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Das Zeitalter des Zugangs
Kultur versus Kommerz – eine neue Politik

Jeremy Rifkins (1)

Von Märkten zu Netzwerken

Die Marktwirtschaft ist zweifellos die ehrwürdigste Institution der Moderne. Nationalstaaten
wurden errichtet, um ihre Funktionsweise zu schützen, und Kriege wurden ausgetragen,
um ihre Früchte zu ernten. Nun beginnt diese Säule des zeitgenössischen Gesellschaftslebens
zu zerbröckeln. Die neue Bedrohung, der sie ausgesetzt ist, ist jedoch weder
ein äußerer noch ein ideologischer Einfluss, sondern eher technischer und unternehmerischer
Natur. Neue Software, Telekommunikation, Internet und B2B-Handel schaffen in ihrem
Zusammenspiel ein rivalisierendes neues Wirtschaftssystem, das sich vom Marktkapitalismus
in derselben Weise unterscheidet wie dieser sich vom Merkantilismus. In dieser
neuen Ära weichen Märkte Netzwerken, sind Eigentumsrechte weniger wichtig als
Zugangsberechtigungen und stehen die Kommodifizierung und der Austausch von
Gütern hinter der Kommodifizierung von Zeit und Kultur der Menschen zurück.

In einer Epoche, in der Zeit in Nanosekunden gemessen wird und das kommerzielle Leben
auf einer 24/7-Basis beruht, geht das Zusammentreffen von Käufern und Verkäufern zum
Zweck des Austauschs gegenständlichen Eigentums in geografisch basierten Märkten
einfach zu langsam vor sich. Mit einem einfachen Mausklick können Unternehmen wie
Sony Music Entertainment und EMI Recorded Music rascher Musikdateien an Menschen
auf der ganzen Welt verteilen und ganze Songbibliotheken austauschen, als eine Registrierkassa
beim Kauf einer einzelnen CD überhaupt klingeln kann. Darüber hinaus reduzieren
die neuen Informationstechnologien die Transaktionskosten auf ganz dramatische
Weise und eliminieren quasi die traditionellen Gewinnspannen in Verkauf und Vertrieb.

Man braucht nur die Transaktionskosten für Produktion, Verpackung, Inventur, Transport
und Merchandising einer einzigen CD auf dem Markt mit den Kosten für die Produktion
einer einzelnen Musikaufnahme und deren sofortiger Verteilung an Millionen
Menschen über ein elektronisches Netzwerk, praktisch ohne zusätzlichen Kostenaufwand,
zu vergleichen. Wenn die Transaktionskosten gegen Null gehen, so werden marktbasierte
Transaktionen zum Anachronismus. Aus diesem Grund gibt es in einer auf Hyper-
Geschwindigkeit basierten Netzwerkökonomie weder Käufer noch Verkäufer, sondern
nur diejenigen, die Zugang zur Verfügung stellen (Provider), und diejenigen, die Zugang
nutzen (User). Tatsächlich wird die bloße Vorstellung, jedes Mal, wenn jemand einen Bedarf
hat, den Austausch von Eigentum auf einem Markt zu verhandeln, uns in einigen Jahren
schon frustrierend langsam erscheinen, genauso wie zu Beginn der Marktwirtschaft der
traditionelle Tauschhandel als zu langsam und umständlich empfunden wurde.

Das heißt nicht, dass im heranbrechenden Zeitalter des Zugangs das Eigentum
verschwinden wird. Ganz im Gegenteil. Eigentum wird weiter bestehen, doch es wird
weitaus seltener auf Märkten gehandelt werden. Stattdessen werden die Lieferanten
in dieser neuen Wirtschaft ihr Eigentum behalten und es verleasen, vermieten bzw. für
die kurzfristige Benutzung Zugriffsgebühren oder Mitgliedsbeiträge in Rechnung stellen.

