Seit ich They Rule gemacht habe, habe ich zahlreiche E-Mails und Faxe
von Besuchern
der Site erhalten. Ein Fax hatte folgenden Inhalt:
AN: Josh On
VON: *** ***
Hallo Josh,
ich war gerade auf der They Rule-Website und war zugleich fasziniert,
angewidert und erschrocken. Was ich wissen will: Was können wir,
das Volk, dagegen tun ohne die amerikanische Wirtschaft dabei
zu schädigen? Ich bin völlig ratlos. Bitte schreib mir doch
eine E-Mail an **********
Danke, **
Mir ging es beim Erstellen von They Rule ähnlich wie dem Verfasser
dieses Fax. Ich
war von den ineinander verwobenen Namenslisten der Fortune-100-Firmen
fasziniert.
Beim Sichten der Daten war ich vom Ausmaß der Verflechtung angewidert
(im Jahr
2001 saßen in mehr als 90 Prozent der Aufsichtsräte Mitglieder,
die in mindestens
einem weiteren der Top-100-Unternehmen auch im Aufsichtsrat waren). Und
ich war
erschrocken darüber, dass diese Aufsichtsratsmitglieder sehr oft
in Regierungskommissionen
sitzen oder einer früheren Regierung angehört hatten.
Ein kurzer Blick auf die jetzige Regierung bestätigt die Verbindung
zwischen Staat
und Großkonzernen. Bevor Condoleezza Rice Beraterin des Innenministers
wurde,
zierte ihr Name einen Öltanker; eine Ehre, die ihr wegen ihres Aufsichtsratspostens
bei Chevron zuteil wurde. Dick Cheney war CEO bei Halliburton, einem großen
USÖlkonzern,
und muss sich zum aktuellen Zeitpunkt vor der Securities and Exchange
Commission verantworten. George W. Bush selbst war viele Jahre in der
Ölindustrie
tätig und hat enge Kontakte zur ins Gerede gekommenen Enron Corporation,
die der
Hauptgeldgeber für seinen Wahlkampf war. So verwundert es nicht,
wenn Bush sagt,
dass die Rolle der Regierung darin besteht, eine Umgebung zu schaffen,
in der Unternehmen
große wie kleine florieren können. Das ist die
Rolle der Regierung.
Diese ungewöhnlich helle Aussage des Präsidenten sagt eine Menge
über die USAußenpolitik.
Die Aufgabe der US-Regierung ist es, die Welt so zu gestalten, dass
die US-Wirtschaft floriert. Unternehmen können zur Marktsicherung
nicht auf das Militär
zurückgreifen, aber sie verlassen sich darauf, dass es legitim ist,
wenn der Staat
für sie zu solch brutalen Mitteln greift. Nach dem militärischen
Erfolg der Vereinigten
Staaten in Afghanistan hat Bush Zalmay Khalilzad, einen früheren
Berater des USÖlkonzerns
Unocal, der sich für eine weichere Linie der Clinton-Regierung gegen
die
Taliban eingesetzt hatte, als US-Sonderbeauftragten nach Kabul entsandt. Auch ohne
Verschwörungstheorien wird hier deutlich, dass der Präsident
seine Vorstellung von
der Rolle der Regierung konsequent umgesetzt hat.
Während ich dies schreibe, lassen die indische und die pakistanische
Regierung die
Welt den Atem anhalten, indem sie sich gegenseitig mit atomaren Angriffen
bedrohen. Man hat das Gefühl, dass wir als Einzelpersonen den Ausgang
dieser Situation
nicht bestimmen können. Wenn überhaupt einzelne Personen darüber
die Kontrolle
haben, dann sie und nicht wir. Und sie
sind die in They Rule vorgestellten Personen.
Vielleicht nicht sie persönlich, aber ihre Klasse
die Führungsklasse.
Wenn also sie regieren, was wie schon der
Schreiber des Fax fragt können
wir, das Volk, dagegen tun, ohne die amerikanische Wirtschaft dabei zu
schädigen?
Ich denke, wir sollten zuerst einen kurzen Blick auf die amerikanische
Wirtschaft werfen.
Sie ist die stärkste der Welt, aber dennoch leben laut dem CIA World
Fact Book 12,7
Prozent der US-Amerikaner unter der Armutsgrenze. Dafür hält
eine andere Gruppe
jene Ressourcen fest in der Hand, die deren Notlage lindern könnte.
1998 besaßen
die reichsten 1 Prozent der US-Bevölkerung 38 Prozent des Reichtums,
und die Top-
5-Prozent über 60 Prozent. Da ist die Frage, ob denn die amerikanische Wirtschaft
überhaupt schützenswert ist, mehr als berechtigt.
