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Code ist gleich Gesetz – und auch nicht


'Cindy Cohn Cindy Cohn / 'James Grimmelmann James Grimmelmann

„Code ist gleich Gesetz“ – was könnte das bedeuten? Da die Verflechtung zwischen unseren Gesetzen und unseren Computern immer intensiver wird, ist eine Klärung der Beziehung zwischen Code und Gesetz vonnöten. In der Anfangsphase des Internet waren viele Programmierer überzeugt, dass das Gesetz durch den Code belanglos würde. In jüngerer Zeit hingegen haben wir Gesetzgeber, Regulierungsbehörden und Richter beobachten können, die überzeugt zu sein scheinen, dass das Gesetz den Code diktieren kann und sollte. Keine dieser absolutistischen Haltungen scheint sich durchzusetzen – Viren-Programmierer wandern ins Gefängnis, und DeCSS ist nach wie vor weltweit erhältlich. Vielleicht kann eine Untersuchung der Verbindungen zwischen den beiden Begriffen aufzeigen, wo der eine Bereich vom anderen lernen kann. Vielleicht können wir darüber hinaus auch lernen, wie beide Bereiche uns helfen können, auf unserem Weg in das digitale Zeitalter Freiheit zu schaffen und zu bewahren.

Eine erste Verbindung zwischen den beiden Begriffen zeigt das Wörterbuch auf. Das Oxford English Dictionary (OED) definiert code als „[a] systematic collection or digest of the laws of a country“, eine systematische Sammlung der Gesetze eines Landes. Vom Code Napoléon bis zum California Motor Vehicle Code – Rechtsvertretern behagt der Gedanke durchaus, dass die Inhalte des code das „Gesetz“ bestimmen.

Genau genommen ist dieser erste Berührungspunkt zwischen code und Gesetz eine Tautologie, weil code (im Englischen) per definitionem „Gesetz“ bedeutet.

Meist schwingen aber andere Bedeutungen mit, wenn code und Gesetz verglichen werden, weil auf eine andere Definition von code Bezug genommen wird. In das OED wurde diese Definition noch nicht aufgenommen, aber Merriam-Webster zufolge ist code auch „a set of instructions for a computer“, eine Reihe von Anweisungen für einen Computer. Viele sind der Meinung, dass es kein Zufall ist, dass die Wörter für Computercode und legal code (Gesetzeskodex) so ähnlich sind, bezeichnen sie doch wesensverwandte Dinge.

Diese Meinung beruht auf der Überzeugung, dass Programmierer und Gesetzgeber dasselbe tun, dasselbe Spiel spielen: Beide sind Codierer. Programmierer codieren Computersysteme, Juristen codieren Rechtssysteme. Der Unterschied zwischen diesen Systemen ist nicht fundamentaler als der Unterschied zwischen den Programmiersprachen Java und Scheme, zwischen bürgerlichem Recht und Zivilrecht. Codierer sind Menschen, die in einem ausgeklügelten, regelorientierten, spezialisierten und außergewöhnlich komplizierten Idiom schreiben. Eine zweite Bedeutung für „Code ist gleich Gesetz“ wäre eine Art Wortspiel: Ein Computercode ist nicht mehr und nicht weniger als ein legal code, der in das Reich der Elektronik verpflanzt wurde.

Dies ist mehr als nur eine ästhetische Bemerkung hinsichtlich zweier Professionen. Ein guter Code zeigt in all seinen Ausprägungen die Qualitäten von gutem Design, Qualitäten wie Klarheit und Sauberkeit, Nützlichkeit und Eleganz, Transparenz und Stabilität. Dem amerikanischen Steuergesetz fehlen diese Qualitäten: Dieses Konglomerat aus einander überschneidenden Bestimmungen und Ausnahmeregelungen zeugt von auffälliger Ungerechtigkeit. Man zeige den code einer Programmiererin und sie wird ein Flickwerk von isolierten Kludges, die wieder und wieder anderen Kludges aufgepfropft wurden, diagnostizieren.

