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Von der Poesie des Programmierens zur Forschung als Kunstform


'Christa Sommerer Christa Sommerer / 'Laurent Mignonneau Laurent Mignonneau

KONZEPTUELLER HINTERGRUND
Seit den frühen 90er Jahren entwickeln und programmieren wir interaktive Computersysteme, bei denen der Input aus der Benutzerinteraktion wichtiger Bestandteil selbst entwickelnder Softwarestrukturen ist, die nicht von uns Künstlern vorgegeben werden, sondern sich ständig verändern, vergrößern, weiterentwickeln und an ihre Umgebung anpassen.

Eines der Hauptziele bei der Entwicklung dieser Systeme ist es zu zeigen, dass die Interaktion eine Schlüsselkomponente von Komplexität, Diversität und Emergenz ist, und zwar sowohl im wirklichen Leben als auch in künstlichen Systemen.

Die Entwicklung dieser interaktiven Softwarestrukturen, die sich durch Benutzerinteraktion laufend verändern, beruht auf den Grundsätzen komplexer anpassungsfähiger Systeme und künstlichen Lebens. So entstanden dynamische interaktive Arbeiten, die nicht statisch sind, sondern prozessbasiert, ausbau- und anpassungsfähig sowie auf ihre Umgebung abgestimmt.In Anlehnung an natürliche Systeme, die immer dynamisch, flexibel und inputabhängig sind, nennen wir dieses Konzept „Kunst als Lebendes System“. (1) Bevor wir einige der Forschungsgrundsätze beschreiben, auf die sich die Schaffung dieser Arbeiten stützt, möchten wir auf einige grundlegende Fragen zur Rolle des Programmierens, zur Funktion des Künstlers/Programmierers sowie zur Bedeutung von Forschung und Entwicklung für unser künstlerisches Schaffen eingehen.
FORSCHUNG ALS KUNSTFORM
Für jedes unserer interaktiven Werke haben wir maßgeschneiderte Softwareprogramme und eigene Hardware-Schnittstellen entwickelt, die eigens für diese Systeme designt wurden. (2)

Besonders viel Energie fließt in die Entwicklung neuer Schnittstellen und Programmieralgorithmen für neuartige künstlerische Konzepte. Unser künstlerisches Schaffen ist zur Forschungsarbeit geworden, und die von uns geschaffenen Arbeiten sind Forschungsprojekte, die den Rahmen des bereits Bekannten und Handelsüblichen austesten und ausweiten.

Einer der Hauptbeweggründe dafür, eigene Softwareprogramme zu schreiben und eigene Schnittstellen zu entwickeln, anstatt Standard-Softwarepakete oder handelsübliche Schnittstellen zu verwenden, liegt in unserem Bestreben, Systeme zu entwickeln, die neue Fragen aufwerfen und neuartige technische, konzeptuelle und künstlerische Ansätze untersuchen.

Als Medienkünstler verstehen wir uns bewusst als Künstler/Forscher oder Forscher/Künstler, die neuen Fragestellungen des Schaffungsprozesses nachgehen und es sich zur Aufgabe machen, neue Horizonte der Kreativität und digitalen Technologie auszuloten sowie sich grundsätzlich Fragen des Schöpfens, Erfindens und Entdeckens zu widmen.
JENSEITS DER ENDVERBRAUCHERKUNST UND
DIE KUNST DER ENTDECKUNG
Im Lauf unserer rund zehnjährigen Arbeit an den modernsten Forschungszentren in Deutschland, den USA und Japan (3) , (4) , (5) machten wir wiederholt die Erfahrung, dass neuartige Forschungsprototypen erst mit einigen Jahren Verspätung tatsächlich auf den Software- bzw. Hardwaremarkt kommen. Im Handel erhältliche Software- bzw. Hardwareprodukte hinken daher meist einige Jahre hinter den bereits wissenschaftlich und technisch erforschten Möglichkeiten nach. Die künstlerische Arbeit im Bereich Forschung und Entwicklung gibt daher nicht nur Einblick in – möglicherweise zukunftsträchtige – Visionen und Erfindungen von heute, sondern ermöglicht es auch, neue künstlerische Forschungsbereiche zu definieren, die ihrerseits die Zukunft von Kunst, Design, Produkt und der Gesellschaft als Ganzes beeinflussen könnten.

Natürlich ist es völlig legitim, auch als Künstler Endverbraucher zu sein und für sein künstlerisches Schaffen handelsübliche Software- bzw. Hardwarepakete zu verwenden. Werke, die auf Basis solcher Pakete entstehen, weisen jedoch stets gewisse kreative Einschränkungen und ästhetische Ähnlichkeiten auf. Die Freiheit, die sich dem Künstler durch das Design einer eigenen Software und die Entwicklung eigener Hardware eröffnet, ist mit der des Malers vergleichbar, der seine eigenen Farben aus Pigmenten mischt, anstatt einen Malkasten mit einer beschränken Auswahl vorgemischter Farben zu verwenden. Das Experimentieren mit Details und das manchmal zufällige Entdecken neuartiger Features macht das Programmieren selbst zu einem höchst kreativen Erlebnis. Während des Programmierprozesses kann man zufällig oder sogar aufgrund von Missverständnissen wichtige neue Entdeckungen machen. Die Programmiersprache selbst ist so angelegt, dass sie auf eine bestimmte Art und Weise zu verwenden ist (Grammatik und Vokabular, Syntax). Der Inhalt, der mittels dieser Sprache beschrieben wird, ist jedoch nicht festgelegt, was dem Programmierer in der Verwendung große Freiheiten gestattet. Programmieren ist ein ständiges Entdecken. Sobald Künstler andere ein Programm schreiben lassen, gehen daher viele kreative Einzelheiten verloren, die für die endgültige Form und sogar für den endgültigen Inhalt der Arbeit entscheidend sein können.
DIE POESIE DES PROGRAMMIERENS
Das Programmieren ist mit dem Schreiben eines Romans vergleichbar: Obwohl die Sprache des Romans festgelegt ist (zum Beispiel Französisch, Deutsch oder Englisch), bleibt der vermittelte Inhalt der Fantasie und dem kreativen Ausdruck des Autors überlassen.

Dasselbe gilt auch für die Kunst des Programmierens: Programmierer haben beim Schreiben von Programmiercodes jeweils ihren eigenen Stil, und das Ergebnis hängt üblicherweise von ihrem Können und ihrer Erfahrung ab. Besonders im Bereich des Interface-Programmierens, das sich durch die Berücksichtigung potenzieller Benutzer-Inputs durchaus komplex gestalten kann, zeigen sich große Unterschiede in den Programmierstilen und in der persönlichen Kreativität der Programmierer.

Kehren wir aber zur Metapher des Romans zurück: Stellen wir uns vor, zwei Schriftsteller sollen einen Roman zum selben Thema und in derselbenSprache schreiben. Die beiden so entstandenen Romane würden sich zweifellos stark voneinander unterscheiden, obwohl sich beide Autoren derselben Sprache und vielleicht sogar derselben Worte bedient haben. Einer der Romane ist möglicherweise spannender als der andere – und der Unterschied liegt darin, auf welche Weise der Autor seine Ideen und Vorstellungen zu Papier gebracht hat.

Erst durch die perfekte Beherrschung einer Sprache und die völlige Offenheit für Entdeckungen und Experimenten kann eine Autorin Werke schaffen (seien es nun Computerprogramme oder Romane), die ihre kreative Vision zum Ausdruck bringen und transzendieren.
DIE ROLLE DES CODE IN UNSERER KÜNSTLERISCHEN ARBEIT
Wenden wir uns nun der Funktion des Code in unseren eigenen Kunstwerken zu.

Wir wollen durch die Schaffung interaktiver Systeme unter anderem die Dynamik und Komplexität des Lebens aufzeigen. Um mit Dennett zu sprechen: „William Paley hatte in einem recht: unserem Bedürfnis danach zu erklären, wie es sein kann, dass das Universum so viele wunderbar gestaltete Dinge enthält.“ (6)

Tief beeindruckt von der Vielfältigkeit der Natur entwickelten wir verschiedene künstliche Systeme, die sich auf Systeme aus dem wirklichen Leben beziehen, indem sie deren Schönheit und komplexes Designs widerspiegeln und interpretieren. Die Analyse von Naturprinzipien, wie etwa der Entstehung von Leben, Ordnung und Komplexität und von Interaktionsdynamik inspirierte uns zur Schaffung künstlicher Systeme, die einige dieser Prozesse modellieren.

Zu diesem Zweck mussten Softwarestrukturen geschaffen werden, die selbst dynamisch und ausbaufähig sind. So spielten wir im Lauf der Jahre eine federführende Rolle in der Entwicklung und Etablierung eines Forschungsbereichs, der Artificial Life Art, generative Kunst und Kunst, die mittels Interaktivität komplexe anpassungsfähige Systeme schafft, zum Inhalt hat. (7)

Es folgt ein kurzer Überblick über die grundlegenden Einzelbereiche.
KOMPLEXE DYNAMISCHE SYSTEME
Die Wissenschaft der komplexen Systeme untersucht die Frage, wie die einzelnen Teile eines Systems zum kollektiven Verhalten des Systems beitragen und wie dieses mit seiner Umgebung interagiert. Zu komplexen Systemen zählen zum Beispiel Gesellschaftssysteme (wie etwa das des Menschen), aber auch das aus Neuronen bestehende Gehirn, Moleküle als Zusammenschluss von Atomen und das Wetter als Kombination verschiedener Luftströmungen. Der Forschungsbereich komplexer Systeme ist erst während der letzten zehn Jahre entstanden und untersucht mögliche Gründe für das Entstehen von Leben auf der Erde. Zu diesem Zweck werden die lebenden Systemen innewohnenden Strukturen erforscht und mögliche gemeinsame Muster innerhalb dieser Strukturen festgemacht. Ein eigener Forschungszweig – der über die Grenzen der Biologie hinaus auch in Physik und Informatik hineinreicht – beschäftigt sich mit komplexen dynamischen Systemen und kann als Versuch gelten, grundlegende Organisationsprinzipien zu finden. Die Erforschung komplexer Systeme konzentriert sich auf bestimmte Fragen in Bezug auf Bestandteile, Ganzheiten und Beziehungen. Unter anderem haben Aschby (8) , Baas (9) , Bennett (10) , Cariani (11) , Casti (12) , Chaitin (13) , Jantsch (14) , Kauffman (15) , Landauer (16) , Langton (17) , Pagels (18) , Wicken (19) , Wolfram (20) und Yates (21) versucht, verschiedene Konzepte von Komplexität zu beschreiben und zu definieren.

Obwohl der Begriff des komplexen Systems bisher nicht genau definiert wurde, besteht Einigkeit über folgenden Punkt: Kommt es zur Interaktion einer Reihe evolvierender autonomer Partikel oder Agenten, so weist das daraus resultierende globale System emergente kollektive Eigenschaften, Evolutionstendenzen sowie ein kritisches Verhalten mit allgemeingültigen Merkmalen auf.

Ein solches System stellt etwas gänzlich Neues dar und lässt sich nicht aus den einzelnen Bestandteilen ableiten. Die Agenten oder Partikel können unter anderem komplexe Moleküle, Zellen, lebende Organismen, Tiergruppen, menschliche Gesellschaften, Industriebetriebe, konkurrierende Technologien sein. Sie alle stellen Aggregate aus Masse, Energie und Information dar und weisen die folgenden Merkmale auf: Sie
  • koppeln sich aneinander

  • lernen, passen sich an und organisieren sich,

  • mutieren und entwickeln sich weiter,

  • entfalten ihre Vielfältigkeit,

  • reagieren auf ihre Nachbarn und auf Steuerung von außen,

  • erforschen ihre Möglichkeiten,

  • vermehren sich,

  • schaffen eine Hierarchie vertikaler Ordnungsstrukturen.
EMERGENZ
In der Erforschung komplexer Systeme versteht man unter Emergenz das Entstehen von Mustern, Strukturen oder Eigenschaften, die sich nicht hinreichend aus den einzelnen ursprünglich vorhandenen Systemkomponenten und deren Interaktion erklären lassen. Der Begriff der Emergenz wird als Erklärungsmodell immer dann besonders interessant, wenn
  • die Organisation des Systems, d.h. seine Gesamtordnung, offenbar weitreichender anders konzipiert ist als die einzelnen Komponenten,

  • man die Komponenten austauschen kann, ohne dass das gesamte System zerfällt, und

  • wenn die neuen globalen Muster oder Eigenschaften im Vergleich zu den ursprünglichen
Einzelkomponenten etwas radikal Neues darstellen; wenn also die emergenten Muster unvorhersehbar scheinen, nicht aus den Komponenten abzuleiten und nicht auf diese reduzierbar sind.
INTERAKTIVITÄT
Interaktivität spielt eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Komplexität und Emergenz. Einzelkomponenten verbinden sich miteinander und tauschen wichtige Informationen aus, wodurch wieder neue Informationen entstehen können. Daher lässt sich Interaktivität als Schlüsselprinzip in der Organisation und Transformation von Komponenten innerhalb eines komplexen dynamischen Systems beschreiben.
DYNAMISCHES PROGRAMMIEREN, EMERGENTES DESIGN UND BENUTZERINTERAKTION
Fasziniert von der Idee, dass Ordnung, Struktur und Design aus der Interaktion von Partikeln oder Agenten in einem System entstehen können, erforschen wir (seit 1992) komplexe dynamische Systeme, die ausbaufähig, prozessbasiert, anpassungsfähig und umgebungszentriert sind. Aus künstlerischer Sicht versuchen wir Werke zu schaffen, die selbst dynamischen lebenden Systemen gleichen („Kunst als Lebendes System“1), da sie sich analog zu den Eingabeparametern ihrer Umgebung ständig verändern, anpassen und variieren.

Um eine dynamische und emergente Softwarestruktur zu schaffen, ist auch ein neues Programmierverfahren erforderlich: Anstatt den Computer einfach anzuweisen, eine vorgegebene Befehlskette auszuführen, sollte sich der Code selbst „fliegend“ reorganisieren, während die dynamischen Eingabeparameter verarbeitet werden.

Wie in komplexen dynamischen Systemen sind auch hier sämtliche Komponenten des Softwarecodes sowie sämtliche Eingabeparameter der Benutzerinteraktion miteinander verbunden: Daraus entsteht ein anpassungsfähiges System, das sich selbst reorganisiert, das mutiert und sich entwickelt, seine Vielfältigkeit entfaltet, auf seine Nachbarn und auf Steuerung von außen reagiert, seine Möglichkeiten auslotet, sich vermehrt und schließlich eine Hierarchie vertikaler Ordnungsstrukturen schafft.

Das künstlerisch Interessante an diesem Prozess ist, wie der Akt des Erschaffens zu einer emergenten Eigenschaft wird und zu unerwarteten und neuartigen Ergebnissen führen kann. Aus der dynamischen Softwarestruktur und einer damit verbundenen Benutzerinteraktion können neue Inhalte und Ausdrucksformen entstehen. Das Endprodukt ist kein vorbestimmtes „Resultat“, sondern ein dynamischer Prozess ständiger Rekonfiguration und Anpassung.

Abbildungen 1 und 2 zeigen die 1997 entstandene Arbeit Life Spacies. Dabei wird Sprache als genetischer Code zur Erschaffung künstlicher Online-Wesen verwendet, die leben, sich paaren, sich weiterentwickeln, sich von Text ernähren und sterben. Die Benutzer können diese Wesen schaffen, indem sie Text schreiben und die Wesen mit Buchstaben füttern. In dieser Arbeit wird das Konzept des Sprachcodes wörtlich genommen: Er funktioniert als genetischer Code für künstliche Lebensformen. Eine detaillierte Beschreibung dieses Systems findet sich in. (22) Einige der frühen, seit 1992 entstandenen generativen Kunstwerke, die dynamische und generative Bildprozesse verwenden, finden sich in der Literatur. (1) , (23) , (24) , (25)
DIE ERZEUGUNG VON UND INTERAKTION MIT KOMPLEXITÄT IM INTERNET
Das Internet ist eine sich ständig erweiternde Datenbank von Bildern und Text- und Soundfiles, die derzeit mehrere Milliarden Dokumente enthält. Diese Daten und ihre interne Organisation sind ständigen Veränderungen unterworfen, wenn neue Dokumente geladen, neue Websites geschaffen und alte Links gelöscht werden. Außerdem werden ständig neue Verbindungen zwischen verschiedenen Sites hergestellt. So ist das Internet im Grunde zu einem Netzwerk aus benutzerabhängigem Dateninput und -output geworden, das sich ständig weiterentwickelt, Verbindungen wiederherstellt und sich selbst rekonfiguriert. Seit 1999 haben wir verschiedene interaktive Systeme geschaffen, die sich diese Komplexität direkt zunutze machen und sie mit multimodaler Interaktion verbinden.

Das erste System war Riding the Net (1999). (26) Dabei können die Benutzer mittels gesprochener Sprache Bilder aus dem Internet abrufen, diese Bilder an sich vorbeiziehen lassen und mit ihnen durch Berührung interagieren. Zwei Benutzer können gleichzeitig in diesem System interagieren, und während sie kommunizieren, wird ihr Dialog in Echtzeit durch aus dem Internet bezogene Bilder und Töne gestützt und visualisiert. Abbildung 3 zeigt ein Beispiel für eine derartige Interaktion im Rahmen von Siggraph 2001.

2001 adaptierten wir die Riding the Net-Software zur Bildabrufung für ein interaktives Informationsumfeld namens The Living Room. Dieses System wurde für die im Mai 2001 in Malmö veranstaltete Architekturmesse „Bo01-Living in the Future“ entwickelt. In diesem System betreten die Benutzer einen 6x6 Meter großen Raum, der aus vier 4x3 Meter großen Leinwänden besteht. Mikrofone an der Decke des Raumes verfolgen die Gespräche der Benutzer. Wenn bestimmte Stichwörter fallen, entstehen Wort-Icons, die über die vier Leinwände wandern. Die Benutzer können diese Wort-Icons berühren und so entsprechende Bilder aus dem Internet herunterladen. In diesem System können gleichzeitig bis zu 30 Benutzer die verschiedenen Wort-Icons berühren und so ständig wechselnde Bilder und Töne aus dem Internet herunterladen. Durch diese Multiuser-Interaktionen entsteht ein dynamischer, selbstorganisierter und sich ständig ändernder Informationsraum. Dieser steht für die Einzelgespräche der Benutzer, ihr persönliches Interesse an bestimmten Themen und ihre kollektive Interaktion mit den geteilten Informationen.

Im Mai 2002 adaptierten wir die Living Room-Software für die 3D-Immersionsumgebung des CAVE™-Systems. In diesem System namens The Living Web können die Benutzer tatsächlich „das Internet betreten“ und mit der vorhandenen Bildund Soundinformation in drei Dimensionen interagieren. Wenn die Benutzer in das Mikrofon ihres Headsets sprechen, werden zu ihren Gesprächen passende Bilder aus dem Internet abgerufen und im 3D-Format um sie herum dargestellt. Wenn die Benutzer nun eines der um sie herumschwebenden Bilder berühren, können sie weitere Informationen über dieses bestimmte Bild abrufen (etwa seine URL), das Icon in einem 3D-Raum ablegen und so ein Lesezeichen anlegen und die verschiedenen ausgewählten Icons als 3D-Lesezeichen sortieren, um weitere Links anzulegen, sie nach Interessensgebieten zu reihen und Verbindungen zwischen den verschiedenen gewählten Themen herzustellen.

Wie schon bei den Systemen Riding the Net und The Living Room wird die Ungenauigkeit des Spracherkennungssystems und die zufällige Auswahl von Bildern aus den verschiedenen Suchergebnissen bewusst verwendet, um ein dynamisches System zu schaffen, das unberechenbar und voller Überraschungen ist sowie mit einigen Definitionen von komplexen Systemen übereinstimmt. Obwohl die Benutzer eine gewisse Kontrolle darüber haben, welche Bildund Sound-Downloads initiiert werden, wird eine gezielte Auswahl durch die schiere Menge der verfügbaren Information unmöglich. Zu jedem Stichwort sind durchschnittlich mehrere hundert oder sogar mehrere tausend Bild- und Tondokumente vorhanden, und die Benutzer können im Normalfall nur einen Bruchteil der vorhandenen Daten wahrnehmen. Um diese komplexe und sich ständig verändernde Datenbank aus Bildern und Tönen zu verwalten und um intuitives und kreatives Datenbrowsing zu ermöglichen, wurden diese Systeme so angelegt, dass sie mit Zufälligkeit und Ordnung umgehen können und sowohl zielgerichtete als auch teilweise zufällige Suchvorgänge erlauben. (27) Ähnlich den Grundsätzen komplexer Systeme sind es auch hier gerade die Begriffe Ordnung und Zufälligkeit, Berechenbarkeit und Überraschung, die dynamische komplexe Systeme interessant und emergent machen und für zahlreiche Entdeckungsmöglichkeiten sorgen.
MEHR ALS NUR CODE
Das Schreiben von Computerprogrammen ist eine schwierige Aufgabe, die enormes Wissen über die sich ständig ändernden Programmiersprachen und -versionen, deren Kapazitäten und innere Strukturen verlangt. Außerdem kann die Vertrautheit mit der Hardwarearchitektur im Computerinneren sowie mit deren Quellen und Infrastruktur von großem Vorteil sein, wenn man über die Grenzen des bereits Bekannten und Erforschten hinaus will.

Die Vertrautheit mit Hardware- und Softwarestrukturen ist dann wichtig, wenn man neue Ausdrucksformen erforschen und weniger von den begrenzten Möglichkeiten handelsüblicher Computerhardware und -software abhängig sein möchte. Genaue Sachkenntnis schafft zusätzlichen Freiraum. Mit ihrer Hilfe können wir jeden Teil des Computers verändern, modifizieren und ausweiten und sowohl Hardware als auch Software als flexible Materialien verwenden, um unsere Vorstellungen und künstlerische Vision auszudrücken und zu verwirklichen. Nur wenn alle Komponenten der Materialien bekannt sind, kann man die eigentliche Technologie hinter sich lassen und Arbeiten schaffen, die über das rein Technische und Materialistische hinausgehen.

Ähnlich wie in biologischen Systemen, wo sich der Phänotypus oft stark vom Genotypus unterscheidet, ist auch das Programmieren als Kunstform nicht nur eine Frage des Codes als Selbstzweck. Vielmehr geht es darum, wie dieser Code zum Ausdruck gebracht wird, wie er an andere Umgebungseinflüsse gebunden ist und was er eigentlich bedeutet.

Anstatt sich nur auf technische Details zu konzentrieren und sich in materialistischen Fragestellungen des Code zu verlieren, müssen Künstler, die mit dieser Technologie arbeiten, die Grenzen von Softwarecode und Hardware-bedingten Zwängen hinter sich lassen und uns mit intellektuell und emotional herausfordernden Ideen und Fragen konfrontieren.

Die größte Schwierigkeit in der künstlerischen Arbeit mit dem Computer liegt daher nicht in der Aneignung technischer Fertigkeiten oder im Erlernen von Programmiersprachen, sondern darin, die technischen Möglichkeiten von Software und Hardware zu bewerten und einzuschätzen sowie neue technische und intellektuelle Konzepte zu erforschen, indem man ihre konzeptuellen und technischen Perspektiven und ihren möglichen Wert gegeneinander aufwiegt.

So wie jede Höchstleistung in einer kreativen Ausdrucksform (sei es Tanz, Theater, Film oder Mode – man denke nur daran, wie wichtig die Körperbeherrschung von TänzerInnen für die Qualität der künstlerischen Leistung einer Tanz-Performance ist), verlangt auch die Computerkunst einen gewissen Grad an Materialbeherrschung, bevor sie über sich selbst hinauswachsen kann.

Die Qualität von Medienkünstlern zeigt sich daher darin, wie offen sie der Schaffung neuer Visionen und der Erforschung neuer Werkzeuge und Strukturen zur Realisierung dieser Visionen gegenüberstehen und inwieweit sie uns Inhalte und Erfahrungen bieten können, die über Zeit und Material hinausgehen und tiefergehende emotionale Qualitäten ansprechen, die mit Hilfe von Codes oder Zahlen allein schwer zu erklären sind.

Aus dem Englischen von Elisabeth Wiellander

(1)
Sommerer, C. und Mignonneau, L.: „Art as a Living System“, in Sommerer C. & Mignonneau, L., (Hgs.): Art @ Science, Springer Verlag, Wien/New York 1998b, S. 148–161.zurück

(2)
Mignonneau, L. und Sommerer, C.: „Designing Interfaces for Interactive Artworks“, in KES 2000 Knowledge Based Engineering Systems Conference Proceedings, University of Brighton, UK 2000, S. 80–84.zurück

(3)
ATR Advanced Telecommunications Research Center, Kyoto, Japan: http://www.atr.co.jpzurück

(4)
Fraunhofer Gesellschaft, Bonn, Germany: http://www.fraunhofer.dezurück

(5)
Beckmann Institute, NSCA National Center for Super Computing Applications, Champain/Urbana, IL, USA: http://www.beckman.uiuc.eduzurück

(6)
Dennett, D.: Darwin’s Dangerous Idea: Evolution and the Meanings of Life, Simon & Schuster, New York 1995.zurück

(7)
Sommerer, C.: „A Life in Art, Design, Edutainment, Game and Research“, in LEONARDO Journal, Heft 34:4, S. 297–298, MIT Press, Cambridge/MA August 2001.zurück

(8)
Ashby, W. Ross: „Principles of the self-organizing system“, in Von Foerster, H. & Zopf, G. W., (Hgs.): Principles of Self-Organization, Pergamon Press, Oxford 1962, S. 255–278.zurück

(9)
Baas, N. A.: „Emergence, Hierarchies, and Hyperstructures“, in Langton, C. G., (Hg.): Alife III, Santa Fe Studies in the Sciences of Complexity, Proc. Volume XVII, Addison-Wesley, Redwood City 1994, S. 515–537.zurück

(10)
Bennett, CH.: „Logical depth and physical complexity“, in Rolf Herken, (Hg.): The Universal Turing Machine, Oxford University Press, Oxford 1988, S. 227-257.zurück

(11)
Cariani, P.: „Emergence and Artificial Life“, in Langton, C. G., Taylor, C., Doyne Farmer, J., und Rasmussen, St., (Hgs.): Artificial Life II. Santa Fe Institute Studies in the Sciences of Complexity, Proc. Vol. X, Addison-Wesley, Redwood City, Calif. 1992, S. 775–797.zurück

(12)
Casti, J.L.: Complexification, Abacus, London 1994.zurück

(13)
Chaitin, G.J.: Information Theoretic Incompleteness, World Scientific, Singapore 1992.zurück

(14)
Jantsch, Erich: The Self-Organizing Universe, Pergamon, Oxford und New York 1980.zurück

(15)
Kauffman, St.: The Origins of Order. Self-organization and Selection in Evolution, Oxford University Press, Oxford 1993.zurück

(16)
Landauer, R.: „A simple measure of complexity“, in Nature 336, S. 306–307, 1988.zurück

(17)
Langton, C.: „Artificial Life“, in C. Langton, (Hg.): Artificial Life, Addison-Wesley, Redwood City 1989, S. 1–47.zurück

(18)
Pagels, H.: The Dreams of Reason, Simon & Schuster 1988 (Bantam ed., N.Y. 1989)zurück

(19)
Wicken, J. S.: Evolution, Thermodynamics, and Information, Oxford University Press, Oxford 1987.zurück

(20)
Wolfram, S.; „Cellular automata as models of complexity“, in Nature 311, S. 419–424, 1984.zurück

(21)
Yates, F.E., ed. 1987. Self-Organizing Systems. The Emergence of Order. Plenum Press, New York, 1987.zurück

(22)
Sommerer, C., Mignonneau, L. und Lopez-Gulliver, R.: „LIFE SPACIES II: from text to form on the Internet using language as genetic code“, in Proceedings ICAT’99 9th International Conference on Artificial Reality and Tele-Existence, Virtual Reality Society, Tokyo 1999e, S. 215-220.zurück

(23)
Sommerer, C. und Mignonneau, L.: „Interacting with Artificial Life: A-Volve“, in Complexity Journal, Band 2, Nr. 6, S. 13–21, Wiley, New York 1997.zurück

(24)
Sommerer, C. und Mignonneau, L.: „The application of artificial life to interactive computer installations“, in Artificial Life and Robotics Journal, Band 2, Nr.4, S. 151-156, Springer Verlag, Tokyo 1998.zurück

(25)
Sommerer, C. und Mignonneau, L.: 2000 „Modeling Emergence of Complexity: the Application of Complex System and Origin of Life Theory to Interactive Art on the Internet“, in Bedau, M.A., McCaskill, J.S., Packard, N. H., und Rasmussen, St., (Hgs.): Artificial Life VII, MIT Press, Boston 2000, S. 547-554.zurück

(26)
Mignonneau, L., Sommerer, C., Lopez-Gulliver, R. und Jones, S.: „Riding the Net: a Novel, Intuitive and Entertaining Tool to Browse the Internet“, in SCI 2001—5th World Multiconference on Systemics, Cybernetics and Informatics Conference Proceedings, International Institute of Informatics and Systemics, Orlando, Florida 2001b, S. 57-63.zurück

(27)
R. Lopez-Gulliver, C. