xxero ist gut. quasi als wäre "xero" schwanger. oder gar verliebt.[1]
xxero - zugleich kollaborative, MOO-basierte virtuelle Umgebung und Plattform für Meetings und Events im wirklichen Leben - wurde von einem internationalen Frauennetzwerk im Rahmen der Faces-Mailing-Liste [2] entwickelt. Bei einer Live-Zusammenkunft konzipierten die Teilnehmerinnen dieser Liste das Projekt als Instrument zur Untersuchung der vielen verschiedenen Perspektiven neuer Technologien und deren Auswirkungen auf unser Leben. Auf Grund des Facettenreichtums von xxero können sich die Teilnehmerinnen in einen lebendigen Diskurs ein- bzw. wieder ausloggen, den sie zugleich miterschaffen und kritisieren: einen Diskurs, der Projekt, Kontext und sozialer Raum in einem ist. Ereignisse im MOO und im wirklichen Leben bilden integrale Bestandteile eines Ganzen - im MOO wird ein Bereich geschaffen, in dem die Teilnehmerinnen Paläste aus Inhalten bauen und Traumwelten erzeugen, in denen sie alle Höhen und Tiefen der Technik ausloten können. Die Real-Life-Events umfassen Vorträge, Workshops und einen Stammtisch im Café, wo Informationen im privaten bzw. öffentlichen Rahmen mitgeteilt und diskutiert werden. Die realen und virtuellen Bestandteile des Projekts ergänzen einander: durch Mitteilung und Austausch auf unserem eigenen Marktplatz verbinden sich Inhalt und Medium zu einem komplexen Gewebe.
Parallel zum Aufbau des MOO sind im Jahr 2001 eine Reihe von *xxero*-"Docks" bei Medienkunst-Festivals in ganz Europa geplant. Im Jahr 2002 soll xxero in Amerika und Australien andocken. Die "Docks" sind als Plattform für Frauen gedacht, die ihr Wissen und Können mit anderen teilen und dabei xxero "ins Leben rufen" wollen. So bieten die *xxero*-Docks kommender Festivals Workshop-Reihen zum Thema MOO-Aufbau und ?Entwicklung, Technoskills, Vorträge zu im MOO behandelten Themen, akustische, visuelle und performative *xxero*-Darstellungen, Partys, auf denen die Mitschaffenden sich persönlich kennen lernen können, und öffentliche Präsentationen. Als MOO-basiertes Projekt impliziert *xxero*, dass Workshops und Wissensvermittlung nicht nur neueste Anwendungen und Techniken behandeln, sondern auch "Lücken füllen" und zentrale Aspekte der Verwendung der jeweiligen Technologie hervorheben. Angesichts des rasanten Tempos neuer Entwicklungen ist es an sich schon problematisch, immer am neuesten Wissensstand zu bleiben und die neuesten Techniken anzuwenden. Durch die Beschränkung auf das Wesentliche und die Verwendung einer aus der Zeit vor der Einführung des Web stammenden Technik bietet xxero eine innovative Plattform zur Erkundung der Grundlagen jener Werkzeuge, die wir alle für selbstverständlich halten. Ausgehend von einem kritischen Ansatz wird bei Vorträgen, Workshops und Diskussionen untersucht, welche politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen sich daraus ergeben, für welche Technologien wir uns im Alltag entscheiden.
ein ding, das dringend einen namen braucht
Nachdem die Tatsache, dass Frauen bei themenbezogenen Festivals, Konferenzen und Events offensichtlich selten als Vortragende bzw. Präsentatoren auftreten, im Dezember 2000 auf der Faces-Liste ausgiebig diskutiert wurde, verschrieben sich die im Februar 2001 bei einem Meeting in Berlin versammelten Faces-Teilnehmerinnen dem Konzept einer textbasierten, kollaborativen Arbeitsumgebung. Die Frage nach dem passenden Namen dieser Umgebung löste auf der Mailing-Liste eine hitzige Diskussion aus, die in den darauf folgenden Wochen nahezu alarmierende Ausmaße annahm und somit beweist, wie intensiv und weit reichend die Beschäftigung mit den grundlegenden Fragen der aktuellen und potenziellen Rolle des Feminismus ist. Unzählige Bilder - von organischen Formen zu digitalen Bezügen zu Science-fiction-Figuren - wurden als Namensgeber für "dieses frei schwebende Ding" vorgeschlagen, wurden rasch und freudig begrüßt und in der Folge entschieden oder zaudernd zurückgewiesen. Mit welchen Bildern identifizieren sich die Frauen von heute? Diese Frage ist genau so komplex wie die umfassendere Frage nach der "weiblichen Identität" im Allgemeinen - eine Frage, die in den letzten zehn Jahren in Verbindung mit der Queer Theory und oft auch mit einer generellen Ablehnung der Dichotomie von "weiblich/männlich"[3] die Gemüter erhitzt hat.
