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INFOWAR: UNTERBRECHUNG DER INFORMATION IM UND ALS KRIEG: ARDENNENOFFENSIVE
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ARS ELECTRONICA FESTIVAL 98
INFOWAR. information.macht.krieg
Linz, Austria, september 07 - 12
http://www.aec.at/infowar
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UNTERBRECHUNG DER INFORMATION IM UND ALS KRIEG: ARDENNENOFFENSIVE
"A trace here, a trace there"
(Charles Whiting)
Im Verlauf der ersten Tage der deutschen Ardennen-Offensive im Dezember
1944 notiert General Patton: "We can still loose this war."
DIE LAGE DEZEMBER 1944
Der Infowar ist im Mitte Dezember fuer einen Moment suspendiert. Das
alliierte Oberkommando war ueber deutsche Truppenbewegungen an der
Westfront informiert, zog daraus jedoch keine Schlussfolgerung: "Um
Mitternacht des 15. Dezember lag alles Tatsachenmaterial gesammelt vor"
<John Toland, Ardennenschlacht, Bergisch Gladbach 1959, 20>. Am Nullpunkt
dessen, was erst narrative Nachtraeglichkeit zum Ereignis stilisiert,
entspricht die Struktur der Gegenwart der Logistik des Archivs:
Nachrichtenlagen. Das kriegshistorische Ereignis der Ardennenoffensive ist
die Verkehrung von Ereignishaftigkeit selbst im Medium der Tarnung - die
Massierung einer deutschen Armee unbemerkt von der alliierten
Westfrontaufklaerung, der psychologische Effekt auf die Alliieerten von
als amerikanische Soldaten getarnten deutschen Spionen. Linguistische
Idiome machten hier die entscheidende Differenz, ein Schibboleth
<Derrida>: "The consequence of this great scare that virtually paralysed
the rear areas of the Allied front in Europe was that `half a million GIs
played cat-and-mouse with each other , as an irate General Bradley put it.
Everywhere strangers in US uniform were stopped, asked passwords, riddles,
popular US catchphrases of the day <...> in order to ascertain whether
they were genuine or not. Even generals <...> were held up in this
fashion. Some were even arrested by their own MPs." <Charles Whiting,
Ardennes. The Secret War, London (Century Publishing) 1984, 6f > Das
deutsche Tarnmanoever faellt mit seiner Un-Erzaehlbarkeit zusammen (der
historische Diskurs im Krieg mit diskreten Daten): "That dark December of
the last Christmas of the war, the Germans pulled off a tremendous
intelligence coup. Never before had they been able to do anything like it
<...>. The Top Brass had been caught napping. Later <...> they attempted
to show that they had expected the attack in the Ardennes <...> that
`calculated risk <...>. Nevertheless, the verdicts of both the US and
British official histories still stand. Hugh M. Cole, the American
official historian, wrote: `Sentences, phrases and punctuation marks from
American intelligence documents of pre-Ardennes origin have been twisted
and turned, noted in and out of context, interpreted and misinterpreted,
in arduous efforts to fix blame and secure absolution.'" <Charles Whiting,
Ardennes. The Secret War, London (Century Publishing) 1984, 7f >
die Englaender fast alle deutschen Militaernachrichten zu entschluesseln
verstanden, haben sie die Ardennenoffensive verschlafen, weil die
deutschen Befehle dort mit Fahrraedern transportiert worden sind (Olaf
Nicolai). Voellige Geheimhaltung:
"Nichts ueber die Offensive durfte Telefon oder Fernschreiber anvertraut
werden. Als Kuriere sollten auf absolutes Stillschweigen vereidigte
Offiziere verwendet werden." <Toland, Ardennenschlacht, 23>
Am Beispiel der Ardennenoffensive im Dezember 1944: Funkstille kann selbst
aber Funktion eines VERschweigens sein, von Verschleierung und
Geheimhaltung gegenueber dem Feind und den eigenen Truppen:
"Diese wurde in der deutschen Wehrmacht grundsaetzlich vor jeder
groesseren Operation fuer die neu zum Einsatz kommenden Verbaende und
selbstverstaendlich vor Beginn eines Feldzuges waehrend Aufmarsch und
Bereitstellung angeordnet." <Leo Hepp, Funktaeuschung. Ein Hilfsmittel der
operativen Fuehrung, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau. Zeitschrit fuer
europaeische Sicherheit, 4. Jg., Heft 1 / 1954, 116-123 (116 u. 118)>
Und das ist gekoppelt an Desinformation jenseits der deutschen
Chiffriermaschine Enigma, deren Kodebrechung auf englischer Seite mit dem
Prinzip (Alan Turings Aufsaetze) und der Realisierung des ersten
elektronischen Digitalcomputers (der Colossus in Bletchley Park)
verknuepft war:
"Funker schickten verschluesselte Nachrichten an fingierte Hauptquartiere,
fingierte Nachrichten an echte Hauptquartiere, die hundert Kilometer
enternt von den angegebenen Positionen lagen."
