Da die Abschreckungspolitik der EU seit den arabischen Aufständen die Überquerung des Mittelmeers nicht eindämmen konnte, hat die italienische Regierung – in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Regierungen und Behörden – eine zweigleisige Strategie zur Abschottung des zentralen Mittelmeers entwickelt: einerseits durch die Kriminalisierung und Einschränkung der Rettungsaktivitäten der NGOs, die eingegriffen haben, um den Mangel an staatlichen Rettungsaktionen auszugleichen, und andererseits durch die Verstärkung der Zusammenarbeit mit den libyschen Behörden und Milizen, um Abfahrten zu verhindern. Dadurch werden MigrantInnen an der Südküste des Mittelmeers ohne direkte Beteiligung der italienischen oder der EU-Behörden physisch eingeschlossen. Diese inoffizielle Operation, die im Laufe des Jahres 2017 dramatisch eskalierte, hat Forensic Oceanography Mare Clausum („geschlossenes Meer“ auf Lateinisch) genannt.
Forensic Oceanography und Forensic Architecture haben zwei Fälle untersucht, die im Mittelpunkt dieser laufenden Mare Clausum-Forschung stehen: The Iuventa und Sea Watch vs. Libyan Coast Guard, die jeweils eine der Dimensionen dieser Politik betreffen, bei der MigrantInnen in ein Land zurückgebracht werden, in dem ihr Leben gefährdet ist und ihre Menschenrechte systematisch verletzt werden. Diese Untersuchungen wurden durch eine exponentielle Zunahme der Videodokumentation der verschiedenen beteiligten Akteure ermöglicht, die eine einzigartige Form der 3-D-Modellierung von Vorfällen ermöglicht, die zusammen mit Forensic Architecture entwickelt wurde.
The Iuventa, June 18, 2017
Seit Ende 2016, bis zum Sommer 2017, zielt eine wachsende Kampagne der Delegitimierung und Kriminalisierung systematisch auf NGOs, die sich mit der Suche und Rettung beschäftigen. Am 2. August wurde das Schiff Iuventa der deutschen NGO Jugend Rettet von der italienischen Justiz unter dem Verdacht der „Hilfe zur illegalen Migration“ und der Kollusion mit Schmugglern bei drei verschiedenen Rettungsaktionen beschlagnahmt: die erste am 10. September 2016, die zweite und die dritte am 18. Juni 2017. Die Beschlagnahmung erfolgte nur wenige Tage, nachdem sich die NGO zusammen mit einigen anderen geweigert hatte, einen „Verhaltenskodex“ zu unterzeichnen, der ihre Aktivitäten gefährlich eingeschränkt hätte. Das hier vorgestellte Video bietet eine Gegenuntersuchung der drei Episoden zu jener der Autoritäten und eine Widerlegung ihrer Vorwürfe.
The SeaWatch vs Libyan Coast Guard Case, November 6, 2017
Am 6. November 2017 nahmen die Rettungs-NGO Sea Watch (SW) und ein Patrouillenschiff der libyschen Küstenwache (LYCG) gleichzeitig Kurs auf ein Migrantenboot in Seenot. Das Boot, das einige Stunden zuvor von Tripolis abgefahren war, beförderte zwischen 130 und 150 Passagiere. Die Folge war eine konfrontative Rettungsaktion, während jener SW schließlich 59 Passagiere retten und in Sicherheit bringen konnte. Jedoch starben mindestens 20 Menschen vor oder im Zuge dieser Ereignisse, während 47 Passagiere schließlich nach Libyen zurückgezogen wurden, wo mehrere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen wurden – darunter Verhaftungen, Schläge und der Verkauf an Entführer, die sie folterten, um von den Familien Lösegeld zu erpressen. Die Entwicklung dieses Vorfalls wurde in einem Video von Forensic Oceanography in Zusammenarbeit mit Forensic Architecture rekonstruiert.
Um die Umstände dieses speziellen Vorfalls zu rekonstruieren, hat Forensic Oceanography jedoch einen detaillierten schriftlichen Bericht erstellt, der argumentiert, dass es sowohl notwendig ist, die Politik zu verstehen, die das Verhalten der beteiligten Akteure geprägt hat, als auch die Muster der Praktiken, von denen dieses Ereignis nur eine bestimmte Ausprägung war. Die LYCG hat sich vor Ort mit dem Maritime Rescue Coordination Center der italienischen Küstenwache in Verbindung gesetzt, welches sie über die Anwesenheit des in Seenot geratenen Bootes informierte. Die Ras Jadir, das Patrouillenschiff der LYCG, das leichtsinniges Verhalten an den Tag legte und damit zum Tod mehrerer Passagiere beitrug, war eines der vier Patrouillenboote, die Italien der LYCG am 15. Mai 2017 in Anwesenheit des italienischen Innenministers gespendet hatte. An Bord dieses Schiffes waren am Tag der Ereignisse 8 der 13 Besatzungsmitglieder von der EU Schmuggelbekämpfungsoperation EUNAVFOR MED geschult worden.
Der Bericht Mare Clausum geht davon aus, dass dieser Vorfall paradigmatisch für die neuen, drastischen Maßnahmen ist, die Italien und die EU zur Eindämmung der Migration über das zentrale Mittelmeer ergriffen haben. Diese mehrstufige Politik der Eindämmung beruht auf einer zweigleisigen Strategie, die einerseits darauf abzielt, NGO aus dem zentralen Mittelmeerraum zu delegitimieren, zu kriminalisieren und letztendlich zu verdrängen, und andererseits die LYCG materiell, technisch und politisch zu unterstützen, damit sie Migranten besser abfangen und nach Libyen zurück transportieren können. Diese nicht angemeldete Operation zur Abschottung des zentralen Mittelmeers bezeichnen wir als „Mare Clausum“.
Während im Bericht „Blaming the Rescuers“, der im Juni 2017 veröffentlicht wurde, die Forensic Oceanography die Ausrichtung von Rettungs-NGOs detailliert analysiert hat, konzentriert sich der Bericht „Mare Clausum“ stattdessen auf den zweiten Aspekt dieser Strategie. Der Bericht zeigt, dass Italien und die EU durch politische Vereinbarungen und vielfältige Unterstützung des LYCG sowohl die strategische als auch die operative Kontrolle über das LYCG übernommen haben. Auf diese Weise wurde die LYCG dazu veranlasst, „Refoulement by Proxy“ im Namen Italiens und der EU zu betreiben, was gegen einen der Eckpfeiler des internationalen Flüchtlingsrechts, das Prinzip „Non-Refoulement“, verstößt.
Credits:
Investigation by Forensic Oceanography and Forensic Architecture
Video reconstruction by Forensic Oceanography and Forensic Architecture
Report by Forensic Oceanography
Realized with the support of Borderline Europe, the WatchTheMed platform and Transmediale