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DER GESTÜRZTE HERKULES ODER DER KÜNSTLER ALS BARTLEBY (1)

I would prefer not to.
Hermann Melville, Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall-street

 

Am Ende des Mythos oder jenseits der Säulen des Herkules

Als Zeichen seiner weitesten Reise errichtete Herkules dem griechischen Mythos nach auf Gibraltar zwei Säulen, die das Ende der antiken Welt markierten (2). Die Vorstellung, über die Säulen des Herkules hinauszusegeln, versinnbildlichte für die seefahrenden Konquistadoren und aufklärerischen Philosophen der Neuzeit den Aufbruch in neue Welten, unbekannte Wissensräume, exotische Kolonien sowie die Erweiterung politischer und ökonomischer Machtverhältnisse. Mit der in See stechenden Neugierde wurde die alte Weltordnung einer neuen Kartografie unterworfen, und die Gier nach dem Neuem - nach neuem Wissen, Ländern, Ressourcen, Waren und Schätzen - avancierte zu Tugend und Wert einer anbrechenden Globalisierungsmoderne. Für den englischen Philosophen und Paradeaufklärer Francis Bacon, der u. a. die Säulen des Herkules als Titelkupfer seinen Büchern voranstellte (3), verkörperten die mit Gütern und Informationen aller Art heimkehrenden Schiffe in der heutigen Bedeutung von Wissens-Agenten eine neue Epoche oder besser ein neues Paradigma, das durch einen unzähmbaren Erkenntnis- und Expansionstrieb, durch eine euphorische Technologie- und Zukunftsgläubigkeit geprägt war.

Die Säulen des Herkules verbildlichten das Tor zu einem neuen Welthandel und Globalisierungsprojekt, bei dem Geografie, Religion, Wissenschaft, Politik, Ökonomie und Gesellschaft zur Disposition standen. Mit der Eroberung unbekannter Welten translozierten die herkulischen Säulen Richtung Westen, und über diese Okzidentierung oder Verwestlichung startete ein neuer Herkules-Mythos der Pionier- und Technokultur, der vom amerikanischen Siedlermythos abgelöst in Form des Trail West und Frontier Spirit als "Suche nach den geryoneusschen Rindern" in den Cowboys der Prärie, den Spacecowboys des Kosmos und den Cybercowboys der Netze weiterlebt.
Diese alte Metapher paraphrasierend, liegt es nahe, die herkulischen Säulen im 20. Jahrhundert nicht auf Gibraltar, sondern als Zeichen für den Aufbruch des Finanzsystems und den Rückfluss des erbeuteten Kapitals in Form der Zwillingstürme des World Trade Center in den USA zu orten.

Während am Beginn der Neuzeit die Säulen des Herkules das Plus ultra (4) der okzidentalen Expansion symbolisierten, manifestierten die Zwillingstürme in Zeiten des entfesselten Kapitals für zahlreiche Globalisierungsskeptiker das Nonplusultra transnationaler Märkte und Suprastrukturen sowie deren systemische Selbststeuerung durch das Gesetz eines "Survival of the Fittest". Als sich am 11. September 2001 plötzlich Flugzeuge zum "Medium ihrer Botschaft" pervertierten, um das System zu invertieren, stand ein imperialistischer Herkules und seine wirtschaftliche und kulturelle Hegemonie über die restliche Welt im Visier. Das Attentat auf die hegemoniale Ordnung war ein Ereignis von globaler Bedeutung, das der Globalisierung den Kampf ansagte und nach Korrektur und Umverteilung beziehungsweise nach einer neuen politischen und kulturellen Kartografierung globaler Konditionen verlangte. Wurde damit das endgültige Scheitern von Aufklärung und Humanismus besiegelt, hatte der apokalyptische Gedanke begonnen den utopischen zu ersetzen, waren die Peripherien ins Zentrum vorgedrungen, um sich Gehör zu verschaffen? Oder war alles nur eine willkommene Abkühlung überhitzter Märkte, um mit neuem Elan kulturelle Fronten, ökonomische Einfluss-Sphären und globale Strategien zu stärken?