Nicht, dass nicht auch England dissimulierte; Churchill liess die (laengst
decodierte) Bombardierung von Coventry geschehen, um die Entschluesselung
der Enigma nicht offensichtlich zu machen.
Die Bomben des spaetindustriellen Zeitalters sind Computer. Den Polen war
es gelungen, durch Erbeutung einer deutschen Enigma 1937 unter
franzoesischer Mithilfe mit Hilfe der Bomba den Code zu brechen, "once
described as `like a mad scientist's console from an old Fritz Lang horror
film'" (Whiting, 50). Entscheidender ist seine transhermeneutische,
medienanthropologische Implikation:
"This high-speed calculating mechanism <...> did make it possible for the
Poles to tackle the Enigma's problems at speeds far beyond the scope of
human thought." <ebd.>
Kurz vor Ausbruch von WKII, am 16. August 1939, wurde eine deutsche Enigma
aus Warschau im Diplomatengepaeck nach London gebracht, durch Commander
Alexander Denniston und Dillwyn Knox, "a celebrated World War I
cryptanalyst (who had helped to break the famed Zimmermann Telegram which
helped to bring the United States into World War I)." <ebd.>
Der Informationskrieg von WKII ist also das Gedaechtnis von WKI. Nachdem
Denniston 1940 seine Code and Cipher School in Bletchley Park installiert
und die Green Goddess entwickelt hat ("an early form of the computer"),
wurden deutsche Nachrichten dekodiert: "top-secret intercepts, of which
ex-SIS man Malcolm Muggeridge said later `[they] had the rarity value of
the Dead Sea Scrolls'" <Whiting, 51> - die archaeologische Seite des
Krieges, unschreibbar als Historie. Entsprechend auch die Protektion. Der
britische Code Ultra uebermittelt die Interzeptionen als Information von
Bletchley Park in die Hauptquartiere der Alliierten "by means of a
one-time pad":
"Later, the one-time pad would be replaced b the Typex machine, a form of
ciphering system similar to the Enigma. When one was lost in France by a
careless US army crew, Eisenhower instituted a personal search to find the
lost truck which was carrying it. It was never found." <Anm. Whiting, 51>
Group Captain Winterbotham, Mitglied des Secret Intelligence Service,
waehlte zu Mitgliedern seiner Special Liaison Unit eine Crew, "binding
them to life-long secrecy" <ebd., 50>. Hier versagt oral history,
immemorial:
"Alan Mathison Turing, Brite und Homosexueller, Mathematiker und Bastler,
verlor seinen Namen an eine Maschine, die alle anderen Maschinen sein
kann. Er gab das Compuerprinzip und damit uns an. Seit einem Weltkrieg,
den der Geheimnistraeger Turing nie wieder erwaehnen durte, weil er ihn
mit entschieden hatte, ist die Gegenwart Intelligence Service in jedem
Wortsinn geworden: von der Postmoderne der Buerodienstleistungen bis zum
Computerkrieg der Geheimdienste." <Alan M. Turing, Intelligence Service.