Design- oder Entwurfsqualitäten sollten eine wesentliche Rolle im Gesetz spielen: Viele der Streitfragen, mit denen sich die Electronic Frontier Foundation (EFF) auseinandersetzt, gehen auf schlechte Gesetzesentwürfe zurück, sie enthalten Passagen, an denen Codierer aller Couleurs sofort erkennen, dass etwas nicht stimmt. Der Digital Millenium Copyright Act, das seit 1998 geltende Gesetz zum amerikanischen Urheberrecht, hat viele Schwächen, eine davon ist seine „mangelnde Eleganz“. Einer der Gründe dafür, dass der DMCA so viele Gotcha-Prozesse nach sich zog – man berief sich auf ihn, um Professoren in Angst und Schrecken zu versetzen oder um Erzeuger von Tonerkassetten bis hin zu Garagentüröffnern zu belangen –, besteht darin, dass seine Bestimmungen mehrdeutig und verwirrend sind. Er wurde zu einem allgemein gültigen Gesetz, um Stümperei und unlauteren Wettbewerb zu verhindern, obwohl er ursprünglich als ein spezifischerer Gesetzesentwurf verabschiedet und ausgegeben worden war, der sich mit Copyright-Verletzung in großem Maßstab auseinandersetzen sollte. Mit einem klareren Gesetzestext hätte der Kongress nicht so viele Missbrauchsmöglichkeiten geschaffen oder wäre zumindest dafür haftbar gewesen. Der DMCA ist ein Beispiel für einen legislativen Codierungsprozess, der fehlgeschlagen ist.

Eine dritte Bedeutung von „Code ist gleich Gesetz“ erinnert daran, dass das Gesetz eine Art Code darstellt und dass Anwälte in Bezug auf Entwurf / Design von den Erkenntnissen der Programmierer lernen können.

Diese Interpretation basiert auf dem englischen Wortspiel legal code (Gesetzeskodex) und computer code. Es funktioniert, weil sich der spätere Sinn von code vom früheren ableitet. Dem OED zufolge bezeichnete das Wort code im 19. Jahrhundert nicht nur eine bestimmte Gesetzessammlung, sondern jedes System von Regeln und Zeichen, insbesondere eines, das die Zuordnung von Zeichen zweier verschiedener Zeichensysteme erlaubt. Diese Bedeutung bewog die Computerpioniere im 20. Jahrhundert dazu, code als Bezeichnung für jene künstlichen Sprachen zu wählen, die sie bei der Programmierung ihrer Erfindungen verwendeten. Das Missing Link zwischen computer code und legal code ist der „Geheimcode“. Die Gemeinsamkeit ist linguistischer Natur: Codes sind schriftliche Kommunikationssysteme.

Diese Interpretation von Code war für mich und die EFF von besonderem Interesse: Eines der wichtigsten Rechte, die wir verteidigen, ist das Recht auf Redefreiheit, wobei wir nachdrücklich der Meinung sind, dass der Schutz dieses Rechts nicht von der verwendeten Sprache oder dem verwendeten Medium abhängt. Mein erster größerer Fall bestand darin, den Mathematikprofessor Dan Bernstein dabei zu unterstützen, die Exportregelung für Kryptografie anzufechten, die ihn daran hinderte, ein Computerprogramm online zu publizieren. Professor Bernstein schrieb ein kryptografisches Computerprogramm namens „Snuffle“ in der Programmiersprache C. Um den für die Wissenschaft essenziellen Prozess der Peer-Review zu starten, wollte er Snuffle in der Newsgroup sci.crypt publizieren. Die US-Regierung teilte Professor Bernstein daraufhin mit, dass er, falls er den Code publizierte, als Waffenhändler hinter Gittern kommen könne.

Um Professor Bernstein zu seinem Recht zu verhelfen, mussten wir zunächst das Gericht davon überzeugen, dass die Veröffentlichung von Snuffle durch das im First Amendment, dem ersten Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten, garantierte Recht auf Redefreiheit gedeckt war. Nach dieser Überzeugungsarbeit und nachdem das Gericht die Exportbeschränkungen mit Präzedenzfällen und Richtwerten zum Schutz des Rechts auf Redefreiheit verglichen hatte, wurden die Exportbeschränkungen aufgehoben. Seit diesem Präzedenzfall wurde die Rechtsmeinung, dass Code unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt, von jedem weiteren Gericht, das sich mit der Frage auseinandersetzte, akzeptiert, obwohl wir im Fall 2600 sahen, dass manche Gerichte immer noch Mittel und Wege finden, um gegen die freie Meinungsäußerung zu verfügen. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass diese Grundlage, die Code mit Sprache, mit Redefreiheit in Verbindung setzt, letztlich gewährleisten wird, dass das Internet ein Ort der freien Meinungsäußerung bleibt. Ich halte das in zweierlei Hinsicht für den richtigen Weg:

