Plug it in!

Manchmal verändern sich die Dinge und Zeitläufte tatsächlich. Als Bob Dylan beim Newport Folk Festival 1965 mit einer elektrischen Gitarre auf die Bühne kam und das Kabel in einen Verstärker steckte, wurde er ausgebuht. Er verließ, wenigstens aus Sicht vieler seiner Zuhörer, den Zirkel eines authentisch wahrhaftigen Folk zugunsten des lauten, garstigen Rock’n Roll. Als Bob Dylan nun kürzlich, nach rund 37 Jahren, nach Newport zurückkehrte, gab es wiederum Zwischenrufer – doch manche riefen nun: „Plug it in!“ (1)

Seit die Welt sich teilt in Bezirke, die „plugged in“, und andere, die „unplugged“ sind, ist dies Teil einer heftigen Konfrontation, die den Konflikt zwischen „jenen draußen“ und „diesen drinnen“ untrennbar verknüpft mit einem Kulturkampf zwischen jenen, die sich bewusst draußen halten wollen (egal wovon), und anderen, die engagiert bis fröhlich dazwischen rufen: „Plug it in!“

Die Frage, die sich stellt, ist jedoch zunehmend: Wie lange halten es die Bewahrer der jeweils reinen Lehre durch, ihr Draußensein zu bewahren? Dabei geht es natürlich längst nicht nur um Dinge wie das Internet, sondern um die Macht über die öffentlichen Räume der Kultur, der Bedeutungen und der Werte.

Als 1989 mit dem Eisernen Vorhang sich die Grenzen zu den ehemals sowjetisch beherrschten Ländern Mittel- und Osteuropas und Zentralasiens öffneten, schwappte eine wahre Flutwelle „westlicher“ Kultur- und Medieninhalte durch die Region, die gierig aufgesogen wurde. Zu Gast in einem kleinen, abgelegenen Dorf in Rumänien, wo selbst die Grundversorgung mit Elektrizität und mit sauberen Brunnen nicht immer gewährleistet war, saß ich mit einer Bauernfamilie allabendlich vor einem flackernden Schwarzweiß-Schirm, über den „Dallas“ lief, und alle starrten wie gebannt drauf, um aus der Soap Opera die neuen sozialen Rollenmodelle und Persönlichkeitsmuster abzulesen. Plötzlich war das Dorf in Maramures „plugged in“.

Doch wenig später folgten zwei bittere Erfahrungen, welche den Gewinn in ein ganz neues, schiefes Licht rückten. Die eine war, dass die Menschen aus den Dörfern kaum eine Chance hatten, selbst die eben geöffneten Grenzen zu überschreiten, etwa um auch nur vorübergehend „in Europa“ einen Job anzunehmen. Beinahe noch wichtiger, weil noch deprimierender, war aber die andere Erkenntnis, dass die Grenzüberschreitung der bunten Bilder und Inhalte nur eine Einbahnstraße war. Rumänien sollte wie all die anderen neuen Märkte zwar diese Inhalte kaufen. Aber kein Mensch außerhalb Rumäniens war interessiert daran, auch umgekehrt rumänische Inhalte in erheblichem Ausmaß zu importieren. Diese Verzerrung nährt etwa heute in nahezu allen EU-Beitrittskandidaten politisch starke Strömungen, die einen Beitritt schlicht ablehnen und ihr Land „draußen“ zu halten, um die eigene „Authentizität“ nicht zu beschädigen.

Eine ganz ähnliche Reaktion, nur im weit größeren und vehementeren Stil, registrieren nahezu alle aufmerksamen Beobachter der islamischen Welt, wo sich Meinungsführer, durchaus populistisch, laut und erfolgreich, aus eben solchen Gründen für eine Abgrenzung gegenüber „dem Westen“ engagieren. Was in aller Regel den Import von Nachfolge-Soaps aus Hollywood übrigens nicht ausschließen muss.

Die dritte Grundvariante im Konflikt um das widerspenstige Begriffspaar von „plugged in/unplugged“ findet sich in Ländern wie China oder Singapur, die sich in ihren allgemeinen Verkehrsformen radikal öffnen und eingeklinkt haben ins System der globalen Wirtschaftsnetze, die sich jedoch auf der Ebene der Werte, der Kultur ganz entschieden draußen halten wollen, die, anders gesagt, die sich mühen, die Definitionsmacht über ihre Identität souverän beizubehalten.

Singapur wie China experimentieren mit allen Mitteln, Internet-Inhalte systematisch zu filtern wie auch den Zugang zum Internet insgesamt zu kontrollieren.

Nach dem bewährten Grundprinzip, wonach der Mangel die Schaffung eines Schwarzmarktes geradezu erzwingt, stößt die polizeiliche Kontrolle erst einmal auf Widerstand in den Köpfen. In einem Ambiente, das noch keinen klaren Konsens über die Spielregeln im Umgang mit offenen kulturellen Welten ausgebildet hat, passiert Erstaunliches, und das auch noch heftig und rasch. Wird etwa das Warten auf einen neuen Harry-Potter-Band allzu lang, schreibt irgendjemand rasch einen eigenen und bringt diese Fälschung mit Furore und Erfolg auf den Markt. (2)

Dies ist in Europa etwa, wo die Einhaltung von grundlegenden Urheberrechten auf einem breiten Konsens beruht, kaum vorstellbar. Mehr noch, „freiwillige Selbstbeschränkungen“ zählen zu den wirkungsvollsten Möglichkeiten, Inhalte wie auch (z. B. Preis-) Strukturen auf den Märkten zu regulieren. Dies funktioniert vermutlich aber nur, weil prinzipiell die Möglichkeit besteht, die Spielregeln auch wieder zu ändern – und beispielsweise Bob Dylan in Newport nach 37 Jahren zuzugestehen, dass er zur elektrischen Gitarre greift.

Das Problem ist demnach weniger eines der Durchsetzbarkeit oder der Machtausübung, sondern eine Frage des Konsens. (Dies unterstreicht auch die geradezu beispielhafte Modernität dieses Konfliktes.)

Gelingt es, innerhalb einer bestimmten Gruppe – die durchaus ein ganzes Land oder mehr umfassen kann – einen breiten und nachhaltigen Konsens über Einbeziehung und Ausschluss herzustellen, sind die Aussichten auf Durchsetzung gerade im Zeitalter der offenen Netzwerke sogar relativ groß. Es können sogar ganze Staffelungen und Hierarchien von abgegrenzten und ausgegrenzten Bezirken entstehen, mit relativ offenen Grenzen, die dennoch überraschend dicht bleiben.

Vielleicht gilt als Daumenregel schlicht, dass die Stärke des Konsens ein Maß dafür ist, wie überwindbar oder unüberwindbar die Grenze zwischen jenen da draußen und uns drinnen ist. Konsens, übersetzt ins Politische, ist dabei ein Synonym für das jüngst etwas abgegriffene Wort 'Solidarität'.

Anmerkungen

(1) Jon Pareles: Dylan returns to cheers in Newport. International Herald Tribune, August 7, 2002.back to top
(2) „Harry-Potter-Fälschung findet reißenden Absatz in Peking“. Dpa, 4. Juli 2002: „Unter dem Namen der britischen Autorin Joanne K. Rowling und mit ihrem Foto findet ein gefälschter Harry-Potter-Band in China reißenden Absatz. Bei dem Verkaufsschlager auf Pekings Straßenmärkten mit dem Titel «Harry Potter und der Leopardenpfad zum Drachen» handele es sich nicht etwa um eine Frühauslieferung des fünften Potter-Bandes, sondern um eine chinesische Fälschung, berichtete die ‚Times’ in London.“ back to top




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