Zwischen Skylla und Charybdis oder von der Auf- zur Abklärung

Nach den Anschlägen auf das World Trade Center verbinden wir 9/11 nicht länger mit einem schnellen Sportwagen der Marke Porsche, nicht mit Geschwindigkeit, Spaßgesellschaft oder Lifestyle, sondern mit Wehmut und Schrecken. Die Stimmung ist auf null gesunken, und Ground Zero ist zum Symbol für die Identitätskrise der westlichen Zivilisation geworden. Symptomatisch dafür präsentiert sich die diesjährige Ars Electronica ihrem Titel gemäß "unplugged", um sich den blinden Flecken der Globalisierung zu widmen und nach den politischen Momenten der Kunst zu fragen. Das Festival, das traditionsgemäß den künstlerischen und technologischen Avantgarden ein Forum bietet, gibt sich heuer genau am Jahrestag der Katastrophe dem Kater nach der Party des E-Commerce-Hype samt seinen gescheiterten Hoffnungen auf unbegrenztes Wachstum hin.
In Medien und Politik, aber auch in Philosophie und Kunst feiert die alte Sehnsucht nach dem Realen, Notwendigen, nach Dogmen und Dualismen und damit verbunden die Forderung nach Abgrenzung und Sicherheit ihre Wiederauferstehung. Politiker, Manager, und Künstler üben sich in Betroffenheit und fordern die Erstarkung von Moral in Form einer neuen ethischen Front.

Das Ende der Spaßgesellschaft wird proklamiert, und individuelle Unabhängigkeit, egoistische Selbstverwirklichung oder hedonistische Unterhaltungskultur werden Solidarität und Genügsamkeitgegenüber gestellt. Eine aufkommende Restauration von eindeutigen Zuschreibungskonzepten und Gut-Böse-Dualismen ruft die Kunst zur Unterbrechung des "herrschenden Systems" auf und erwartet von ihr einen Einspruch und Einschnitt in ökonomische, soziale und politische Verhältnisse. Doch ist dieser Wunsch nicht Teil der Logik des Systems und wartet die hegemoniale Ordnung nicht dankbar auf jede Form von Kritik, um diese affirmativ zur Stabilisierung der eigenen Macht zu nutzen?

Es sei nur erinnert, dass das Begehren, Kultur über Kunst kritisch zu läutern, um dadurch ein neues Bewusstsein und in Folge Gewissen zu schaffen, sein Motiv über ein interesseloses, rein ästhetisches Wohlgefallen hinauszugehen, oft und gerne aus einem erzieherischen Moment rekurriert. Und dieses Ersetzen ästhetischer Werte durch politische und ethische birgt das Risiko eines Reduktionismus, der Kunst leicht in Propaganda oder aktuell formuliert in Mode und Lifestyle münden lässt.

Künstler sind nach 9/11 zwar dessen ungeachtet mehr denn je aufgerufen soziale Funktionen zu übernehmen und Katalysatoren für einen sozialen "Wandel" zu bilden. Die Frage, was sich dabei wohin oder in was wandelt, scheint aber, während sich US-Amerika beweihräuchernd in der Opfer- und Trauerrolle suhlt und seine nationale Einheit zelebriert, zu einem noch dunkleren Fleck zu werden, als es der blinde Fleck der imperialistischen Globalisierungstaktik je zuvor war. Die Gefahr, die darin schlummert, liegt in der panischen Obsession die gesellschaftliche Kontingenz, d. h. die Möglichkeit oder die Potenz, eine offene und frei gestaltbare Zukunft in Geiselhaft nehmen zu wollen und sie zur Realisierung einer einzigen unausweichlichen Notwendigkeit zu zwingen. Man will das Netzwerk des Möglichen, des Vorstellbaren und Diskutablen zerschlagen, eine neue Hierarchie der Werte errichten und somit das Fundament für eine westliche Wertegemeinschaft zementieren, um es anderen polar entgegenzustellen.