Der Austausch von Eigentum zwischen Käufern und Verkäufern – der wichtigste
Wesenszug der modernen Marktwirtschaft – weicht so dem kurzfristigen Zugang der
Klienten zu einem Server im Rahmen einer vernetzten Geschäftsbeziehung. Märkte bleiben bestehen, spielen jedoch im Geschäfts- und Privatleben eine immer geringere Rolle.
Die neuen Softwaretechnologien ermöglichen konstante Feed-back-Aktivitäten und
führen die Wirtschaft auf diese Weise weg von diskreten Markttransaktionen und hin
zum kontinuierlichen, ununterbrochenen vernetzten Zugriff. Man bezahlt dafür, rund
um die Uhr auf „Just-in-time“-Erfahrungen zugreifen zu können. Autofirmen, Film- und
Musikgesellschaften, und Bücherverlage verkaufen nicht mehr nur das gegenständliche
Produkt – das Auto, den Film, das Video, die CD oder das Buch. Vielmehr machen
sie ihre Kunden verstärkt zu Klienten und verkaufen den Zugang zu der „Erfahrung“,
ein Auto zu fahren, einen Film anzusehen, Musik zu hören oder ein Buch zu lesen.

In der Netzwerkökonomie wird man sowohl auf physisches als auch intellektuelles Eigentum
eher nur zugreifen als es austauschen. Der Besitz von physischem Kapital jedoch
– einst das Kernstück des industriellen Lebens – wird für wirtschaftliche Abläufe immer
mehr an Bedeutung einbüßen. Es ist wahrscheinlicher, dass physisches Kapital von Unternehmen
eher als Betriebskosten gesehen wird denn als ein Vermögenswert, eher als
Leihgegenstand denn als Besitz. Viele Unternehmen sind in der Entwicklung von der
Eigentums- zur Zugangsorientierung bereits sehr weit fortgeschritten. Sie verkaufen ihre
Immobilien, reduzieren ihr Inventar, verleasen ihre Ausrüstung und lagern in einem Wettrennen
ums eigene Überleben viele Bereiche aus, um sich von jeder erdenklichen Form
des physischen Eigentums zu befreien. Das heiß begehrte intellektuelle Kapital andererseits
stellt den Motor dieser neuen Ära dar. Konzepte, Ideen und Bilder – keine Gegenstände
– sind die wahren Wertgegenstände in dieser neuen Wirtschaftsordnung.

Das Zeitalter des Zugangs („Access“) wird wohl ebenso lebhaft und herausfordernd
sein wie das industrielle Zeitalter. Es wird große Vorteile und ebenso ernste Gefahren
und Dislozierungen mit sich bringen. So wird im Übergang von Märkten zu Netzwerken
die Steuerung der eigenen Umgebung zur Entscheidungsfrage für Unternehmen
werden, weil das Eigentum in vernetzten Systemen erstmals immer in den Händen der
Produzenten verbleibt und von den Benutzern nur darauf zugegriffen wird.

Dieser Übergang von einer Eigentumsorientierung, das auf dem Konzept der breiten
Besitzstreuung basiert, zu einer Zugangsorientierung, das auf der Sicherung der kurzfristigen,
beschränkten Nutzung von durch Supplier-Netzwerke kontrollierten Wirtschaftsgütern
aufbaut, wird in den kommenden Jahren zu einer grundlegenden Veränderung
unserer Vorstellung von der Ausübung wirtschaftlicher Macht führen. Da unsere
politischen Institutionen und Gesetze ebenso von marktbasierten Eigentumsverhältnissen
durchdrungen sind, bringt der Wechsel von der Eigentumsorientierung zur Zugangsorientierung
im neuen Jahrhundert auch tief greifende Veränderungen in der Gestaltung
unserer Regierungs- und Verwaltungsarbeit mit sich. Noch wichtiger ist vielleicht,
dass in einer Welt, in der persönliches Eigentum lange Zeit als Erweiterung des eigenen
Daseins, als „Maß der menschlichen Existenz“, galt, die schwindende Bedeutung
von Eigentum im Geschäftsleben ahnen lässt, wie künftige Generationen das Wesen
des Menschen wahrnehmen. Eine durch und um Zugangsverhältnisse strukturierte Welt
wird wahrscheinlich eine ganz andere Art von Menschen hervorbringen.

