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Azza El-Hassan

Kunst und Krieg

Heute filme ich, wie Leute erschossen und ins Spital gebracht werden. Ich
zeichne den Moment ihres Todes auf und dann ihre trauernden Mütter. Ich filme
auch auf Friedhöfen, wie die Familien ihre Angehörigen begraben.

(Abdul Salam Shihada / News Time/ Palästina, 2001)

Als ich Abdul Salam, einen Kameramann aus Gaza, anrief und ihn fragte, was er gerade
dreht, wusste ich, dass er mir Orte des Todes in Erinnerung rufen würde. Mein Telefongespräch
mit Abdul Salam bildet die Eröffnungssequenz von News Time (Palästina,
2001), die ein Versprechen an mich und meine Publikum sein sollte, dass in meiner
Filmreise keiner der von Abdul Salam erwähnten Orte vorkommen würde. Ich versuchte
mir einzureden, dass ich auf die unmittelbare Extremsituation, in der es um Leben und
Tod geht, nicht reagieren würde. Ich hatte den Wunsch, in einer Situation, in der es
unmöglich ist, über das unmittelbare Ereignis hinauszugehen, einen Raum zum Nachdenken
zu bewahren.

Der Krieg schafft für gewöhnlich eine Realität, die jede Fiktion in den Schatten stellt.
Das Ereignis selbst ist so überwältigend, dass man als Künstler zum Beobachtungsund
Dokumentationssklaven wird. Das Ritual des Dokumentierens und Beobachtens
der Geschehnisse um einen herum wird zu einem Glaubensakt, der eine Anklage gegen
die Ungerechtigkeit ist. Doch beim Beobachten und Dokumentieren macht man „wenig
Kunst“. Man will nichts neu arrangieren, man sammelt nur.

Das Gefühl der Bedrängnis, das eine Gesellschaft bei einer nationalen Tragödie befällt,
erfasst sämtliche Aspekte des Lebens. Das öffentliche Problem dringt in die Privatsphäre
des Individuums ein. Als Künstler wird es einem unmöglich zu ignorieren, was
um einen herum vorgeht, und sich mit einem anderen Thema zu beschäftigen. Der
Krieg wird zum wichtigsten Stoff, und deshalb möchte man manchmal fliehen, sich
einen Raum gönnen, in dem man sich mit anderen Themen beschäftigen, über das
Unmittelbare hinausgehen kann. Doch es gibt kaum Fluchtwege.

Das Bedrohlichste ist aber die Rolle, die einem die Gesellschaft abverlangt. Durch die
Intensität der Erfahrung entsteht gewöhnlich die nationale Illusion, dass die Welt nicht
weiß, was wirklich vor sich geht; es ist der Glaube der Schwachen, dass die Welt,
wüsste sie nur Bescheid, nicht schweigen könnte. Infolgedessen entwickeln die Angehörigen
einer verwundeten Gesellschaft den Drang, die Welt informieren zu wollen. So
wird vom Künstler erwartet, dass er sein Ausdrucksmedium dazu einsetzt, der Welt
die „Wahrheit“ zu erzählen. Die Leute um einen herum sagen: „Zeig der Welt, was mit
uns geschieht.“ Und so degradieren sie einen vom Künstler zum Informanten. Und man
ringt damit, seine Gedanken und sein Medium klein zu machen, um sie in Informationswerkzeuge
zu verwandeln.

Seit nunmehr über fünfzig Jahren hat sich die palästinensische Realität laufend
verschlimmert. Die nationale Tragödie hat uns (als Nation) in einen Käfig gesperrt,
der der Kunst und den Künstlern Palästinas wenig Raum läßt, um gegen die ihnen
von der Gesellschaft zugewiesene Rolle zu revoltieren. Seit nun schon drei Generationen
wachsen Palästinenser unter der Besatzung oder im Exil auf. Unsere Situationscheint sich nicht zu ändern, aber die Welt ändert sich. Können sich die globalen Veränderungen
auf die Realität eines Künstlers auswirken, der in einer Kriegssitutation lebt?
Mit einem Mal haben die technologischen Veränderungen in der Welt der Information
den palästinensich-israelischen Konflikt globalisiert. Tippt man das Wort Palästina –
oder meinetwegen auch Israel – in eine Web-Suchmaschine ein, so wird man garantiert
auf Tausende von Sites stoßen, auf denen man erfährt, was los ist. Einige sind
pro, andere kontra; aber das macht nichts, weil sie sich wahrscheinlich die Waage
halten werden.

Und was die TV-Nachrichtensender betrifft, so operieren in Jerusalem so viele Crews,
dass die Stadt – Schätzungen zufolge – die nach Washington zweitgrößte Journalistenpopulation
der Welt aufweist (1). Kann dies einen Künstler aus dem Konflikt erlösen,
die Rolle eines Informanten einnehmen zu müssen?