Obgleich die Bewältigung von Kontingenzphänomenen nicht erst seit 9/11 zur großen Herausforderung einer medial konstituierten Welt-Gesellschaft geworden ist, haben sich dadurch postkoloniale Kernprobleme verschärft und ein Hindurchgehen zwischen den Dualismen hat sich labyrinthisch erschwert. Standen sich in den 1990er-Jahren Nationalgesellschaft und neoliberale Marktordnung wie Zwillingstürme gegenüber, die vergleichbar den beiden Seeungeheuern Skylla und Charybdis uns die Wahl zwischen zwei Unglücken ließen, haben sich nun die fatalen Optionen in der Leere einer katastrophischen Identität verschmolzen. Die Straßenschlachten von Seattle, Montreal, Genua und anderen nordamerikanischen und europäischen Städten sowie das Aufbegehren in Ländern außerhalb der so genannten Ersten Welt wie in Argentinien, der Türkei oder Nigeria als Reaktion gegen die Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds signalisieren das Scheitern einer neoliberalen Ideologie. Ground Zero stellt hierfür den "Vanishing Point of no Return" dar, von dem aus scheinbar die Peripherie ins Zentrum vorgedrungen ist, um in dieser Leere die ideologischen Differenzen des globalen Wandels zu verhandeln.

Mittlerweile dürfte klar geworden sein, dass es sich bei der Terrorkatastrophe weniger um die Eroberung der Realität durch die Bilder und auch umgekehrt weniger um einen Einbruch des Realen in unsere Bilderwelten als um eine weitere Freisetzung des Symbolischen handelte, das nun wiederum restriktiv unser Erleben von Realität bestimmt. Die Türme des globalen Schachs wurden zwar matt gesetzt, indem König und Dame durch einen rigorosen Regelverstoß zu Fall gebracht wurden, aber der Kampf der Bauern auf den Straßen geht weiter. Was dabei auf dem Spiel steht, ist nichts Geringeres als die Findung viabler Strategien angesichts unbeherrschbarer organisierter Komplexität, hervorgerufen einerseits durch eine verfehlte US-amerikanische und europäische Wirtschaftspolitik der Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung und andererseits durch eine generelle Krise von Modernität. Weltgesellschaft als ein System der Reproduktion von sozialen, politischen, ökonomischen, technologischen und ökologischen Ungleichheiten kann in diesem Zusammenhang nicht alleine auf eine Gegenüberstellung von Subsidiarität versus Solidarität reduziert werden, sondern muss als ein erweitertes kulturelles Dispositiv im Kontext der Werte und Wirkungen der Neuzeit und Aufklärung sowie ihren modernistischen Obsessionen und Verheißungen diskutiert werden.

Von der Postmoderne zur Supramoderne

Wurde einst die Geburt der Postmoderne vom Architekturtheoretiker Charles Jencks mit der Sprengung der Prinzipien der Moderne in Form der Hochhaussiedlung Pruitt-Igoe Anfang der 1970er-Jahre in St. Louis eingeläutet, deutet momentan vieles darauf hin, dass 9/11 als Zäsurpunkt für das Ende derselben in die Geschichte eingehen könnte. Das Projekt der Moderne unterlag von der Gegenreformation über die Romantik bis zur Postmoderne fluktuierenden Krisen, doch jede Kritik und jeder Abgesang revitalisierten die Moderne von neuem und transformierten sie in einen anderen Aggregatzustand. Insofern mag die Moderne ein in die Jahre gekommenes Projekt sein, es nährt sich aber, da es akkumulativ und irreversibel operiert von seiner eigenen Geschichte und antizipiert selbstreflexiv seine Zukünfte, indem es die Gegenwart permanent in eine futuristische Dimension überführt. Modernität bedeutet ein Leben in Sciencefiction, wobei die aktuelle Utopie eine Atopie des Irgendwo und der Jederzeit ist, die in Form der Globalisierung auf eine Homogenisierung und Synchronisierung der Kulturen abzielt. Globalisierung als zentraler neuzeitlicher Effekt kulminiert heute in einem medien- und finanztechnischen Konvergenzmodell zur Etablierung einer supranationalen Kompatibilität und Komparabilität aller Wettbewerbsparameter wie u. a. Zeit, Raum, Währung und Produktion.