Schriften, hrsg. . Bernnhard Dotzler u. Friedrich Kittler, Berlin
(Brinkmann & Bose) 1987, "Vorwort", 5>
Denn "Auf technischem Gebiet entscheidet nicht die `private Ansicht',
sondern das Resultat, und dieses hat entschieden." <James Hobrecht, Die
Canalisation von Berlin, Berlin (Ernst & Korn) 1884, "Vorwort">
II. MONUMENTE (1): ARCHIV
Die Information ueber Informationskriege(n) faellt als Gedaechtnis mit
ihnen selbst ineins. Informationskriege kreisen nicht um den Inhalt von
Archiven als Basis von Erzaehlbarkeit (Historie), sondern um den Zugang zu
diesen Gedaechtnisdatenbanken (fuer Lyotard die Herausforderung der
condition postmoderne an die Demokratie schlechthin). Klassische
Informationsspeicher haben den Inhalt (die Texte) und ihre Adressierung
als Register (Ziffern und Buchstaben) getrennt gehalten. Die
wissensarchaeologische Schwelle ist erreicht, wenn alphanumerische Codes
sowohl die Botschaft als auch ihre Adressierung meinen und die Zuordnung
von Buchstaben und Ziffern Archivsignaturen und Akten ineins verschraenkt.
Archiv-, Bibliotheks- und Dokumentationssysteme zeugen von dem letztlich
bis auf Descartes zurueckgehenden alphanumerischen Versuch, das Universum
zu kalkulieren (ein Versuch, der dennoch so willkuerlich bleibt wie die
von Michel Foucault einleitend in Die Ordnung der Dinge zitierte
chinesische Enzyklopaedie, und ebenso "chaotisch". Der Einsatz lautet,
eine Mnemotechnik zu finden, das die Adressen zur Aussage ueber die
adressierte Botschaft selbst macht und Woerter als Informationsspeicher
entziffert <dazu besonders Jorge Luis Borges, Die analytische Sprache John
Wilkins , in: ders., Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur,
Muenchen 1966, 209-214; ferner Mashall McLuhan, Understanding Media>.
Nun ist es ein Kriegsarchiv, das Wissen um den (Des-)Informationskrieg der
Ardennenoffensive Dezember 1944 speichert: Bundesarchiv / Militaerarchiv
Freiburg/Br. (BAM).
<betr.: Invasion 1944> Akte Militaergeschichtliches Forschungsamt
Dokumentationszentrale A-864 "Pas de Calais Naval Forces - Normandy"
Vorblatt: Militaergechihtliches Forschungsamt, Freiburg i. Br.,
Kaiser-Joseph-Str. 262 Betr.: "Foreign Military Studies" der Historical
Division, H.Qu. US-Army, Europe
"Unter der Bezeichnung `Foreign Military Studies der Historical Divsion
sind Arbeiten entstanden, die von deutschen Offizieren im Auftrage der
US-Army ausgefuehrt wurden. Zeitlich liegen diese Arbeiten teilweise
erheblich zurueck und befinden sich schon hierdruch nicht auf dem neusten
Stand der kriegsgeschichtlichen Erkenntnis. <...>. Die Studien stehen
<...> fuer den Dienstgebrauch innerhalb der Bundeswehr zur Verfuegung."
III. MONUMENTE (II): ARCHAEOLOGIE
Zeitverzug selbst ruiniert die Information, indem sie Daten zu Relikten
werden laesst und der Information zweiten Grades bedarf. "For those
interested in such things there is litte visible evidence left of that
secret war in the Ardennes of forty years ago" <Whiting, Ardennes, 187>.