Es ist nicht so, dass sich der Rest, der nicht dieser Machtelite angehört,
bisher zurückgelehnt
und die Situation einfach akzeptiert hat. Die Geschichte Amerikas steht
für den
Kampf der einfachen Menschen gegen die Ungerechtigkeiten der jeweiligen
Ära. Heute
wird vielfach die Macht der Profitmacher aktiv bekämpft. Lehrer und
Vertreter des Gesundheitswesens
protestieren und streiken für mehr Mittel im Sozialsektor. Es gibt
zahlreiche
Proteste gegen den Umweltrassismus der Energieindustrie, gegen das rassistische
Strafrechtssystem und gegen den US-Militarismus. Vor drei
Jahren wurde der inzwischen
berühmte Kampf von Seattle ausgefochten, wo Demonstranten
ihren Unmut
über die Gier der durch die WTO vertretenen Großkonzerne zum
Ausdruck brachten.
Politische Kunst hat solche Kämpfe oft begleitet, konnte sie jedoch
nie ersetzen. Entgegen
Bertolt Brechts Schlachtruf, Kunst sei der wirksamste Hammer, um die Welt
zu
formen, so ist sie vielleicht der Funke, der das Feuer entzündet.
Viele sind jedoch mit
der bloßen Drohung zufrieden und sehen die Kunst gerne politisch
gedämpft. Ich meine,
wir sollten so viele Feuer wie möglich entfachen. Howard Zinn meint,
dass Künstler
der Welt mehr als bloß Kunst geben sollten Künstler
sollten politisch sein. Bei einer
Historikertagung zur Zeit des Vietnamkriegs entwarfen Zinn und einige
andere folgenden
Antrag: Wir Historiker sind der Ansicht, dass die Vereinigten Staaten
aus Vietnam
abziehen sollten. Einige Historiker stimmten zu, meinten aber, dass
es nicht ihre
Aufgabe als Historiker wäre, aktuelle Ereignisse zu kommentieren.
Zinn fragte:
Wessen Aufgabe ist es? Der Historiker sagt, das
geht mich nichts an; der
Geschäftsmann sagt, das geht mich nichts an; der Anwalt sagt, das
geht mich
nichts an, und der Künstler sagt, das geht mich nichts an. Wen
geht es dann was
an? Sollen wir vielleicht die wichtigsten Weltangelegenheiten denen
überlassen,
die das Land regieren? Könnt ihr noch dümmer sein?
Künstler tragen dieselbe Verantwortung, politisch aktiv zu sein,
wie jeder andere auch.
Sie brauchen aber ihre Kunst nicht als politischen Akt zu sehen. Ein Gemälde
oder
eine Website machen keine Revolution aus, sehr wohl aber die kollektive
Handlung
der gesellschaftlichen Mehrheit. Umgekehrt kann Kunst leiden, wenn ihre
Schaffung
von politischen Zwängen des Augenblicks diktiert werden. Marx riet
Lasalle mehr
wie Shakespeare zu schreiben, [
] ich betrachte [
] es als Ihre
größte Schwäche,
Individuen zu bloßen Sprachrohren des Zeitgeists zu machen. Politische Kunst ist
keineswegs wertlos, es sollte aber anerkannt werden, dass künstlerische
und politische
Verdienste nach unterschiedlichen Kriterien bewertet werden müssen.
Wie der
Kulturkritiker und Revolutionsführer Leo Trotzki meinte:
Man kann Kunst und Politik nicht auf die gleiche Art betrachten.
Nicht, weil künstlerisches
Schaffen ein religiöser Ritus oder etwas Mystisches ist
,
sondern weil
es seine eigenen gestalterischen Gesetze kennt. Und vor allem weil unterbewusste
Prozesse eine bedeutende Rolle im künstlerischen Schaffen spielen
Die Wirtschaft scheint heutzutage besonders energisch. Die derzeitige
weltweite Rezession
führt dazu, dass das übermächtige Gewinnstreben nützliche
und angenehme
Entwicklungen im Keim erstickt. In der medizinischen Forschung werden
bereits verfügbare
Heilmittel neu entwickelt, um so Patentrechte zu umgehen. Geld fließt
in die Sicherung
von Patenten anstatt in die Distribution vorhandener Medikamente. Im Kunstbetrieb
sind Künstler gezwungen Kunst zu machen, die dem Geschmack der Galeristen,
Kunstkäufer, Theater- und Konzerthausagenturen, Agenten etc. entspricht,
oder
sie müssen ihre Arbeit anderweitig finanzieren. Es wurden und werden
unter solchen
Bedingungen zwar schon verblüffende und herausragende Kunstwerke
geschaffen,
doch ist das keinesfalls die Norm.