Diese wirtschaftliche und mediale Synchronwelt, die den Zustand von Postkolonialität definiert, strebt nach einer globalen Matrix der "Echtzeit" zur universellen Konvertierung aller Informationen, Güter und Kulturen. Da Konvertierungen aber nicht ohne Verluste ablaufen, gibt es mit dem expansiven Fortschreiten dieses supramodernen Projekts immer mehr Verlierer, welche die globale Reformatierung als System der Ungleichheit und Ungerechtigkeit erleben.

Der Einteilung von Geschichte und Gegenwart in Epochen und historische Paradigmen fällt gewöhnlich die Aufgabe von Ordnung und Weltbild zu, und wenn diese gestört oder zerstört sind, entsteht das Bedürfnis, Phänomene neu zu fassen. Die historische Gliederung kann dabei katastrophisch oder kontinuierlich erfolgen, wobei sowohl die Sprengung von Pruitt-Igoe als auch des World Trade Center unter symbolischer Katastrophe subsumierbar sind, welche die Kontinuität perpetuieren. Bereits in den 1980er-Jahren bezweifelten etwa Jürgen Habermas oder Odo Marquard aus unterschiedlichen Gründen ein Ende der Moderne und begriffen die Postmoderne in Kontinuität zur dieser (5).

Und zweifellos wurden in Zeiten der Postmoderne mehr Versprechungen der Moderne, zumindest naturwissenschaftlicher Art, eingelöst als in der gesamten Neuzeit zuvor. Modernisierung als Futurisierung, Artifizialisierung und Globalisierung beschleunigte sich in unbekanntem Ausmaß, und es entstand ein potenzierter Aggregatzustand der Moderne, der nur als Supramoderne im Sinne der Metastatisierung und Hypertrophierung modernistischer Konzepte beschrieben werden kann. Supramodernisierung wird außerhalb der westlichen Welt vor allem mit Amerikanisierung (hier in einem US-amerikanischen Sinn) assoziiert, weshalb unabhängig von einer US-amerikanischen Außenpolitik in einer vereinfachten Sichtweise die Werte und Bildwelten Hollywoods, der verschwenderische Lebensstil bzw. "The American Way of Life", der sorglose Umgang mit Ressourcen und Ökologie oder der naive Machbarkeitswahn der Naturwissenschaften zur Diskussion stehen. Dieses System eines "Image-Empire" und eines "Empirie-Empire", das elitär die Erfahrung von Nahrung, Energie, Know-how etc. im Überfluss für wenige garantiert und an der globalen Ökosphäre parasitiert, fordert große Teile der restlichen Welt unwillkürlich zur Rebellion. Die Vorherrschaft des US-amerikanischen modernistischen Modells, das verkürzt als Manie des Realen bzw. als Realisierung individueller Träume auf ökonomischer und technischer Ebene beobachtet werden kann, solidarisiert zum Kampf, der mit der Antiglobalismusbewegung oder dem Aufbegehren in Ländern der Dritten Welt erst begonnen hat.