"Es war vor 50 Jahren. Nichts in der Landschaft laesst auf das Ausmass der
Katastrophe schliessen, waeren nicht ... die Denkmaeler, Stelen, Graeber,
Steine, Plaketten und Fahrzeuge <...>." <Katalog Bataille des Ardennes,
22>
Die Geheimkriegfuehrung der Ardennenoffensive korrespondiert mit ihrer
Unsichtbarkeit als Monument. Von der Ardennenoffensive, dem letzten
Entlastungsangriff der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg Dezember
1944 / Januar 1945, bleiben vor allem noch die Ardennen. Nachvollziehbar
sind die klimatischen und geographischen Bedingungen, unter denen sich die
Logistik der Attacke vollzog.
Im fotografischen Ausschnitt sind die Monumente aus ihrem
strategisch-geographisch-topographischen Kontext gerissen wie isolierte
Zitate eines Textes, der im Zusammenhang nicht mehr zu lesen ist.
Celles zum Beispiel (Beligen, an der Maas): Vor dem Wrack eines deutschen
Panther-Panzers, der zur 2. Deutschen Panzer-Division gehoerte, sagte die
(alte) Inschrift "Ici fut arretee l offensive von Rundstedt le 24 decembre
1944" <Abb. S. 67 in: Erinnerungsrundfahrt Die Ardennenoffensive>. Heute
aber steht ein solches Monument, eine solche Inskription isoliert in einer
Landschaft, die gleichgueltig gegenueber strategischen Stossrichtungen
ist. Am 24. Maerz verkauft dort ein Maedchen Blumen vor dem Cafe.
Energien, die diesen Punkt einmal aufluden, sind entschwunden. Von allen
Seiten begehbar, ist nicht mehr deutlich, wer welche Stossrichtung zum
Halten brachte. Kontextlos, wird aus einer strategischen Speerspitze ein
verlorener Punkt.
Vergangenheit, die nicht vergehrt, ist an ein reales Gedaechtnissubstrat,
real bones gebunden: Der amerikanische Militaerfriedhof der Ardennen
befindet sich in Neupre (bei Luettich, Richtung Marche). Die Zahl der 5327
hier beerdigten Leichname "koennte sich noch aendern, da der
Militaerfriedhof als der einzige gilt, auf dem heute noch weitere
Beerdigungen von in Europa gefundenen Opfern moeglich sind."
<Erinnerungsrundfahrt, 26>
Geloescht durch UEberschreibung ist das Gedaechtnis der Loeschung: Orte
wie St. Vith und Bastogne, einst in Ruinenstaetten zerschossen, erstanden
unter gleichem Namen und an gleicher Stelle neu und anders. Inmitten der
Nachkriegsstaedte wahren unscheinbare Museen die Relikte eines Krieges,
der damit als Hausnummer adressierbar geworden ist.
Neben die gepflegten Serienwaffen treten als Objekte in solchen Museen
spaete Funde vor Ort: das, was die Kontingenz einer Gegenwart, die
staendig (um)baut, immer wieder zutage foerdert. Entropie heisst die
ungeplante Archaeologie eines (Informations-)Krieges, deren Produkte
sodann umweglos ihren Stellenwert im Gedaechtnisraster finden.
Signifikanten, deren Signifikat immer schon schon festgestanden haben
wird. Rostige Helme, denen - wie im Fall des Museums im belgischen
Clervaux - noch ein Stueck Schaedeldecke des verwesten Soldaten anhaftet.
Fuer einen Moment bricht das Reale ins Reich des Imaginaeren, wenn solch
ein Fund sich auftut, parallelisiert allein von spektakulaeren
Blindgaengerentdeckungen beim Strassenbau, die - unexplodiert, und
insofern kaum Bombe - etwa im Keller der Sonderausstellung von Bastogne
lagert.