Dass die Welt Bescheid weiß, liegt in meinem eingangs zusammengefassten Telefongespräch
mit Abdul Salam (News Time, 2001) klar auf der Hand. In der Szene
kommt der Stress zum Ausdruck, den Abdul Salam damit hat, die Realität direkt, nachrichtenförmig zu dokumentieren. Und so bitte ich ihn, alles liegen und stehen zu lassen
und mit mir einen Dokumentarfilm zu drehen. Doch Abdul Salam lehnt mein Angebot
ab, weil er einem japanischen Nachrichtenteam im Wort ist. Seine Begründung wird
alsbald zu meinem Vorwand, um die Rolle des Informanten in Frage zu stellen. Schließlich
sind die Japaner nun die Informanten, also kann ich vielleicht etwas anderes tun.
Ich begann mit den Dreharbeiten zu News Time im Oktober 2000, also im ersten Monat
des zweiten Palästinenseraufstands gegen die israelische Besatzung. In diesem Film
zeige ich, wie sich das Leben meiner Nachbarn mit der Verschlimmerung der Situation
in Ramallah verändert. Beim Filmen war es schwer zu übersehen, dass genau
ab dem Zeitpunkt, als sich die israelischen Panzer der Stadt näherten, eine neue Gruppe
von Besuchern die Stadt bevölkerte. Journalisten und Fernsehreporter aus der ganzen
Welt sind im Film allgegenwärtig. Sie sind auf der Suche nach dem Bild von uns; sie,
für die wir uns herausputzen, als wären wir in unserem Element, damit sie uns in der
besten Form zeigen können.

Die auf uns blickende Welt wird rasch zu einem neuen Thema in meiner Arbeit. Während
ich mir in News Time die Nachrichten über meine Heimatstadt ansehe, versuche ich,
meine Realität und die der Menschen um mich herum aus einer anderen Perspektive
als der des globalen Blicks neu zu arrangieren. Ich versuche damit umzugehen, wie
der Krieg mein Wohlbefinden und das der Menschen meiner Umgebung beeinflusst.
Meine Unzufriedenheit mit unserer Repräsentation in den Tagesnachrichten, wird zu
meinem Versuch, einer Zeit zu widerstehen, in der Nachrichten – ein Symptom des
Krieges – unser Dasein dominieren.

Ich mache mir keine Illusionen über die Präsenz der Fernsehreporter, und in dem Film
wird deutlich gesagt, dass sie nur deshalb hier sind, weil sie uns für gutes Nachrichtenmaterial
halten. Doch durch ihre Präsenz erziele ich auch einen Konsens mit
meinem Publikum, weil die täglichen Ereignisse öffentliches Gut sind. Ich muss die
Geschichte nicht mehr von Anfang an erzählen. Ich brauche nicht zu erklären, warum und weshalb, sondern ich kann darüber hinaus gehen und einen anderen Blickwinkel
auf eine allgemein bekannte Sache vorschlagen.

Es ist nun mehr als zwei Jahre her, seit die zweite palästinensische Intifada begann,
während der die globale Berichterstattung über den Konflikt ihren Höhepunkt
erreichte. In der Psyche der Palästinenser, das heißt, in der Psyche der Schwachen,
gab es die große Hoffnung, dass das Wissen zu Handeln führen würde. Die Menschen
nahmen Journalisten in die Leichenhallen mit, um ihnen die toten Körper ihrer Angehörigen
zu zeigen – ein Akt, der die nackten Toten entwürdigte, aber ihren Wunsch
zu erzählen zum Ausdruck bringt.

Die Forderung der Palästinenser und einiger linker israelischer Gruppen nach einer
internationalen Intervention ging davon aus, dass die Welt Bescheid weiß und daher
etwas tun sollte. Aber nichts geschah. Es wurde bald deutlich, dass der Akt des Beobachtens,
in dem sich die Welt ergeht, selbst eine Handlung ist. Er wird nie etwas bewirken.
Die Welt scheint den Blick auf den „Anderen“ zu genießen. Die vor ihren Augen
entfalteten Tragödien schienen ihr selbst ein einzigartiges Drama zu liefern.
Für die Menschen hier lautete die Botschaft schlicht: „Die Welt weiß nun endlich Bescheid.
Sie hat beschlossen, nicht zu handeln.“

So deprimierend diese Vorstellung auch ist – und trotz meines ganzen Wissens um
die negativen Folgen, die das für das Wohlergehen der palästinensichen Gesellschaft
im Sinn ihrer inneren und äußeren Reaktionen haben wird: Für meine Arbeit ist sie
befreiend.