Was in den letzten Jahrzehnten verabsäumt wurde und das Unternehmen der so genannten Postmoderne letztendlich zum Scheitern gebracht hat, war u. a. ein verschämter Rückzug aus Fragen der Politik und des Sozialen sowie eine zu zögerliche Beschäftigung mit Technologie, Medien, Wirtschaft und Ökologie unter gesellschaftsethischen Prämissen. Aus dem Gefühl der Selbststeuerung durch Systeme und Prozesse, der Idealisierung einer neoliberalen Ideologie zum Naturgesetz oder dem Eindruck der Ohnmacht gegenüber Massenmedien, Werbe- und Imageindustrie resultierte ein Verlust subjektiver Handlungsräume bei gleichzeitiger Zunahme von Unübersichtlichkeit, Komplexität und Welthaltigkeit.

Die Postmoderne konnte wenig zum Umgang mit der durch Medien, Wissenschaft und Technologie beschleunigten Transformation von Lebenswelten und Befindlichkeiten beitragen, und es stellte sich zunehmend die Empfindung eines Endes der Geschichte oder einer statischen Leere ein. Das Freiheitsversprechen eines "Anything Goes" erschöpfte sich in einem Zustand, in dem nichts mehr ging, woraus bereits ab den 1980er-Jahren die Neue Rechte ihren Aufschwung rekrutierte. Die Sehnsucht nach einem einfachen Komplexitätsmanagement, das jede Form von Kontingenz ausblendet und die Notwendigkeit dualen Handelns propagiert, entstand und infizierte die westliche Welt mit Arroganz und Rassismus.

Um nochmals an die eingangs erwähnte Assoziation des neuzeitlichen Aufklärungsprojektes mit den Abenteuern des antiken Herkules anzuknüpfen, hat die westliche Zivilisation im Laufe des 20. Jahrhunderts freibeuterisch zahlreiche wissenschaftliche und technische Missionen erfüllt. Die herkulische Zivilisation strebt damit wie ihr antikes Vorbild dem Zustand ewigen Lebens und ewiger Jugend entgegen, d. h. einem Zustand, der es - etwa durch Computerwissenschaften, Bio- oder Gentechnologie - erlaubt, der Entropie des Todes zu entrinnen, um einem naturwissenschaftlich geläuterten Leben im Techno-Olymp zu frönen. Folgt man der herkulischen Mythographie bis zum Ende, erleidet der antike Held vor seiner Apotheose ein tragisches Schicksal, das in aller Kürze erzählt sei: Nach Vollendung seiner Abenteuer kehrt Herkules nach Theben zurück, zieht aber später mit seiner zweiten Frau Deianeira nach Trachis, wo ihn durch ungewolltes Verschulden seiner Gemahlin ein furchtbares Todesgeschick ereilt. Aus Eifersucht hatte Herkules den Zentauren Nessos mit einem Giftpfeil niedergestreckt, der vor seinem Tod Deianeira ein Vermächtnis in Form seines aus der Wunde tretenden Blutes mitgab. Sie solle das Blut sammeln und bei passender Gelegenheit damit das Unterkleid ihres Geliebten färben, der außer ihr niemals ein anderes Weib mehr lieben würde. Als Herkules zu einem Feldzug aufbricht, nimmt das Unglück seinen Lauf. Unbemerkt bestreicht Deianeira das Unterkleid mit dem Blut, das sich während eines Stieropfers durch die Wolle frisst und die Genitalien des Herkules verätzt. Der Möglichkeit der sexuellen Reproduktion beraubt, beschließt Herkules, den Qualen durch Selbstverbrennung zu entkommen. Blitze schlagen in den Scheiterhaufen, und eine Wolke hebt ihn in den Olymp. Von Athene in den Kreis der Götter eingeführt, schließt der Mythos mit der Ehelichung von Hebe, der Göttin der ewigen Jugend, die ihm unsterbliche Kinder gebiert. Wollte man den Mythos metaphorisch vergegenwärtigen, hätte pathetisch und fatalistisch gesprochen die Kastration und Apotheose in einem einzigen Akt des Himmelfahrtskommandos stattgefunden, der gleichzeitig die phallische Potenz der Türme des World Trade Center zum Scheiterhaufen der Moderne gemacht und ihre Erhebung zur Supramoderne besiegelt hat.