Schließlich erhielt das "frei schwebende Ding, das bei Festivals andockt", diese neue, textbasierte, kollaborative, virtuelle Arbeitsumgebung, im März 2001 den Namen "*xxero*". Dieser Name steht offensichtlich in engem Bezug zu "zero", also "Null", und impliziert somit auch das Wechselspiel von "0" und "1" in der digitalen Welt. Weiters werden subtilere Bezüge zu Konnotationen des Frauseins im Laufe der Geschichte hergestellt. Ebenso große Bedeutung hat die Schreibweise mit Doppel-x. Um mit Nancy Buchanan, von der dieser Vorschlag ursprünglich stammt, zu sprechen: "Zum Teil wurde ich durch eine Gruppe von Künstlerinnen inspiriert, an deren Formation ich in den 70er-Jahren beteiligt war - Faith [Wilding] wird sich natürlich an Double X erinnern, weil wir ihr Buch veröffentlicht haben. Damals assoziierten wir mit Double X Chromosomen und die Labrys, die Doppelaxt der Amazonen. Das Doppel-x mit dem Wort "zero" zu verbinden, macht es irgendwie zeitgemäßer ..."[4]
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xxero ging am 10. März 2001 über den Linzer Kunstserver online. Für die technische und administrative Koordination zeichnete Ushi Reiter verantwortlich, unter deren Leitung eine anfangs kleine Gruppe ernannter MOO-Programmiererinnen, wie z.B. Florence Ormezzo, Tamiko Thiel, Marlena Corcoran und Vali Djordjevic, von denen einige entsprechendes Vorwissen mitbrachten, während andere sich auf eine neue Lernerfahrung einließen, sofort mit dem Aufbau begann. Die Aufbau- und Planungsarbeiten widmeten sich bald verstärkt der Erforschung der Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis und der verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten für Medien-Tools. MOOs bzw. MUDs sind bei weitem keine neuen Anwendungsformen des Internet; vielmehr gehören sie zu den ersten[5] und meistuntersuchten Internet-Tools, insbesondere im Zusammenhang mit Genderfragen.[6] Dennoch sind gerade diese Tools in vielen Fällen in Vergessenheit geraten. Einige Faces-Teilnehmerinnen können die dabei verwendeten Befehle noch aus den Tiefen ihrer Erinnerung hervorholen, für andere sind sie völliges Neuland. Die Benutzung von MOOs ist weitaus komplizierter als die Verwendung des auf dem benutzerfreundlichen Point-and-Click-Prinzip beruhenden Web, das fortwährend verbessert wird, um den Konsumenten auf immer einfachere Weise zu unterhalten. Somit weist xxero zwar eine höhere Einstiegsschwelle auf, doch die Tatsache, dass es überhaupt funktioniert, ja sogar blüht und gedeiht, beweist, dass die Teilnehmenden dafür mit umso stärkerem Engagement bei der Sache sind.
Dieser technische Teilaspekt von xxero hatte eine unerwartete Nebenwirkung: Die konkreten Arbeitsbedingungen sind dadurch immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Die Frage, wann, wo und wie Frauen online sind, hat neue Bedeutung erlangt, da dies ihre Möglichkeiten zur Teilnahme an xxero beeinflusst. Beim ersten Treffen in Berlin trat Tamiko Thiel mit Vehemenz für die Verwendung eines strikt textbasierten MOOs ein, da ihrer Erfahrung nach 3D-Grafikumgebungen mit hoher Bandbreite oft nur beschränkt zugänglich sind. Sicherheitsschranken wie Firewalls u. Ä., Arbeitszeitregelungen und Dienstverpflichtungen von Frauen, die hauptsächlich im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit über einen Internetzugang verfügen, geteilte Arbeitsplätze und die damit verbundenen Unterbrechungen, die Online-Kosten, der Zeitfaktor sowie die in manchen Wohnsituationen durch kleine oder größere MitbewohnerInnen verursachten Ablenkungen und anderes mehr sind in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz. Daher ist das ursprüngliche Konzept einer virtuellen kollaborativen Arbeitsumgebung inzwischen viel stärker in einen Real-Life-Kontext eingebettet. xxero bietet somit eine größere Bandbreite an Kommunikationsformen, wobei sich auch das kritische Bewusstsein für deren konkrete Anwendung verstärkt hat.