Vor wenigen Monaten begann ich einen Dokumentarfilm mit dem Arbeitstitel A Cathartic
Act zu drehen. In diesem Titel steckt auch schon die Hauptidee des Films. Er
setzt sich aus drei verschiedenen Geschichten zusammen, in denen es um Menschen
geht, die sich wünschen, den durch die nationale Tragödie verursachten privaten Schmerz
öffentlich zu machen. Jede Figur in dem Film verlangt, dass ein Film über sie gemacht
wird. Doch hinter dieser Forderung steht nicht der Wunsch zu erzählen, sondern eher
der Wunsch, mit dem fertig zu werden, was mit ihnen geschieht.

In A Cathartic Act wird der Wunsch zu informieren, der in der palästinenischen Geschichte
mitunter extreme Formen angenommen hat, selbst zum Thema. In den siebziger Jahren
begannen palästinensische politische Bewegungen Flugzeuge zu entführen, und wenn
man sie nach dem Grund dafür fragte, antworteten sie: „Damit die Welt weiß, dass
es uns gibt. Die Welt wird sich fragen müssen: Wer sind diese Palästinenser? Und
warum tun sie so furchtbare Dinge?“ Die Flugzeugentführer hatten den Wunsch, mit
Gewalt die Aufmerksamkeit der Medien auf uns zu ziehen und die Imagination weltbekannter
Künstler zu beschäftigen, von denen sie glaubten, sie würden der Welt die
Wahrheit entdecken. Die Flugzeugentführer versuchten lediglich, in einem „revolutionären
Stil“ Propaganda zu machen.

„War es den Schmerz wert?“ fragt sich Raeda in A Cathartic Act bei dem Versuch,
sich dreißig Jahre, nachdem ihr Vater ein Flugzeug entführt hat und dabei getötet wurde,
mit ihm auszusöhnen. Raeda ist nicht deshalb auf ihren Vater wütend, weil er ein Flugzeug
entführt hat, sondern weil er dabei getötet wurde und sie als Kind sich selbst
überlassen hat. Während der Film Raeda dabei hilft, einen Grund für die Handlung ihres
Vaters Ali zu finden, schwankt sie ständig zwischen zwei Haltungen hin und her: Im
einen Moment attackiert sie ihn, und gleich darauf verteidigt sie ihn wieder.

Der Preis, den sie für Alis Wunsch zu erzählen bezahlen musste, war für Raeda zu
hoch. Dass er in ihrem Leben fehlt, kann sie nicht überwinden. In ihrem verzweifelten
Wunsch, darüber hinwegzukommen, engagiert mich Raeda, damit ich sie bei ihrem Versuch, sich mit ihrem toten Vater auszusöhnen, aufnehme. Sie hofft, dass sie imstande
sein wird, ihren Versuch zu sehen und fühlen und ihm damit etwas Konkretes, Materielles
zu verleihen, indem sie ihn in eine feste Form – in diesem Fall Video – überträgt.
Es stimmt, dass das „Bescheidwissen der Welt“ den Künstler, der in einer Kriegssituation
lebt, davon befreit, die große Geschichte zu erzählen. Aber es befreit ihn
nicht vom gesellschaftlich auferlegten Druck, sich dauernd mit dem Krieg zu beschäftigen.
Der Umstand, dass mich Raeda engagiert, ist eine kühne Übersetzung dieses
Drucks. Es steht mir nicht frei, die Welt nach meinen Wünschen zu reorganisieren.
Meine Aufgabe ist, einer Gesellschaft und ihren einzelnen Mitgliedern zu dienen, die
sich in einer ständigen Notlage befinden.

Raeda ist nicht die einzige Figur in dem Film, die mich extrem unter Druck setzt. Es
gibt auch noch Samia, Surida, Sarah und Asperianca, vier Schwestern, die mich in
A Cathartic Act ebenfalls für einen Film über ihre Mutter engagieren. Sie haben Angst,
dass ihre 75-jährige Mutter bald sterben wird. Hinter ihrem Wunsch, einen Film über
sie zu machen, stehen zwei einander widersprechende Bedürfnisse: Einerseits wollen
sie ein Andenken an sie schaffen, solange sie noch lebt, andererseits aber hoffen sie
auch, dass sie die Macht der Kamera in die Lage versetzen wird, ihre Mutter anzuklagen,
weil sie sie als Kinder allein gelassen hat. Hagar, ihre Mutter, steckte ihre neun
Kinder in ein Waisenhaus, weil sie nicht die Zeit hatte, sich um sie zu kümmern, während
sie gegen die Israelis um das Recht kämpfte, die Leiche ihres Ehemanns aus dem
Exil nach Hause bringen zu dürfen.

