtige Vorherrschaft der akusmatischen Kompositionen durchbrechen und das Teilnehmerfeld ausgleichen werden. Die demographische Zusammensetzung der Jury soll auch weiterhin unterschiedliches Bewußtsein und Erfahrung einbinden und diese in die Bewertung noch breiterer und verschiedenartigerer Genres und internationaler digital-musikalischer Formationen einfließen lassen.

Das von einer solchen Suche beackerte Terrain umfaßt eine Vielzahl von Modi - von den radikalen Underground-Bereichen bis hin zu den provokativen Abteilungen der vom Tanz beeinflußten Wellen. All diese mutanten Nachkommen von Techno, Hip Hop, R&B, Jungle, Ambient, Jazz, exotischer, globaler, klassischer Musik, von Noise und Big Beat usw. haben ihr Rock-Erbe fast aufgebraucht. Eine neuartige Erfindung der Computermanipulation der 90er Jahre stellt "Drum & Bass" dar. Hier werden Rhythmusschleifen multipliziert, in Millionen Einzelteile zerhackt und all deren Variationen zu bisweilen eigenartigen und ungewohnten rhythmische Mustern zusammengefügt, um übersteigerte, nervöse Klangteppiche darzustellen, die über alles hinausgehen, was ein "menschlicher" Schlagzeuger erdulden könnte.

Seltsamerweise gibt es auch Menschen, die versuchen, ihre maschinengeborenen Gegenstücke zu imitieren oder mit ihnen Schritt zu halten - klar ist jedenfalls, daß ohne die schnelle Rechenleistung einer internen CPU diese Art Musik mit rein analogen Sequencern viel schwerer zu erzielen gewesen wäre. Animierte synergistische Werke aus Live-Klängen und Bildsteuerung können die nächste Grenze sein, die es bei der Entwicklung eines flüssigen neukodierten musikalischen Dialektes zu überwinden gilt.

Forschung und Entwicklung der Mechanik dieses im Werden begriffenen Dialogs hat bereits einige Hardware/Software-Interfaces hervorgebracht, die eine intuitive funktionale Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und seinen auditiv-visuellen Projektionen herstellen. Diese Art virtueller Zeichensetzung ermöglicht die Physikalisierung einer auditiven Form, die direkt aus taktilen gestischen Bewegungen oder kinematischen "Foley-Phrasierungen" abgeleitet wird.

Drew Hemment führt in seinen Anmerkungen zu einer audiovisuellen Choreographie aus: "Wenn 'Audiovision' die Einstimmung der Sinne durch Verschmelzung getrennter Medien bedeutet, dann könnte etwa 'Sonovision' das Einbringen eines klanglichen Elements ins Bild und analog dazu 'Sonomotion' die Erweiterung des Gehörsinns in die Sphäre der Bewegung bedeuten - 'Kinesonics', sozusagen. Wichtig für den 'auditiven Sinn' ist dabei ein unmittelbarer Zugriff statt einer narrativen Progression oder einer perspektivischen Tiefe. Klanglichkeit wird als texturelle oder rhythmisierte Oberfläche aufgezeichnet, bei der Bild und Bewegung zerschnitten und wiederholt werden."

Im Kern dieser erfrischenden Sensibilität liegt ein in Echtzeit ausgeführter "bildhauerischer" Prozeß, der die geschichteten Videoströme dekonstruiert und entsprechend seiner auditiven "Zündung" neu arrangiert, und dieser neue Organismus wird in völlig anderer Weise dargestellt als mit der bisherigen
Multitrack-Suite aus Maus, Sequencer und digitalem Audio.

Im Zuge der Entwicklung derartiger Methoden werden substantielle audiovisuelle Ausdrucksformen verschiedene Strömungen zutage treten lassen, für die Gruppen wie Granular Synthesis, Hexstatic, Body Coders, EBN, STC, Mark Van Hoen, Walter Fabeck, Audio Rom und andere bereits erfolgreiche Pionierarbeit geleistet haben.

 
© Ars Electronica Linz GmbH, info@aec.at