Wie soll sich ein Künstler oder Designer oder sonstiger Kulturschaffender
angesichts
der Beschränkungen der Kunst als ein effektives politisches Kampfmittel
in und aus
sich selbst orientieren? Vor zwei Jahren habe ich ein Interview mit dem
sozialistisch
gesinnten Fantasy-Autor China Miéville gelesen. Seine Ansicht zur
Beziehung zwischen
literarischem Schaffen und revolutionärer Politik ist mir in Erinnerung
geblieben:
Wenn ich einen Roman schreibe, so will ich eine Geschichte erzählen
und eine Welt
beschreiben, die den Leser fesselt und weiterlesen lässt. Meine Aufgabe
ist es dabei
nicht, Menschen vom Sozialismus zu überzeugen ein 700-seitiger
Fantasyroman wäre
eine denkbar ungünstige Propagandamethode. Doch als politischer Autor
von Fiktion
ist es offensichtlich unvermeidbar, dass ich auch ein Autor politischer
Fiktion bin.
Selbstverständlich arbeite ich in meinen Büchern politische
Ideen heraus. Im
Fantasygenre, das eine dermaßen konservative Tradition hat, behandelt
man dabei
sowohl Politik im Allgemeinen als auch Politik im Genre selbst. Politik
ist in meinen
Büchern, weil sie meinen Welten eine Textur verleiht und weil ich
die Gedanken dahinter
gerne weiter verfolge. Nehmen meine Leser etwas von diesen politischen
Ideen
auf, so freut mich das. Als Sozialist kann ich aber nur zutiefst enttäuscht
werden,
wenn dies in meinen Romanen das Hauptziel wäre. Will man die Ziele
sozialistischer
Politik weiter vorantreiben, so glaube ich nicht, dass es für herkömmliche
politische
Aktivität und Argumentation einen Ersatz gibt.
So bin ich auch an They Rule herangegangen. Obwohl ich They Rule nicht
vorrangig
als künstlerisches Projekt angesehen habe, sollte es nicht bloß
eine didaktische Erfahrung
sein. Ich wollte auch Ideen zur Informationsvisualisierung und das Internet
als
soziales Konstrukt erkunden, sowie einen Aspekt der Beziehungen der regierenden
Klasse offen legen. Dieses Aufzeigen der Verbindungen ist hoffentlich
ebenso faszinierend
wie provokativ.
Mit They Rule wollte ich die soziale Natur des Internet ausloten. They
Rule setzt einen
sozialen Filter ein. Besucher der Site können die Konzernverbindungen,
die sie finden,
anders anordnen oder kommentieren, einige davon verbergen, andere hervorheben
und
URLs hinzufügen und so die qualitative Information (und Fehlinformation!)
der Site erhöhen.
Am einfachsten ist das Browsen auf dieser Site, wenn man eine der Karten,
die
andere Besucher angelegt haben, verwendet. Solche Karten enthalten einige
der interessantesten und verblüffendsten Verbindungen. Auch wenn
es sich nicht um das innovativste Format handelt, so zeigt es doch deutlich,
was passieren kann, wenn man Benutzer
ermutigt, einen bleibenden Beitrag zu leisten.
Durch die Kombination von Silizium und sozialen Aspekten kann das Internet
Daten
sammeln, berechnen und anzeigen. Das Potenzial, das sich dadurch der Welt
bietet, geht
über die Welt der Bits hinaus. Anfang der siebziger Jahre beauftragte
der chilenische
Präsident Salvador Allende den kybernetischen Managementtheoretiker
Stafford Beer mit
der Entwicklung eines Regulativsystems, das die Produktion und den Vertrieb
von Gütern
im gesamten Land ordnen helfen sollte. Wir wissen leider nicht, wie effizient
dieses System
gewesen wäre, da das Projekt durch den von den USA unterstützten
Staatsstreich, bei
dem Allende und viele tausend Chilenen getötet wurden, beendet wurde.
Allein dass das
Projekt bestand, lässt uns die Möglichkeiten eines Systems erahnen,
das die Wirtschaft
auf Grundlage des Bedarfs und des Möglichen und nicht des Profits
organisiert.