Einerseits ist die natürlichste und klarste Sprache, die Computerwissenschaftlern zur Vermittlung ihrer Ideen zur Verfügung steht, der Code. Auch Professor Bernstein hat lediglich seine Ideen auf diese Weise zum Ausdruck gebracht. Wenn man einem Computerwissenschaftler oder einem Mathematiker mitteilt, dass er für die Diskussion seiner Arbeit keinen Code verwenden darf, ist das so, als ob man Literaturwissenschaftlern mitteilen würde, dass sie Französisch nicht verwenden dürfen, oder Ökonomen, dass sie nicht mit Grafiken oder Formeln arbeiten dürfen. Die Folge dessen wäre, dass sich Wissenschaftler auf weniger effiziente Kommunikationsformen beschränken müssten. Code ist „freie Rede“, Restriktionen in der Verbreitung von Codes sind Restriktionen der freien Meinungsäußerung.

Andererseits ist Code – wie die Printmedien, wie Papier und Tinte – etwas, das Sprache ermöglicht. Der Code stellt heute eine der besten und wichtigsten Plattformen zur freien Meinungsäußerung dar. Erklärt man, dass durch das Internet jeder zu einem Herausgeber wird, bedeutet dies eigentlich, dass durch den Code jeder zu einem Herausgeber wird, ob mittels Front Page, Blogger oder Eudora. Falsch verstandene Restriktionen für die Verwendung von Code können diese bedeutende Freiheit nur allzu leicht aufheben. Aus diesem Grund hat die EFF sich gegen Gerichtsentscheide wie jene der Broadcast Protection Discussion Group (BPDG), in der Vertreter von Medienunternehmen, Geräteherstellern und High-Tech-Konzernen wie Intel vertreten sind, oder eine Gesetzgebung mit der schwerfälligen Bezeichnung CBDTPA, die Senator Hollings vergangenes Jahr beantragte, gewehrt. Denn so wie Code Meinungsäußerung ermöglichen kann, kann er sie auch zerstören, wenn nicht sorgsam vorgegangen wird. Ein weiterer Punkt, um den sich die EFF zunehmend sorgt, sind übereifrige Anti-Spam- Lösungen, die in ihrem Versuch, ungewollte Messages zu identifizieren und zu unterbinden, nicht alles unternehmen, um gewollte Meinungsäußerungen zu schützen. Seit einiger Zeit entstehen mehr und mehr nichtkommerzielle Mailinglisten, die gegen Anti-Spam-Überwachungstechnologien ankämpfen, aber nicht zu erkennen scheinen, wie wichtig es ist, solche unbeabsichtigten Folgen zu verhindern. Die nichtkommerziellen Listserver waren für weniger bemittelte Teilnehmer von Mailinglisten, die ein interessiertes Publikum erreichen wollten, ein Geschenk des Himmels. Spam ist natürlich ein Problem, doch wenn wir wollen, dass die freie Meinungsäußerung im Internet bewahrt bleibt, müssen wir erkennen, das Code die freie Meinungsäußerung ebenso beeinträchtigen wie fördern kann.

All dies fällt in den Bereich „Code ist gleich Gesetz“, wobei Gesetz in einem weiteren Sinn zu verstehen ist. Redefreiheit – sowohl Formen der Redefreiheit, die Code enthalten, als auch durch Code vermittelte Redefreiheit – ist ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Gesellschaft, die hinter dem Gesetz, wie wir es kennen, steht. Viele der wichtigen Gesetzesentscheidungen und Vorschriften, die auf diesem Gesetz basieren, kommen aus den USA, deshalb sollten die Passagen im amerikanischen Gesetz, die die Entscheidung untermauern, dass Code „Sprache“ ist, auch Geltung haben, wenn der Artikel 19 der Internationalen Vereinbarung über zivile und politische Rechte der UNO oder die Verordnungen zur freien Meinungsäußerung, die in fast jeder nationalen Gesetzesstruktur existieren, zur Anwendung kommen. Diese Art der Redefreiheit wird immer wichtiger, weil wir heute alle Codierer sind. Manche Leute codieren in C++, andere in HTML, doch gibt es auch User, die in der Sprache der Pulldown-Menüs und Symbole „codieren“. Ich bin kein Programmierer, aber wenn ich meinen Computer einschalte und Anwendungsprogramme öffne, dann codiere auch ich gewissermaßen. Ich instruiere meinen Computer, meinem Willen zu gehorchen, indem ich ihm in einem speziellen Vokabular Instruktionen erteile. Wenn je eine Grenze zwischen „Codierern“ und „Usern“ von Technologie existierte, so ist sie seit langem verschwunden.