Zwischen zwei Welten

Die Veränderungen, die in der Strukturierung wirtschaftlicher Beziehungen auftreten,
sind Teil einer noch größeren Transformation im Wesen des kapitalistischen Systems.
Wir vollziehen eine langfristige Verlagerung von der industriellen hin zur kulturellen
Produktion. Die modernsten Formen des Handels werden in Zukunft mit der Vermarktung
einer breiten Palette kultureller Erfahrungen befasst sein anstatt mit der bloßen
Vermarktung herkömmlicher industrieller Güter und Dienstleistungen. Globale Reisetätigkeit
und Tourismus, Themenstädte und -parks, Multiplex-Entertainment-Center,
Wellness, Mode und Top-Cuisine, Profisport und Spiele, Glücksspiel, Musik, Film, Fernsehen,
die virtuellen Welten des Cyberspace sowie elektronische Unterhaltung jeder
Art rücken immer rascher ins Zentrum des neuen Hyper-Kapitalismus, der mit den
Zugangsmöglichkeiten zu kulturellen Erfahrungen handelt.

Hand in Hand mit der Metamorphose von der Industrieproduktion hin zum Kulturkapitalismus
geht ein ebenso tief greifender Wandel von der Arbeitsethik zur Spielethik.
Während sich das industrielle Zeitalter durch die Kommodifizierung von Arbeit
auszeichnete, ist das Zeitalter des Zugangs vor allem durch die Kommodifizierung
des Spiels gekennzeichnet – nämlich der Vermarktung kultureller Ressourcen,
einschließlich Rituale, Kunst, Festivals, Sport, Spiele, gesellschaftlicher Bewegungen,
spiritueller und vereinsmäßiger Aktivitäten und zivilem Engagement in Form von bezahlter
persönlicher Unterhaltung. Der Kampf zwischen der kulturellen und der kommerziellen
Sphäre um die Kontrolle des Zugangs zu diesen Spielen und zu deren Inhalt
wird eines der Grundelemente der kommenden Ära darstellen.

Transnationale Medienunternehmen mit weltumspannenden Kommunikationsnetzwerken
zapfen überall auf der Welt die lokalen Ressourcen an und verpassen ihnen ein neues
Label als kulturelle Waren und Unterhaltungsmöglichkeiten, für die man bezahlen muss.
Die reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung geben heute fast genauso viel ihres
Einkommens für den Zugriff auf kulturelle Erfahrungen wie für den Kauf von Industrieprodukten
und grundlegenden Dienstleistungen aus. Wir bewegen uns auf eine
Wirtschaftsform zu, die Ökonomen als „Erfahrungsökonomie“ bezeichnen – eine Welt,
in der das Leben jedes Einzelnen im Prinzip zu einem kommerziellen Markt wird.
Im Industriezeitalter, als die Güterproduktion die wichtigste Form wirtschaftlicher Tätigkeit
darstellte, war die Ausstattung mit Eigentum für das physische Überleben und
den Erfolg des Einzelnen ausschlaggebend. Im neuen Zeitalter, in dem kulturelle Produktion
immer mehr zur dominanten Form wirtschaftlicher Aktivität wird, kommt der Sicherung
von Zugangsmöglichkeiten zu den zahlreichen kulturellen Ressourcen und
Erfahrungen, die die geistige Existenz nähren, ebenso große Bedeutung zu wie dem
Besitz von Eigentum.

In den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts war die Deregulierung
staatlicher Funktionen und Dienstleistungen der letzte Schrei. In weniger als 20 Jahren
hat der globale Markt einen Großteil dessen, was früher im staatlichen Kompetenzbereich
lag – wie etwa öffentlicher Verkehr, Versorgungsunternehmen und Telekommunikation
–, erfolgreich absorbiert und in den kommerziellen Bereich überführt. Nun
wendet die Wirtschaft ihre Aufmerksamkeit der letzten noch unabhängigen Domäne
des menschlichen Lebens zu, nämlich der Kultur. Kulturelle Rituale, Community-Events,
gesellschaftliche Zusammenkünfte, Kunst, Sport und Spiel, soziale Bewegungen und
ziviles Engagement werden nun allesamt vom Kommerz vereinnahmt. Die große Frage
der nächsten Jahre wird lauten, ob die Zivilisation die starke Reduktion des staatlichen
und kulturellen Bereichs und die Tatsache, dass der Wirtschaft die ausschlaggebende
Mediatorrolle im menschlichen Zusammenleben zukommt, verkraften wird.

Der Zusammenprall von Kultur und Kommerz

Die Kommerzialisierung der kulturellen Sphäre signalisiert eine grundlegende Änderung
in den menschlichen Beziehungen und droht Besorgnis erregende Konsequenzen für
die Zukunft der Zivilisation zu haben. Seit Anbeginn der menschlichen Zivilisation biszum heutigen Tag ist die Kultur den Märkten immer vorangegangen. Die Menschen
bilden Gemeinschaften, konstruieren einen komplexen sozialen Verhaltenskodex,
reproduzieren gemeinsame Inhalte und Werte und bauen gesellschaftliches Vertrauen
in Form von sozialem Kapital auf. Nur wenn das soziale Vertrauen und der gesellschaftliche
Austausch gut entwickelt sind, können Gemeinschaften Handel treiben und
Geschäfte abschließen. Der kommerzielle Bereich ist also immer ein Derivat der Kultur
und somit von dieser abhängig. Das liegt daran, dass die Kultur die Quelle ist, aus der
heraus vereinbarte Verhaltensnormen geschaffen werden. Diese Verhaltensnormen wiederum
schaffen eine Umgebung, in der ein hoher Grad an Vertrauen herrscht, und in dieser
Umgebung kann Handel stattfinden. Wenn sich der kommerzielle Bereich den kulturellen
Bereich einverleibt, so droht er die sozialen Grundlagen zu zerstören, auf denen
Handelsbeziehungen überhaupt aufbauen.

Die Wiederherstellung einer ausgewogenen Balance zwischen dem kulturellen und
kommerziellen Bereich wird wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen des
beginnenden Zeitalter des Zugangs sein. Für „kulturelle Ressourcen“ besteht das Risiko
der übermäßigen Ausbeutung durch den Handel und der völligen Erschöpfung, so wie
dies im Industriezeitalter für die natürlichen Ressourcen galt. Eine der vorrangigsten
politischen Aufgaben des neuen Jahrhunderts besteht somit darin, nachhaltige Möglichkeiten
ausfindig zu machen, wie man die reiche kulturelle Vielfalt, die das Herzstück
der Zivilisation darstellt, in einer globalen Netzwerkökonomie, die verstärkt auf dem
bezahlten Zugang zu kommodifizierten kulturellen Erfahrungen basiert, erhalten und
fördern kann.

In allen Ländern konzentriert sich die öffentliche Politik vor allem auf den ersten Sektor
(den Markt) und auf den zweiten Sektor (die Regierung), während der dritte Sektor (die
Kultur) oft als selbstverständlich hingenommen wird, ohne zu erkennen, welch entscheidende
Rolle sie im Aufbau von sozialem Vertrauen und in der Ermöglichung von Märkten
und Handel spielt. Die kulturellen Institutionen einer Gesellschaft – die Kirchen,
weltlichen Institutionen, zivilen Vereinigungen, Vereine, Sportklubs, Künstlergruppen
und NGOs – sind die Quelle sozialen Vertrauens. Durch ihre Existenz werden Märkte
überhaupt erst möglich. In Gemeinschaften und Ländern, in denen der dritte Sektor
stark entwickelt ist, blühen kapitalistische Märkte auf. Wo der dritte Sektor schwach
ist, sind kapitalistische Märkte generell gefährdeter und weniger erfolgreich. Obwohl
einige Neoliberale und Neokonservative und die meisten Freigeister weiterhin der Überzeugung
sind, dass eine gesunde Wirtschaft dynamische Gemeinschaften erzeugt, ist
es in Wirklichkeit öfter genau umgekehrt: Eine starke Gemeinschaft ist die Voraussetzung
für eine gesunde Wirtschaft, da nur sie soziales Vertrauen erzeugt.

Interessanterweise beginnen internationale Kreditgeber wie die Weltbank dieses Verhältnis
zwischen Kultur und Wirtschaft gerade erst zu verstehen. Jahrzehntelang haben
diese Institutionen in dem Glauben, dass eine starke Wirtschaft die gesellschaftliche
Entwicklung fördern würde, teure Projekte zur wirtschaftlichen Entwicklung der
neuen Volkswirtschaften finanziert. Nachdem jahrelang nur Teilerfolge oder überhaupt
Fehlschläge verzeichnet wurden, hat man nun begonnen, die Mittel nun vorrangig auf
die Förderung von Sozialentwicklungsprojekten zu konzentrieren, da man erkannt hat,
dass starke Gemeinschaften, eine robuste Kultur, die Grundvoraussetzung für wirtschaftliche
Entwicklung darstellen, und nicht einen Nutznießer derselben.

Der UNESCO-Weltkulturbericht 1998 kategorisiert die steigende Spannung zwischen
Kultur und Wirtschaft mit starken Worten. Die UNO-Behörde argumentiert:

Die kulturellen Werte, die lokale, regionale oder nationale Gemeinschaften identifizieren und miteinander verbinden, scheinen Gefahr zu laufen, von den rücksichtslosen Kräften des globalen Marktes überwältigt zu werden. Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob die Gesellschaften die Auswirkungen der Globalisierung so bewältigen können, dass lokale bzw. nationale Kulturen und die ihnen zu Grunde liegende Kreativität nicht Schaden nehmen, sondern vielmehr bewahrt oder sogar gestärkt werden.

Somit wird eine der wichtigsten politischen Aufgaben des kommenden Zeitalters wohl
darin bestehen, Kultur und Wirtschaft wieder in ein ökologisches Gleichgewicht zu bringen.
Dies erfordert, dass man der Revitalisierung lokaler Kulturen ebenso viel Aufmerksamkeit
widmet wie der Sicherung des Zugangs zu kulturellen Waren auf dem Markt.

Die Politisierung des dritten Sektors

Die aktuelle Politik umfasst im Allgemeinen ein polares Spektrum, wobei an einem
Ende die Wirtschaft, am anderen die Regierung steht. Die Kultur bzw. der dritte Sektor
ist normalerweise, so sie überhaupt eine Rolle spielt, nur ein Nachsatz. Außer in wenigen
Ausnahmefällen wird sie aufs Abstellgleis geschoben, wo sie bestenfalls eine unbedeutende
Nebenrolle in den impulsiven Entscheidungen spielt, die das Leben der
Gemeinschaft betreffen. Das alles wird sich ändern. Zuerst einmal werden die Regierungen
ihre historische Rolle auf allen Ebenen reduzieren. Viele ihrer Funktionen sind
bereits dereguliert und dem freien Markt überantwortet worden. Andere Funktionen
sind eingeschränkt worden – obwohl einige behaupten würden, es handelt sich dabei
um Rekonfigurationen und Rationalisierungen. Wie auch immer, die Regierungen spielen
heute im Management des täglichen Lebens lokaler Gemeinschaften eine weitaus
geringere Rolle. Zugleich sind Geschäfte immer weniger lokal ausgerichtet und
orientieren ihre Aktivitäten immer stärker global. Viele wandern von einer geografischen
Umgebung in den Cyberspace und lockern dabei ihre traditionellen Verbindungen
zur Geografie bzw. durchtrennen sie ganz. Wie die Regierungen nehmen sie immer
weniger Anteil an lokalen Angelegenheiten. Die stetige Loslösung der Regierungen
und des Handels von lokalen Gemeinden auf der ganzen Welt hinterlässt ein immer
größer werdendes institutionelles Vakuum. In dieses Vakuum dringt in einigen Fällen
ein verjüngter dritter Sektor und in anderen Fällen ein gestärkter vierter Sektor, der
sich aus Schattenwirtschaft, Schwarzmarkt und krimineller Kultur zusammensetzt. Das
eigentliche Wettrennen der nächsten Jahre wird in allen geografischen Regionen dieser
Welt zwischen dem dritten und dem vierten Sektor stattfinden und es wird dabei um
die Kontrolle der lokalen Geografie gehen, die von Regierungen und Unternehmen
teilweise im Stich gelassen wird.

Damit der dritte Sektor Bestand hat, wird er sich politisieren müssen, indem er seine
verschiedenen Institutionen, Aktivitäten und Interessen vereinigt und sich so einer gemeinsame
Mission verschreibt. Damit das möglich ist, wird man die Bedeutung der Geografie
beim Finden einer gemeinsamen Basis anerkennen müssen.

Wenn globale Netzwerke, Cyberspace-Handel und Kulturproduktion eine Seite der
neuen Machtpolitik des nächsten Jahrhunderts darstellen, so symbolisieren das Wiederaufleben
eines profunden gesellschaftlichen Austauschs, die Neuschaffung sozialen
Vertrauens und Kapitals sowie die Wiederherstellung starker geografischer Gemeinschaften
die andere Seite. In einer Zeit, die vermehrt kurzlebigen einfachen Verbindungen,
virtuellen Realitäten und kommodifizierten Erfahrungen überlassen wird, lautetder widersprüchliche Schlachtruf: „Geografie zählt! Auf die Kultur kommt es an!“ Nur
wenn die lokale Kultur zu einer kohärenten, selbstbewussten politischen Kraft wird,
wird es möglich sein, ihre entscheidende Rolle in der Struktur der menschlichen Gesellschaft
wieder zu etablieren. Zehntausende starke, geografiebasierte, menschliche
Gemeinschaften, die intern durch eingebettete soziale Beziehungen zusammengehalten
werden und extern durch den gemeinsamen Sinn für die Bedeutung der Aufrechterhaltung
der Kulturvielfalt miteinander verbunden sind, stellen sowohl eine mächtige
gesellschaftliche Vision dar als auch ein Gegenmittel zur Politik der globalen kommerziellen
Netzwerke, die im Cyberspace agieren.

Interessanterweise sind politisierte lokale Kulturen gleichzeitig eine der auf globalen Netzwerken
basierten Wirtschaft entgegenwirkende Kraft sowie eine notwendige Vorbedingung
für deren Fortbestand. Schwächt oder eliminiert man die kulturelle Vielfalt, so werden
die kapitalistischen Märkte schlussendlich zusammenbrechen, weil so – wie bereits erwähnt
– das soziale Vertrauen und das gesellschaftliche Kapital versiegen und nicht mehr als
Fundament zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung von Wirtschaft und Handel zur Verfügung
stehen. Würde das passieren, so fänden die Überreste des kapitalistischen Systems
ihren Weg in den vierten Sektor, wie dies gerade in Russland der Fall ist, wo sie in einem
großteils informellen (Schwarz-)Markt in einer Kultur mit Outlaw-Charakter existieren
würden. Die Vorbedingung zur Sicherung des Zugangs zur globalen Cyberspace-Ökonomie
besteht also darin, den Zugang zu den unterschiedlichen lokalen Kulturen wieder
zu sichern bzw. erneut herzustellen.

Dennoch ist ein Wort der Warnung angebracht. Die Wiederherstellung von Kultur kann
genauso zu einer neuen, virulenten Form von Fundamentalismus führen wie zu einer
Wiederbelebung kultureller Vielfalt. Auf der ganzen Welt erleben heutzutage fundamentalistische
Bewegungen, sowohl im politischen wie im religiösen Bereich, einen
Aufschwung. Ultra-nationalistische politische Parteien, Separatistengruppen, Bewegungen
mit dem Ziel ethnischer Säuberung, und religiöser Fundamentalismus stellen
eine extreme Gegenreaktion auf die Kräfte der Globalisierung und der Postmodernisierung
dar. Fundamentalistische Bewegungen sind ein Versuch, die Kommunikation
mit einer Welt, die man für krank und sündig hält, abzubrechen. Sie streben danach,
die lokale Kultur von den Verderben bringenden Einflüssen der Außenwelt abzuschotten.
Im Herzen all dieser fundamentalistischen Bewegungen liegt eine Belagerungsmentalität,
die sich durch den verzweifelten Versuch äußert, den wahren Glauben – sei
er nun ideologisch, theologisch oder ethnisch – gegen Verräter, Untreue oder andere
schädliche Einflüsse zu verteidigen.

Fundamentalistische Bewegungen sind immer tief in der Geografie verwurzelt. Tatsächlich
zieht sich die Verteidigung des Hoheitsgebietes wie ein roter Faden durch quasi
sämtliche fundamentalistische Credos. Die Verteidigung des Landes der Vorfahren, des
Heiligen Landes, des Vaterlandes vereint Menschen in einem Kampf um Leben und
Tod gegen satanische Mächte. Hinter jeder dieser Bewegungen steht die Idee, in einer
chaotischen Welt durch die Wiederherstellung von Grenzen Ordnung zu schaffen. Dies
ist die ultimative Reaktion auf eine grenzenlose Welt globaler Netzwerke und Kommunikationsströme.

Man sucht Beständigkeit in einer Welt der kontinuierlichen Veränderung
und versucht, die Welt durch die Resakralisierung des Territoriums im Zaum zu
halten. In einer immer stärker temporal geprägten Welt bewahrt man strikte Loyalität
zum Ort. Fundamentalistische Bewegungen sind ihrem Wesen nach ausschließend und
sehen jede Form des Zugangs als korrumpierenden Einfluss.

Viele Beobachter zeigen sich besorgt, dass ein neu auflebendes Interesse an loka-
len Kulturen zu Xenophobie und ultranationalistischen Ansichten führen könnte. Das
muss nicht sein. Wenn den Menschen auf der ganzen Welt klar würde, dass sie ihre
eigenen kulturellen Ressourcen und die anderer als Geschenke ansehen, die sie gegenseitig
austauschen können, so könnten die großen Migrationsbewegungen des 21.
Jahrhunderst mithelfen, die menschliche Gesellschaft neu zu befruchten und die Welt
für eine wirkliche Ära der Globalisierung vorzubereiten.

Die Bereicherung der kulturellen Vielfalt in all ihren positiven Formen ist heute wichtiger
als je zuvor, wenn wir die Interessen des Welthandels vorantreiben wollen. Was
könnten also angemessene Faustregeln zur Wiederherstellung kultureller Vielfalt als
legitimer Mittelpunkt des menschlichen Lebens sein, sei es in Österreich, den Vereinigten
Staaten oder in irgendeinem anderen Land auf der Welt?

Zuerst müssen wir bedenken, dass Kulturen etwas Lebendiges sind. Um zu blühen
und zu gedeihen, brauchen sie ständig Nahrung in Form von Infusionen: durch Ideen
von außen. Deshalb ist die Immigration so eine (lebens)wichtige Kraft. Immigration
stellt die Rohmaterialien für das Wachstum kultureller Vielfalt zur Verfügung. Ohne
einen steten Fluss frischen Bluts würden Kulturen versiegen und verschwinden.
Zweitens kann man Kultur nicht besitzen. Sie ist keine Sache, die man erworben hat
und festhalten kann. Vielmehr ist Kultur ein Spielfeld für die Menschen, wo wir Freude
erleben und durch tiefe Anteilnahme am Leben unserer Mitmenschen unsere eigene
Menschlichkeit entdecken können. Es ist die höchste Form menschlicher Interaktion
und stellt etwas dar, das man „zelebrieren“, nicht verteidigen, „miteinander teilen“ und
nicht einander aufzwingen soll.

Mahatma Gandhi hat vielleicht die Ansichten vieler heutiger zivilgesellschaftlicher Organisationen
am besten zum Ausdruck gebracht, indem er sagte: „Ich möchte nicht, dass
mein Haus an allen Seiten zugemauert ist und alle meine Fenster verstopft sind. Ich
möchte, dass die Kulturen aller Länder so frei wie möglich durch mein Haus wehen
können. Aber ich möchte auf keinen Fall von ihnen verweht werden.“ Sich gegenseitig
einen offenen Zugang zu verschiedenen Kulturen zu gewähren und dabei gleichzeitig
die einzigartigen Wesenszüge und Qualitäten der eigenen Kultur zu bewahren
ist der Gedanke, der die Bewegung zivilgesellschaftlicher Organisationen von verschiedenen
fundamentalistischen Bewegungen unterscheidet. Die Kraft, die bei der Mobilisierung
und Politisierung lokaler Kulturen auf der ganzen Welt den Sieg davonträgt,
wird auch einen Großteil der Politik und der Geopolitik im neuen Zeitalter bestimmen.
Die Fähigkeit der Mitte-Links-Parteien wiederum, sich mit den Interessen der Zivilgesellschaft
und der kulturellen Vielfalt zu identifizieren und diese auch zu fördern,
wird bei der Sicherung ihrer Bedeutung und Lebensfähigkeit im kommenden Jahrhundert
eine ausschlaggebende Rolle spielen.

Aus dem Amerikanischen von Susanne Steinacher


(1) Jeremy Rifkin is the author of Access: Das Verschwinden des Eigentums: Campus Verlag, (The Age of Access: Tarcher/Putnam), and a fellow at the Wharton School in the United States. He is also president of The Foundation on Economic Trends in Washington, D.C.