Auch wenn sich Kunst längst nicht mehr an klassischen Mythen abarbeitet oder diese allegorisch illustriert, leiten sich unabhängig vordergründiger Aktualitäten Fragen ab, wie sich Kunst in einem strategisches Spannungsfeld zwischen symbolischen und/oder realen Handlungsmöglichkeiten, zwischen Ausnahmezustand, Totalverweigerung, Kommunikationsmobile, Dienstleistungsservice etc. platzieren kann. Oder anders formuliert: Gibt es eine Kunst, die sich mit Moral beschäftigt, ohne moralisierend zu sein?

Der Künstler als Kontingenzforscher

Eine Kunst, die abgehoben von gesellschaftlichen Kontexten solipsistisch Ideen erzeugt, scheint heute obsolet geworden zu sein. Kunst steht nicht nur an der Schnittstelle, an der sich traditionelle Kulturen und Systeme, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, das Soziale und das Politische konfrontieren, sondern ist darüber hinaus zu einem Schnittstellenmultiplikator geworden. Kunst ist heterogen und transdisziplinär organisiert, basiert zunehmend auf Teamarbeit und agiert weitaus offener für gesellschaftliche Erwartungen, Ansprüche oder Probleme. Sie erweist sich somit reflexiver und in höherem Maße von sozialer Relevanz, wodurch eine neue Topologie der Kunst entsteht, die nicht nur innerhalb von Institutionen des Kunstsystems existiert und auch nicht alleine durch die Person des Künstlers, Kurators etc. vertreten wird. Kunst drängt in die Welt, die sie bildnerisch zu denken sucht, und genau an dieser Grenze ist sie aufgerufen zu verhandeln und zu handeln, um ihren Widerstand zu trainieren. Das Prinzip des unbedingten Widerstands ist ein Recht, das die Kunst zugleich erfinden, reflektieren und setzen müsste, damit eine kulturelle Gegenoffensive beginnen könnte, die der *Souveränität* entgegentritt. Dies würde bedingen, dass Kunst zu verschiedensten Mächten in Opposition tritt, etwa zur Staatsmacht, zu ökonomischen Mächten der Konzerne und des internationalen Kapitals, aber auch zu medialen, religiösen und ideologischen Mächten, also zu all jenen Mächten die das Projekt einer kommenden Kunst einschränken.

Da die Macht im Grunde der Kunst fremd ist und sie sich ihren Prinzipien verweigert, verfügt die Kunst über keine eigene Macht. In einem traditionellen Sinn ist sie auf das Feld der Fiktionen, der Simulakren oder der Modalität des "Als-ob" verwiesen. Sie steht im Dienst des Symbolischen und beschäftigt sich in unterschiedlichem Maße und variierender Komplexitätsabstufung mit diskursiver Idealität, wobei das "Als-ob" sowohl ein Privileg in Bezug auf den Umgang mit Kontingenz als auch einen schlichten Realitätsmangel bedeuten kann. Die Mischung und Hybridisierung von Kunst mit Leben, Politik, Wissenschaft, Ökonomie etc. setzt genau hier an und probt den viel zitierten Einbruch des Realen in das Symbolische. Geht man einen Schritt darüber hinaus, folgt eine Kunst, die den Ausnahmezustand und eine Verletzung der Ordnung des "Als-ob" provoziert. Sie übernimmt spielerisch die "Qualität" der Macht und des Terrors, um sich in das Reale einzuschreiben, einen Tatort zu finden und sich dort mit allen Konsequenzen zu *realisieren*. Doch wie bei jedem Terrorakt steht im Gegensatz zu einer Naturkatastrophe wiederum das Symbolische und nicht das Reale auf dem Spiel, womit in einer Kultur, die ihrerseits abgehoben von Realitäten in symbolische Watte gebauscht ihre Macht im Virtuellen und Deterritorialen konstituiert, die bestehende Ordnung nur im Modus und in der Logik des "Als-ob" torpediert werden kann. Ein künstlerischer Akt bedeutet Arbeit am "Als-ob", damit dieses nicht zum vereinbarten und legitimierten Kontext der Konvention und des Gehorsams werden kann, sondern außerhalb jeder Kontrolle Erwartungshorizonte und Rezeptionsstandards stört. Genau hier wäre die Grenze des "Als-ob" erreicht, an der Kunst sich mit den Kräften der Realität benetzt und sich anstatt von Notwendigkeiten von Möglichkeiten leiten lässt bzw. für ein Ereignis des Unmöglichen einsteht.