Es gibt Bereiche in der Wirtschaft, die nicht vom Profit direkt gesteuert
werden. Ein
gutes Beispiel dafür, was durch Zusammenarbeit statt Konkurrenz erreicht
werden
kann, ist die Open-Source-Bewegung in der EDV. Doch auch die von radikalen
Gruppen
der Bewegung aufgebrachten Slogans gehen nicht weit genug. Es wird nicht
bloß
geistiges Eigentum gestohlen. Auch in anderen Wirtschaftsbereichen hat
sich gezeigt,
dass sie genau so effektiv sozialisiert sind. Sogar in den USA gibt es
einen großen
öffentlichen Sektor: ein Großteil des Bildungswesens, das Verkehrsnetz
und auch das
Militär. Allerdings werden sämtliche Entscheidungen über
die Aufteilung der Ressourcen
im Kontext äußerster Ungleichheit getroffen. Wo man auch hinsieht,
überall bietet sich
das Potenzial für eine bessere Welt. Ich lebe im Mission District
von San Francisco,
wo es an jeder Ecke Obdachlose gibt. Gleichzeitig stehen aber auch 58
Gewerbebauten
leer und auf vielen Lofts prangt das Schild Zu vermieten.
Warum lassen wir
zu, dass sie so schlecht regieren?
In Zeiten wie diesen reicht Kunst nicht aus. Sie kann inspirieren, Fragen
provozieren,
aber zu guter Letzt müssen wir handeln. Unser Handeln, unsere Streiks,
unsere Proteste
und unsere Organisationstätigkeit werden das System bezwingen. Es
wird nicht so
sein, wie es sich Kalle Lasn vom Adbusters-Magazin vorstellt:
Dann warten wir. Wir warten auf diesen unvermeidlichen
Tag der Abrechnung, wenn die Börse kracht oder die Welt sonst wie
destabilisiert wird. An diesem Tag stürmen wir die Fernseh- und
Radiostationen und das Internet mit unseren gesammelten Gedankenbomben.
Wir übernehmen die Straßen, Plakatwände, Bushaltestellen
und die gesamte städtische Umgebung. Aus der Verzweiflung und Anarchie,
die darauf folgt, kristallisieren wir eine neue Zukunftsvision
einen neuen Stil und eine neue Art des Seins , eine tragfähige
Agenda für den Planeten Erde. Wir brauchen gar nicht viele zu sein.
Ein globales Netz von 500 passionierten, überzeugten Künstlern,
Designern und Multimedia-Cracks könnten den Coup einfahren.
Das ist ein Extrembeispiel für Kultur als politisches Werkzeug.
Lasns Annahme liegt zu
Grunde, dass das Problem der Gesellschaft darin besteht, dass wir alle
durch die Gehirnwäsche
der Werbung hoffnungslos kooptiert sind. Vielleicht bricht das System
unter
seinen eigene Widersprüchen zusammen. Wenn wir es aber mit etwas
Funktionierendem
ersetzen wollen, brauchen wir mehr als einen von ausgebufften Medienkünstlern
geführten Coup. Die herrschende Klasse hat in der Vergangenheit bewiesen,
dass sie
die Welt lieber in die Barbarei stürzt als ihre Beute aufzugeben.
Wir müssen daher eine
organisierte Macht sein, die gewillt ist, ihnen die Macht aus der Hand
zu reißen.
Die Mehrheit der Menschen hat im täglichen Leben bereits das Sagen;
wir haben das
Internet erschaffen, wir haben die Eisenbahn gebaut etc., wir sollten
entscheiden,
wie diese Dinge hergestellt, eingesetzt und verteilt werden. Angesichts
der aktuellen
Situation ist es verständlich, dass viele keine Hoffnung für
die Zukunft sehen. Die unermessliche
Militärmacht, die drohende Krise der globalen Erwärmung, die
äußerst reale
Bedrohung durch einen atomaren Weltkrieg, all das sind mehr als nur schreckliche
Gedanken. Allerdings bieten die UdSSR Stalins, das China Maos oder das
Kuba Castros
keine attraktive Alternative, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Während man sich so
durchschlägt, belastet mit hohen Schulden und der Jobunsicherheit,
sieht die Zukunft
sehr unsicher aus. Es geht aber besser, es gibt eine Alternative. Die
Kunst kann uns
darauf hinweisen, aber wir müssen es tun. Wir müssen uns jetzt
dafür organisieren,
indem wir Vertrauen durch unseren Widerstand aufbauen. Springt ein wenig
dieser
Energie auf die Kunst über, dann umso besser. Spornt das wiederum
andere an, sich
zu organisieren hervorragend. Doch als Künstler und Menschen
dürfen wir nicht
vor der wichtigsten Aufgabe zurückscheuen, nämlich uns gemeinsam
zu organisieren
und eine Welt zu erschaffen, in der wir ehrlich sagen können: Wir
regieren.
Aus dem Amerikanischen von Michael Kaufmann
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