Es ist wunderbar, dass jeder den Computer auf unterschiedliche Weise benützt. Manche schreiben gerne Gerätetreiber für ihren Toaster, andere freuen sich darüber, dass ihnen jemand diese Arbeit abgenommen hat. Es ist von fundamentaler Bedeutung, dass User die größtmögliche „Freiheit“ haben, den Computer auf jede erdenkliche Weise zu nutzen. Diese Freiheit durch eine Grenze zwischen Code und „Sprache“ zu beschränken, die im realen Leben nicht mehr existiert, wäre eine Kriminalisierung der innovativsten und kreativsten Unternehmungen, die Menschen, die Technologie wirklich lieben, starten. Wenn man den Menschen sagt, dass sie nur User von Code sein dürfen, wird es keine neue Generation von Codierern/ Programmierern geben, weil wir ihnen jene Freiheit genommen haben, die die Liebe zur Technologie und ihren Möglichkeiten erst entstehen lässt.

Die Freie-Software-Bewegung versteht dieses Argument: Man denke nur an den Slogan „free as in free speech“, der den freien Austausch von Ideen mit dem Prozess der Softwareentwicklung in Verbindung bringt. Was für eine großartige Idee: Software kann von jedem sowohl verwendet als auch umgeschrieben werden. Code ist für Programmierer ein Ausdrucksmedium wie Ton für Bildhauer, und auch digitale Maler und elektronische Musiker sind Codierer. Einige der wichtigsten Neuerungen in den Bereichen Parallelcomputing und Computergrafik gehen auf das Interesse von Filmemachern an möglichst spannenden Spezialeffekten zurück. Politische Aktivisten punkten mit ihren Domain-Namen und der Verwendung von JavaScript. Der Code speist die Sprache und die Sprache speist den Code.

Deshalb wäre eine fünfte Bedeutung von „Code ist gleich Gesetz“, dass Code der „Gegenstand“ des Gesetzes ist. Dass Code speech, also Sprache, Meinungsäußerung ist, ist eines der ersten Beispiele. Mit einem Code, der so viele Bereiche der Gesellschaft durchdringt, werden mehr und mehr Gesetze und Gesetzesentscheidungen allerdings Entscheidungen über Code.

Doch hier divergieren Gesetz und Computercode. Das Gesetz ist ein Prozess, der sowohl von Menschen als auch von Regeln bestimmt wird. Gesetze bringen nicht von selbst Kriminelle ins Gefängnisse oder leisten Schadensersatz: Es braucht Polizeibeamte und Kläger, Richter und Geschworene, damit ein Rechtssystem funktioniert. Alle diese Personen haben eigene Vorstellungen von ihrer Rolle in diesem System, alle haben bis zu einem gewissen Ausmaß Einfluss auf das Ergebnis.

Der Gesetzeskodex ist nur ein Input – wenngleich ein besonders wichtiger – für den Prozess, auf den sich all diese „Menschen“ bei ihrer Entscheidung, wen sie freisprechen und wen sie bestrafen, berufen. Die Terminologie spiegelt die Wahrheit wider: Ein Gesetz zu kodifizieren, bedeutet in erster Linie, es niederzuschreiben, und nicht, es zu schaffen.

Der sechsten Interpretation von „Code ist gleich Gesetz“ zufolge ist diese Behauptung schlichtweg falsch, weil Code zwar eine Art Gesetz ist, das „Gesetz“ aber viel mehr beinhaltet und über den Code hinausgeht.

Das Gesetz ist ein wesentliches Instrument der sozialen Ordnung. Es spiegelt die Werte einer Gesellschaft und auch ihre wichtigsten Umsetzungsmechanismen wider. Das Gesetz formt die Institutionen und das Umfeld, in dem die Menschen ihr Leben leben. Es verkörpert Millionen von Entscheidungen über das Leben und die Arbeit in der Gesellschaft. Das Gesetz geht dabei auf die denkbar direkteste Weise vor: indem es den Menschen sagt, was sie tun sollen, und sie bestraft, wenn sie diese Instruktionen nicht befolgen.