Was es dazu vonseiten der Kunst benötigt, sind keine bloßen Akkumulationen von Werken und Oeuvres, sondern performative Prozesse, die auf gesellschaftliche Wirkung abzielen. Im Gegensatz zur Macht, die auf eine Zerschlagung des Möglichen und eine Verfestigung des Notwendigen aus ist, ist Kunst höchst *unnotwendig* und reine Potenz. In der Kunst, in der es um die Konstruktion der Erfahrung des Möglichen als solche geht, steht das "als" im Vordergrund, das weder identitätsstiftend ontologisch (als solches) noch mimetisch phänomenologisch (als ob) uns in den Zustand der Relation zum Anderen als das Mögliche der Zukunft eines Nicht-Gewesenen versetzt. Und folglich wäre diese Kunst auch eine schmutzige Para-Kunst, eine Kunst als Wissenschaft, als Philosophie, als Soziologie etc., die sich mit außerkünstlerischen Kräften verbündet und fremde (Immun-)Systeme unterläuft. Diese Art von Kunst wäre eine Möglichkeitsform, die gleichzeitig sein, etwas anderes sein oder auch nicht sein kann. Das heißt, es wäre keine legislative Kunst, die Stile, Gebote, Gesetze abschafft und neue erlässt - wie es etwa die Avantgarden versucht haben - und es wäre auch keine Kunst, welche die Welt von irgendetwas messianisch erlöst. Vielleicht wäre es eine Kunst, die der Haltung des vermutlich radikalsten Verweigerers der Literaturgeschichte, Hermann Melvilles Schreiber Bartleby entspräche, indem der Künstler auf das Anfertigen von Werken als Kopien von Originalen verzichtet und der emsigen Betriebsamkeit eine Produktions- und Konsumkritik entgegenhält, bei der es nicht mehr darum geht zu handeln, sondern darum die Kontingenz zu verhandeln.


(1) Der Titel "Der Künstler/die Künstlerin als Bartleby" bezieht sich auf Hermann Melvilles Erzählung Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall-street (erstmals publiziert in: Putnam's Monthly, vol. 2, Nov. 1853, N.Y.). Online unter: http://www.bartleby.com/129/

(2) Um Unsterblichkeit und ewiges Leben zu erlangen, startet Herkules im Auftrag des Delphischen Orakels ein mythisches Adventure-Game, wobei ihn die zehnte Aufgabe an das Ende der Welt nach Gibraltar führt, wo er die Rinder des dreileibigen Riesen Geryoneus erbeutet. Als Zeichen seiner weitesten Reise errichtet er dort die nach ihm benannten "Säulen des Herkules".

(3) Als Frontispiz finden sich die Säulen des Herkules in Francis Bacons Instauratio Magna (1620) und Sylva Sylvarum (1627).

(4) Plus ultra ("weiter, darüber hinaus") war das Motto, unter dem die Flotte von Karl V. auf den Weltmeeren kreuzte.

(5) Vgl. Jürgen Habermas, "Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien". In: Ders.; Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a. Main, S. 141 - 163. Weiters Odo Marquard, "Nach der Moderne. Bemerkungen über die Futurisierung des Antimodernismus und die Usance Modernität". In: P. Koslowski, R. Spaemann, R. Löw (Hrsg.), Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim 1986, S. 45 - 54.