In dem Film sieht man, wie Surida erklärt, dass sie mich für diesen Film engagieren
können, weil sie die richtigen Verbindungen haben und die richtigen Leute kennen.
Und Samia, die eine Freundin von mir ist, sieht man dabei, wie sie mir während eines
Interviews die Anweisung gibt, das und das statt dem und dem aufzunehmen.
Solche Szenen gibt es viele in A Cathartic Act. Sie zeigen, wie ich mit meiner unmittelbaren
Umgebung meine Freiheit als Künstler aushandle. Im Verlauf des Films wird
mir klar, dass ich genauso wie meine Filmcharaktere, deren persönliche Familienangelegenheiten
von der nationalen Frage vereinnahmt worden sind, den Tragödien um
mich herum nicht entkommen kann. Ich habe keine andere Wahl, als mit dem Diskurs
des Krieges zu arbeiten. Mich damit abfindend, erkenne ich schließlich, dass ich zumindest
die Wahl habe zu entscheiden, auf welchen Aspekt des Krieges ich meine Energien
verwenden will. Mit anderen Worten: Bei A Cathartic Act entscheide ich, wer
mich engagieren kann und wer nicht.

Die Reise von Palästina in den Libanon, wo Tausende palästinensische Flüchtlinge
leben, ist eine Reise, die ich in meinen Filmen mehrfach unternommen habe. Es ist
mein eigener karthatischer Akt, der mich von meinem Schuldgefühl als privilegierter
Flüchtling reinigt, dem es 1966 gelang, nach Palästina zurückzukehren und Tausende
Flüchtlinge, die das nicht können, zurückgelassen hat.

Früher jedoch blieb meine Reise eine innere Suche. In Title Deed from Moses (1997)
und in The Place (2000) kehrte ich an die Orte zurück, von denen diese Flüchtlinge
vertrieben wurden. Damit gab ich ihnen zu verstehen, dass ich nicht vergessen habe.
In News Time (2001) kehrte ich in meine eigene Erinnerung an das Leben im Libanon
zurück. Diesmal, in A Cathartic Act, nimmt meine Reise eine körperliche Gestalt an.
Im Libanon treffe ich Sana, die jahrelang in den karthatischen Akt der Überwindung
des Trennungsschmerzes ihrer Mutter und ihrer Tante involviert war. Latifa, Sanas Mutter,
und Meriem, deren Schwester, kommunizierten zwanzig Jahre lang über ein Radioprogramm
namens „On Air“ miteinander. Die beiden Schwestern, die im Krieg von 1948
getrennt wurden, hielten den Kontakt bis zu ihrem Tod aufrecht. Heute versucht Sana,
über mich und meine Kamera etwas über Palästina und ihre Verwandten zu erfahren.
A Cathartic Act ist ein Dokumentarprojekt, in dem eine Generation – meine Generation
– mit der vorhergehenden ins Gericht geht. Es ist ein Film, in dem die einen den anderen
sagen, dass der Krieg nicht über lebenswichtige Dinge wie Familienbeziehungen
hätte dominieren dürfen. Doch in dem Film wird auch deutlich, dass es den Kindern
nicht anders ergeht als ihren Eltern; sie sind noch immer in einer Kriegssituation gefangen.
Es ist ein abnormaler Zustand, in dem sicherlich das Gefühl für das, was wichtig
ist, abhanden kommt.

Allerdings gibt es einen großen Unterschied zwischen den Charakteren meines Films
und ihren Eltern: In der neuen globalisierten Welt machen sie sich kaum noch Illusionen.
Keiner meiner Charaktere fürchtet, von der Welt missverstanden zu werden.
Keiner sucht den Zuspruch oder das Verständnis der Welt. Stattdessen ist das eine
sehr selbstbezogene Arbeit über Individuen, die die nationale Frage hinter sich lassen,
um über ihren eigenen unmittelbaren Schmerz zu sprechen.

Mich befreit der Gedanke, dass die Kunst nicht viel gegen den Krieg ausrichten kann.
Sie kann aber seine Diskurse auseinandernehmen, um seine Wirkungen auf unser Dasein
verstehen zu lernen. Die Kunst wird also in einer Kriegssituation zum einzigen Raum,
in dem man Würde bewahren kann, weil man den Wirkungen des Krieges nicht nur
ausgesetzt ist, sondern sie auch in Frage stellt. Die Geschichte, die ich erzähle, ist
meine Art, für mich und meine Filmcharaktere einen Seinsgrund in einer irrationalen
Existenz zu finden. Ich bin nicht länger von dem Wunsch beseelt, aufzudecken oder
zu informieren.

Aus dem Englischen von Wilfried Prantner

(1) Die Schätzung basiert auf einer Studie des Jerusalem Media Communication Centre.