Fehlerhafte Gerichtsverfahren können unschuldige Menschen ins Gefängnis oder Verbrechensopfer um ihre Ansprüche bringen. Der Patriot Act machte aus Bibliothekaren Geheimagenten und beseitigte wesentliche Beschränkungen der elektronischen Überwachung. Ein Richter, der eine Urheberrechtsverletzung konstatiert, kann die gesamte Auflage eines Buches beschlagnahmen und einstampfen lassen. Solche Fälle sind nicht nur ärgerlich, weil die Gesetze besser sein könnten, sie sind ärgerlich, weil Menschen darunter zu leiden haben. Im Endeffekt kümmern sich nur Rechtswissenschaftler wirklich darum, ob Gesetze elegant sind. Praktizierende Anwälte und Bürger haben grundlegendere Sorgen: Sind die Gesetze fair? Sind sie gerecht? Funktionieren sie? Verursachen sie „Kollateralschäden“?

Das Gesetz regelt das Verhalten. Strafgesetze, etwa gegen Brandstiftung, Betrug und Mord, halten die Leute davon ab, anderen bewusst Leid zuzufügen; das Vertragsrecht hält die Leute dazu an, ihre Versprechen zu halten. Das Deliktsrecht regelt die Haftung für Schädigungen außerhalb des Vertragsrechts. Das Wasserrecht verhindert, dass die Menschen den Flüssen mehr als ihren gerechten Anteil an Wasser entnehmen. Das Gesetz bestimmt, was die Menschen zu tun und zu lassen haben, wozu sie ermutigt werden und wovor sie zurückschrecken sollen. Das Gesetz ist nicht das einzige Regulativ. Auch andere Institutionen – von den Märkten über Klatsch, von Geschwindigkeitsbeschränkungen bis hin zu Berufsverbänden – sie alle regulieren das Verhalten. Sie schreiben Verhaltensregeln vor und verfügen über Möglichkeiten, diese auch durchzusetzen. Eine der wichtigsten dieser Institutionen, die von Tag zu Tag an Bedeutung gewinnt, ist natürlich der Code. Der Code bestimmt, was in einer E-Mail stehen darf und was nicht, was der Computer leistet und was nicht, wer eine Webpage anschauen darf und auf welche Weise. Der Code gestattet gewisse Dinge und verbietet andere. Er ermöglicht all die neuen virtuellen Räume und Interaktionsformen, die wir mit dem Internet und anderen Technologien verbinden, stellt aber auch Regeln dafür auf und legt fest, in welcher Form diese Interaktionen stattfinden dürfen.

Dies ist der siebte und wichtigste Berührungspunkt von Code und Gesetz: In Räumen, die vom Code kontrolliert werden, erfüllt der Code die Rolle, die gewöhnlich mit dem Gesetz assoziiert wird. Eines unserer Grundprinzipien bei der EFF lautete „Strukturierung ist Politik“, und das ist immer noch unser Credo.

Manche, die diese Verbindung erkennen und um die Qualitäten eines guten Codes Bescheid wissen, versuchen, das Rechtssystem zu verbessern, indem sie es wie einen Computer behandeln. Es kommen Menschen zu mir mit Ideen, wie das Gesetz gehackt werden könnte. „Die Regierung sagt, dass Kryptografie eine Waffe ist“, meinen sie, „aber in der Bill of Rights, der Freiheitsurkunde, steht geschrieben, dass wir das Recht haben, Waffen zu tragen. Das bedeutet, dass wir ein konstitutionelles Recht auf die Verwendung von Kryptografie haben.“

Das Rechtssystem ist aber kein Computer. Wer einen Richter nicht überzeugen kann, dass seine Argumente mit den den Gesetzen zugrunde liegenden Werten übereinstimmen, ist zum Scheitern verurteilt. Jahr für Jahr kommen Menschen ins Gefängnis, nur weil sie glauben, einen Weg gefunden zu haben, das Sixteenth Amendment, den 16. Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten, zu hacken. „Die Einkommenssteuer ist illegal“, erklären sie, oder „Die Einkommenssteuer ist eine freiwillige Abgabe, hier steht es geschrieben“, und dann werden sie der Steuerhinterziehung bezichtigt und landen im Gefängnis. Wir haben mehrere Richter vom verfassungsmäßigen Recht auf Kryptografie überzeugt, wobei wir aber von den Grundwerten des First Amendment ausgingen und nicht von dessen eigentlichem Wortlaut.