@go Open Faces
Die internationale Faces-Mailing-Liste bildet das Rückgrat einer weltumspannenden Gemeinde von im Medienbereich tätigen Frauen. Diesem international führenden Netzwerk für Medienarbeiterinnen gehören Anthropologinnen, Pädagoginnen, Theoretikerinnen, Historikerinnen, Programmiererinnen, Künstlerinnen, Performerinnen, Autorinnen, Musikerinnen und Wissenschaftlerinnen an, die gemeinsam ein interdisziplinäres, multinationales, generationenumfassendes Stimmenkollektiv bilden, das Frauenthemen und Möglichkeiten für Frauen in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Initiiert wurde die Mailing-Liste nach einem FACE SETTING-Dinner in Wien von Valentina Djordjevic, Kathy Rae Huffman und Diana McCarty.
FACES konnte deshalb so rasch wachsen, da tatsächlich Bedarf nach einem Online-Forum für Medienkünstlerinnen bestand: das Bedürfnis, den ständig wachsenden Bereich der net_art zu diskutieren, sowie der Wunsch, die Beiträge von Frauen zu den neuen Medien- und Kommunikationskünsten zu würdigen. Die Mailing-Liste hat sich als bedeutender Brennpunkt für Medienarbeiterinnen etabliert und ist nicht nur ein Ort, wo Frauen wichtige Informationen über neue Arbeitsmöglichkeiten austauschen können, sondern bietet auch Platz für einen kritischen inhalts- und strategiebezogenen Diskurs. xxero stellt diesbezüglich eine Weiterentwicklung dar, da es verschiedene Formen der Kooperation zwischen höchst heterogenen Gruppen von Frauen ermöglicht, denen gewisse Anliegen und Ziele gemeinsam sind, die jedoch zu deren Verwirklichung oft sehr unterschiedliche Ansätze verfolgen.
xxero ist ein Raum, xxero ist eine Gestalt, eine Identität für den kollektiven Gebrauch. xxero ist eine Strategie der Selbstermächtigung und Selbstreflexion. MOOs sind ideale Umgebungen zur gemeinsamen Entwicklung von Ideen, Projekten und Kunstwerken. xxero ist ein Experiment zur Erforschung dieser Möglichkeiten und zur Erschaffung eines Raums, in dem durch die Kombination individueller Vorstellungen etwas Neues entstehen kann, das mehr ist als nur die Summe seiner Teile. xxero bietet kenntnisreichen, erfahrenen, kritisch denkenden Frauen die Möglichkeit, sich zu treffen und so ihre kollektiven Stärken bestmöglich zu nutzen.
Anmerkungen
1 Shelly Silver, Mail an FACES vom 28. 2. 2001
2 http://faces.vis-med.ac.at/
3 Siehe "Gendertechnologien - Juggling Sex", ein Symposium von fakultaet, März 2001: www.servus.at/fakultaet, mit Texten von Verena Kuni, Elisabeth Holzleithner u. a.
4 Nancy Buchanan, Mail an FACES vom 1. 3. 2001
5 "Multi-User-Dungeons (MUDs) wurden etwa 1980 als Netzwerk-taugliche Version des Abenteuerspiels Dungeons and Dragons (Verließe und Drachen) entwickelt. (...) Seitdem hat sich vieles geändert: Es gibt die klassischen Abenteuerspiele immer noch, aber es gibt auch MUDs, die mehr auf Gespräche ausgelegt sind, auf das Lernen, und sogar einige, die in Form von Experimenten angelegt sind. (...) Es gibt vielleicht ein halbes Dutzend grundlegende Typen (MUD, MUSH, tinyMUD, MUSE, MOO, etc.) und in jeder Kategorie viele Varianten." (zitiert nach Krol, Ed: *Die Welt des Internet - Handbuch und Übersicht*, O'Reilly International Thomson Verlag, Bonn 1995, S. 401).
6 Für Ed Krol (op. cit.) ist das World Wide Web "der neueste Informationsdienst im Internet" (S. 333). Im Vergleich dazu enthalten z. B. zwei 1996 - zu Beginn des WWW-Booms - veröffentlichte Artikel umfassende Literaturverweise zum Studium der Konstruktion von Gender-Identitäten in MUDs aus den frühen 90er-Jahren; vgl. Turkle, Sherry: "Parallel Lives: Working on Identity in Virtual Space", in: *Constructing the Self in a Mediated World*, Debra Grodin, Thomas R. Lindlof (Hrgs.), Sage Publications 1996; Bromberg, Heather, "Are MUDs Communities? Identity, Belonging and Consciousness in Virtual Worlds", in: *Cultures of Internet*, Rob Shields (Hrsg.), Sage Publications 1996.
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