"Spuerbar bleibt, wie nach zwei Generationen das lebendige Gedaechtnis von
der Historie abgeloest wird. <...> Dieses Erstarren und Absterben des
Gedaechtnisses zu verhindern, hat sich Rene Croe, der Verwalter des
deutschen Soldatenfriedhofs <sc. bei Sandweiler, Luxemburg>, zur Aufgabe
gestellt. <...> Seitdem hat er ein grosses und bestaendig wachsendes
Archiv `seiner' Toten angelegt, in dem er alles sammelt, was von ihnen und
ueber sie zu finden ist, amerikanische Totenscheine, alte Fotos,
persoenliche Papiere und Briefe von Angehoerigen." <Ulrich Raulff, "Archiv
des Krieges. Die Ardennen, fuenfzig Jahre nach der Offensive", in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. November 1994>
Es bedarf der Registratur (also im Symbolischen), um eine zunehmende
Abwesenheit noch zuordbar zu machen.
Anders dagegen der amerikanische Friedhof in Sandweiler:
"Von zwei grossen Tafeln blinken die roten und blauen strategischen
Pfeile, die den Vormarsch der alliierten Truppen in Westeuropa und den
Verlauf der Winterschlacht in den Ardennen demonstrieren sollen: groteske
Vereinfachungen, in denen das Leiden der Zahllosen zu Piktogrammen
geronnen ist." <Raulff, ebd.>
Gerade diese Einfachheit aber ist der Klartext des Krieges als Logistik;
indem das Memorial das Medium der Strategen einschreibt, birgt es die
Logistik des Krieges selbst. Hart daneben und ebenso in Stein gemeisselt
die Kurzgeschichte dieser Schlacht, faktisch und im Medium der Narration.
Zwei Weisen, Krieg zu (er)zaehlen, prallen aufeinander: die vektorielle
der Kriegslogistik und die Unmoeglichkeit, Vektoren als Geschichte zu
denken. Also bietet das Denkmal Ersatz an - Administration des Imaginaeren
als Archiv und als Erzaehlung.
Der Friedhofsgaertner in St. Vith weisst um den Umgang mit
De(sin)formation auf der Ebene des Realen (also der Leichen):
"Laechelnd fuehrt er uns zu dem Massengrab der Zivilisten, die man beim
Wegraeumen der Truemmer seit 1946 in den Kellern fand. Siebzehn
Granattrichter habe seine Mutter nach Weihnachten auf dem Friedhof
gezaehlt. Die Graeber seien erbrochen, Sargtruemmer und Skelette ueberall
verstreut gewesen. Vom ganzen Ort waren damals nur eine handvoll Haeuser
stehengeblieben." <Raulff, ebd.>
Die Referenz der buchstaeblichen Signifikanten (als Grabinschrift) liegt
nicht mehr primaer in real bones, sondern im Symbolischen des Totenbuchs,
in den Aufschreibesystemen des Gedaechtnisses, die erst Vergangenheit in
Geschichte ueberfuehrbar machen. Diverse Register der Administration des
Vergangenene, als oral history, als Historiographie, als Archiv.
Verschiedene Grade der Arbitraritaet und der Rahmung: Geschichte ist nur
das Fenster fuer Listen und Register.
An dieser Stelle geht es um die UEbersetzbarkeit - das interface - von
Alltagssprache und Speicherregister, um die Differenz von Signalen und
Sprache zu ueberbruecken (in der Informatik: Interpreter, Assembler).
Wenn das im Medium der Erzaehlung analog uebermittelte Verhaeltnis zur
Vergangenheit ein digitales wird, schreibt sich Archaeologie statt
Historie.
Im naechtlichen kalten Licht ragen die Panzermonumente schweigend:
"Automaten" <Andersch 1977: 596>, hors contexte. Dove sta memoria?
Dislokation erinnert daran, dass das Reale auf seinem Ort insistiert, im
auratisch aufgeladenen Feld der authentischen historischen Geographie
vielmehr als in den symbolischen Geschichtsraeumen des Bastogne Historical
Centre. Die diffus im Gedaechtnis der Familien und Beteiligten
fortlebende, fortwaehrend auf die Generationen uebertragene
Geschichte-von-unten der Ardennenoffensive wird durch offizielle lieux de
memoire kanalisiert, fokussiert, kontrolliert, nachrichtentechnisch
eingestrickt in ein kanonisches Gedaechtnis namens Universalgeschichte.
IV. ROMAN
Alfred Andersch, Winterspelt. Roman, Zuerich 1974, Taschenbuch-Ausgabe
1977: Die Umschlagsillustration bildet Gabriele Muenters Gemaelde Das
gelbe Haus (1911). In der Strassenflucht, zwischen den Haeusern, zeigt der
Bildausschnitt das schwarze Loch einer Explosion. Dieses Loch des Realen
kommt nicht aufgrund einer Auslassung zustande, nicht als Mangel, sondern
aufgrund einer UEbermalung. Hierin liegt der Unterschied zwischen Absenz
und Absentierung. Mit diesem Loch korrespondiert die Luecke im Archiv.
Nicht nur die Akten des Archivs von 1940 wurden 1944 zur Agentur realer
Handlungen (in Verkehrung der Einbahnstrasse der Archivalien), sondern
auch die Luecken, die in den Lageplaenen der deutschen Ardennen-Offensive
1944 mit Frontluecken korrespondieren:
"Um die Wende vom September zum Oktober hatte sich als geeigneter
Durchbruchsraum bereits die Front ostwaerts Luettich abgezeichnet. Da dort
bereits im Mai 1940 der Durchbruch erzwungen worden war, wurden aus den
nach Liegnitz ausgelagerten Archiven Unterlagen ueber die damaligen
Operationen der 6. und 4. Armee angefordert. Diese wurden am 5. 10.
abgesandt. Leider ergaben sich in den Archivbestaenden Luecken, da 1941
einem Brande wesentliche Akten zum Opfer gefallen waren. Jedoch fanden
sich noch aufschlussreiche Aufzeichnungen, vor allem eine
Gelaendebeurteilung vom Januar 1940." <Kriegstagebuch des Oberkommandos
der Wehrmacht (Wehrmachtfuehrungsstab), KTB, gefuehrt von Helmuth Greiner
und Percy Ernst Schramm, Bd. IV. Erster Halbband, 4. Abschnitt,
Frankfurt/M. 1961, zitiert nach Andersch 1977, 16>
Im Herbst 1944 rechnete Bradley mit der Moeglichkeit einer deutschen
Gegenoffensive im Raum der Ardennen zwischen Trier und Monschau,
glaubte aber von einem gesicherten Potential der Alliierten
hinsichtlich der sich dann eroeffnenden deutschen Flanken ausgehen
zu koennen:
"UEberdies vermutete er, der Feind werde bei einem ueberraschenden
Angriff in den Ardennen grosse Nachschubschwierigkeiten haben, falls
er den Versuch machen sollte, bis an die Maas vorzustossen. Wenn es
ihm nicht gelang, unsere grossen Materiallager in die Hand zu
bekommen, dann musste er bald in Bedraengnis geraten <...>. In dem
Raum, den der Feind seiner Ansicht nach ueberrennen konnte, legte er
nur sehr wenige Nachschublager an. Wir hatten zwar grosse Depots in
Luettich und Verdun, aber er glaubte zuversichtlich, dass der Feind
nicht so weit kommen wuerde." <Dwight D. Eisenhower, Crusade in
Europe, New York 1948, zitiert von Andersch 1977, 18, nach der
deutschen Ausgabe, Amsterdam 1950>
Agent des Krieges im Hintergrund ist das Katechontische als Effekt von
Nachschub, Lagern und Depots. Im Krieg entscheidet nicht so sehr die
Information, sondern ihre UEbertragungsgeschwindigkeit:
"Nicht umsonst heissen Verzoegerungszeiten (`delays ) im
technisch-militaerischen Jargon auch Totzeiten. Wer einige Sekunden zu
spaet weiss, den bestraft nicht das sogenannte Leben, sondern ein
feindlicher Erstschlag." <Friedrich Kittler, InfoWar. Notizen zur
Theoriegeschichte. http://web.aec.at/infowar/NETSYMPOSIUM/index.html;
Version 14. April 1998>
Zu Nachschubspeichern steht das Gedaechtnis des Krieges in einem aehnlich
supplementaeren, nach-traeglichen Verhaeltnis wie das Archiv zur Kanzlei.
Das Archiv ist Kriegsinformationsagentur in Anderschs Roman. Ob die real
existiert habende und laut KTB einmal wirklich abkommandierte <Andersch,
18f> deutsche 416. Infanterie-Division (daenische Front) tatsaechlich in
der Ardennenoffensive eine Rolle spielte, ist reine Hypothese des Autors;
sein Protagonist, der Major Joseph Dincklage, ist Fiktion, wie es im
Abschnitt "Phasen eines Umschlags von Dokument in Fiktion" (zwischen
Monument und Dokument) heisst - die "in keinem Kriegsarchiv aufbewahrte
Akte `Verschluss-Sache Dincklage " <Anders 1977: 20>. Im Rahmen der Logik
des Romans passt "das geisterhafte Auftauchen und Verschwinden" einer
solchen Division "ganz vorzueglich" <ebd.>.
"Sandkasten: Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzaehlung spielt eine
Moeglichkeit durch" <Andersch 1977, 24>. Womit die Narration auf Seiten
der Kriegsspiele steht. Am Ende des Romans aber stehen die "Phasen eines
Umschlags von Fiktion in Dokument" im Sprachspiel von Information und
Taeuschung:
"Ist ja schon raetselhaft, dass die 416. Infanterie-Division, die doch
erst am 5. Oktober dem OB West zum Einsatz in einer ruhigen Front
zugefuehrt wurde, sich nicht in den Verzeichnissen der Heeresgruppe B
findet. <...> Muss eine Geisterdivision gewesen sein, die 416te."
<Andersch 585f>
Krieg aber erinnert an die Faehigkeit, Absenz von Information zu denken.
In einem fiktiven Dialog zwischen Vater und Sohn heisst es ueber die
Heimatstadt:
"Frankfurt wegen brauchst du nicht zurueckzukommen. Frankfurt gibt es
nicht mehr. <...> Du wirst Deutschland niemals wiederfinden. Deutschland
gibt es nicht mehr. <...> Sein Vater musste uebertrieben haben. Er war
verbittert, weil vielleicht einiges zerstoert worden war. Die Substanz
Frankfurts war doch gewiss nicht verbrannt! Die Mainfront, der Roemer, die
Kirchen - sie wuerden den Krieg ueberstehen. Goethes Geburtshaus ein
Haufen Schutt - nein, dergleichen war unvorstellbar!" <Andersch 1977: 526
u. 533>
"Die UEberreste der 106. Division <...> standen Ende Dezember im goose-egg
um Saint-Vith. Das ist kriegsgeschichtliche bezeugt. Bei einem Vergleich
zwischen Major Dincklage und Captain Kimbrough faellt ja immer wieder auf,
dass die Divisionsnummern des letzteren authentisch bezeichnet werden
kann, waehrend es sich bei derjenigen Dincklages um reine reine Annahme
handelt. (Geisterdivisionen eignen sich ausgezeichnet fuer
Sandkastenspiele. Fuer Erzaehlungen.)" <Andersch 1977, 587>
Sandkastenspiele aber sind das Medium von Strategie als Information seit
1806 (siehe Friedrich Kittler, Dichter-Mutter-Kind, Muenchen 1995, ueber
den preussischen General von Mueffling>
Das historiographische Genre der Annalen als ehrlichste aller Geschichten
erfasst Ereignisse, keine Strukturen:
"Die Schlacht in den Ardennen wurde gewonnen und dem Feind eine schwere
Niederlage zugefuegt - durch vorzueglich Stabsarbeit, die im Felde von
faehigen Befehlshabern unterstuetzt wurde, durch heroische Verteidigung,
besonders von Saint-Vith und Bastogne, und durch die schnelle und
meisterhafte Bereitstellung und Heranfuehrung von Reserven. Alle diese
Taten sind besungen worden und werden in den militaerischen Annalen
fortleben, aber die Zersetzung des feindlichen Plans, seine Verzoegerung,
von der sich der Feind niemals ganz erholt hat, wurde von anonymen
Maennern, anonymen Gruppen herbeigefuehrt, oftmals von Herumstreifern
(stragglers) ohne feste Absichten, deren Aktionen immer unbekannt bleiben
werden." <R. W. Thompson, Montgomery The Field Marshal, London 1969, 244,
zitiert nach Andersch 1977, 33>
Auch das meint die Differenz von Strategie und Taktik. Romane koennen
Geschichte verschieben; die informatorische Strategie des Krieges
korrespondiert mit der von Narration:
"Retuschen an der Hauptkampfzone <...> Schlussendlich wird eingestanden,
dass nicht einmal der Frontverlauf historisch genau rekonstruiert worden
ist. Winterspelt befand sich im Herbst 1944 keineswegs mehr in deutscher,
sondern bereits in amerikanischer Hand, musste den Amerikanern zu Beginn
der Ardennen-Offensive entrissen werden und wurde von ihnen im Januar 1945
zurueckerobert. Wenn wir sie zu Anfang Oktober noch auf dem westlichen
Ufer der Our verweilen lassen, so nur, um der Realisation von Major
Dincklages Plan eine groessere topographische Chance zu geben. - Im
Gegensatz zur Geschichte kann die Erzaehlung (dieses Landkastenspiel) sich
solche geringfuefige Retuschen erlauben." <Andersch 1977: 128f>
Die Anatomie eines Krieges heisst Archaeologie von Information jenseits
der menschlichen Wahrnehmungsschwelle:
"UEber die Wirkung des Eindringens von zwoelf Stahlmantelgeschossen in
einen lebenden menschlichen Koerper wissen wir nichts, als dass sie, wenn
sie sorgfaeltig gezielt <...> abgegeben werden, das Ziel vom Kopf bis zum
Unterleib abstreuend, den sofortigen Tod dieses Koerpers herbeifuehren.
<...> Und obwohl sein Koerper noch warm war und sein Blut noch stroemte,
als Reidel neben ihm kniete und ihn durchsuchte, war er da schon nichts
anderes mehr als ein Stueck anorganischer Materie." <Andersch, ebd.>
Die andere Zeitverfasstheit des Krieges ist die Verwund(er)ung der
symbolischen Ordnung. In solchen praegnanten Augenblicken (G. E. Lessing)
konzentriert sich nie gewusste Informationsdichte:
"Ja, das ist alles, was wir ueber Schefolds letzten Augenblick sicher
wissen. Nicht ausgeschlossen kann werden, dass sich, in einem Akt
voelliger Aufhebung aller unserer Zeitbegriffe, doch noch anderes in ihm
ereignet hat. Falls im Ausnahmezustand des Sterbens ein Augenblick so
lange dauert wie eine Ewigkeit, waere es immerhin denkbar, dass er Dinge,
Bilder, Woerter gesehen hat, nicht in Nacheinander natuerlich, sondern in
einem kreisenden Ball aus Lichtsplittern, in einem Nu. Stellen Sie sich
dieses, vor einem inneren Auge rotierende Gebilde aus Vergangenem und
Zukuenftigem nicht als Scheibe vor, sondern koerperhaft, dreidimensional,
als Ball eben, als wirbelnden runden Koerper vor Tangenten ins Unendliche!
Eine Hypothese, mehr nicht." <Andersch 1977: 573f>
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