Es ist ein kategorischer Fehler, einem System, so auch dem Rechtssystem, mit der ihm eigenen Terminologie beikommen zu wollen. Code und Recht sind unterschiedliche Regulative und haben eine unterschiedliche Textur. All jene, die den Mechanismus des Rechtssystems am Laufen halten, haben prägenden Einfluss auf das Ergebnis: Dadurch ist ein gewisses Ausmaß an Abweichung und Gutdünken nahezu unvermeidbar. Der Code kennt keine solchen Grenzen. Er kann unumstößliche und klare Regeln aufstellen und jeden daran binden. Der Code kann eine Art regulierender Präzision und Intensität erreichen, die das Gesetz nur statuieren, aber nie erreichen kann.

Doch es hat auch etwas Gutes an sich, dass das Gesetz dies nicht erreichen kann und im Allgemeinen auch nicht versucht. Erfolgreiche Rechtssysteme basieren auf Werten, bedeutenden Werten, die sich nicht immer in die verknappten Abstraktionen eines Computercodes übersetzen lassen. Ich mag das Rechtswesen: Ich mag es, Richtern technische Fragen zu erklären, bis sie verstehen, worum es geht. Sobald sie verstehen, sind sie meist gerne zur Zusammenarbeit bereit und versuchen, zu einem fairen Ergebnis zu kommen. Gute Gesetze funktionieren aufgrund dieser Flexibilität: Sie erklären, worum es geht und was geschehen soll und lassen einen Spielraum, wodurch das Rechtssystem – Kläger, Richter und Geschworene, die Menschen – das Gesetz optimal in der Praxis anwenden können.

Diese wertvolle Flexibilität ist einer der Gründe dafür, dass die amerikanische Gesetzgebung zur freien Meinungsäußerung so erfolgreich und viele Jahre hindurch ein überaus populäres Symbol für die Amerikaner war. Die grundlegende Forderung des First Amendment – „der Kongress soll kein Gesetz beschließen …, das die freie Meinungsäußerung einschränkt“ – ist im Detail sowohl absolut als auch vage. Die Doktrin wurde an die Anforderungen verschiedener Zeiten angepasst. Man bedenke, welche Katastrophe es gewesen wäre, wenn die Verfassung das Recht auf freie Meinungsäußerung an die vor zweihundert Jahren verfügbaren Technologien gebunden hätte. Wir können die Richter überzeugen, dass Code Meinungsäußerung ist, weil das First Amendment „Meinungsäußerung“ etwas vage definierte. Gleichzeitig hat die absolute Forderung „kein Gesetz“ klargestellt, dass wir, sobald wir wissen, was „Meinungsäußerung“ in einer bestimmten Zeit bedeutet, alles tun müssen, um sie zu schützen.

Man halte den jämmerlichen Zustand der Urheberrechtsgesetzgebung dagegen. Die Copyright- Voraussetzungen basieren nach wie vor auf den technologischen Voraussetzungen einer anderen Zeit, in der die Vervielfältigung von Werken kostspielig und zeitaufwändig war – dies spiegelt sich im Gesetz in ganz spezifischen Details wider. Der Text des Copyright Act der Vereinigten Staaten besteht aus einer langen Liste sehr detaillierter Verordnungen für das Kopieren von Print-, Audio- und audiovisuellen Aufzeichnungen und ihren spezifischen Verbreitungsmöglichkeiten. Nicht dass diese Verordnungen zu ihrer Zeit zwangsläufig schlecht waren: Man kann davon ausgehen, dass ihre Präzision und Detailliertheit damals wichtige Qualitäten darstellten. Heute sind sie aber unangemessen; sie stehen den wirklichen Zielen des Copyrights im Wege, nämlich Künstler zu entschädigen und die Öffentlichkeit an Kreativität teilhaben zu lassen: Mit einem Gesetz, das weniger wie ein Code ausgesehen hätte, wäre uns besser gedient gewesen.

Die gefährlichsten Gesetze wurden von Gesetzgebern erlassen, die vergessen haben, dass das Rechtssystem nicht der strengen und verlässlichen Logik eines Computers folgt. Die Rede ist von Gesetzen, die gegen die Vitalität der Sprache ankämpfen und voller detaillierter und unlogischer Definitionen sind. Dies sind auch die Gesetze, denen zufolge jeder Aspekt der Gesellschaft programmierbar sein kann und sollte, und die davon ausgehen, dass mit dem richtigen Code alles perfekt würde.

Diese Vision von Gesetz und Gesellschaft als Computer, die nur auf die richtigen Instruktionen warten, ist es auch, die Politiker dazu bringt, unter dem Vorwand einer effizienteren Wohnbaupolitik pulsierende Stadtviertel niederzuwalzen, um kalte Betonklötze zu errichten oder Wälder zu roden und durch exakte Baumreihen zu ersetzen, damit sie einfacher zu bewässern sind. Diese Vision lässt Politiker auch darauf bestehen, dass sich die technologische Innovation an die Wünsche der Copyright-Inhaber oder andere Interessen anzupassen hat. Der Broadcast-Flag-Antrag, der gegenwärtig der Federal Communications Commission vorliegt, würde vorsehen, das ein in Fernsehausstrahlungen eingebetteter elektronischer Marker, „Broadcast- Flag“ genannt, anzeigt, wie die Sendung zu verwenden ist. Dies ist keine schlechte Idee für einen Computercode: Die Umsetzung dieses Gedankens erfordert lediglich, dass Computer und elektronische Geräte auf eine bestimmte Weise codiert werden. Aber als Gesetz wäre diese Idee eine Katastrophe, da die Forderung, dass Geräte bestimmt Codes enthalten (und andere nicht), der grundlegenden „Freiheit des Codes“ widerspricht, die zur Verbreitung und Entwicklung der Technologie führte.

Ein gut gemachtes Gesetz vertritt Werte, die zu bewahren sich lohnt. Tausende Jahre Erfahrung haben die Anwälte Lektionen gelehrt, die man nicht vergessen sollte. Kein Gesetz, dem die Mehrheit der Menschen nicht zustimmt, hält sich lange. Es muss bei Verboten immer Spielraum für „de minimis“-Ausnahmen geben. Wichtige Korrekturen und Ausnahmen werden erst im Nachhinein deutlich, wenn problematische Fälle auftauchen. Veränderungen im Bereich der Technik und in der Gesellschaft erfordern subtile Veränderungen in der Bedeutung und Anwendung der Regeln. Es gibt nicht nur einen richtigen Weg, um ein Problem zu lösen.

In dem Ausmaß, in dem der Code in Räumen und Bereichen, die für unsere zunehmend technologischen Gesellschaften von immer größerer Bedeutung werden, als Gesetz fungiert, muss er diese gesetzlichen Werte auch bestmöglich respektieren. Dies wird manchmal implizieren, dass man nicht alles in Codes ausdrückt. Einer der Gründe, warum DRM und das Broadcast Flag Proposal so bedenklich sind, ist, dass sie die Flexibilität zu eliminieren drohen, die wir mit einer gerechten Anwendung des Gesetzes und des technologischen Prozesses verbinden. Dies kann auch bedeuten, dass wir diese Werte in den Code selbst einbinden müssen. Das End-to-End-Design, das den großen Erfolg des Internets ausmacht, ist in mancher Hinsicht nur die Umsetzung des juristischen Werts der Bescheidenheit in Code. Wir wissen nicht, was die Menschen tun werden, deshalb versuchen wir auch nicht, ihre Probleme für sie zu lösen, bevor wir überhaupt wissen, welcher Art diese Probleme sind.

Die achte und letzte Bedeutung von „Code ist gleich Gesetz“ soll demnach in Erinnerung rufen, dass Code, wenn er Gesetztesstatus erlangt, auch gewisse Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten übernehmen muss. Juristen beschäftigen sich heute mit Codes und können von diesem Wissen profitieren, doch müssen Codierer auch Juristen im besten Sinne des Wortes werden, wenn wir die Freiheit des Internets bewahren und jene Art von digitaler Welt aufbauen wollen, in der wir leben möchten.

Aus dem Amerikanischen von Martina Bauer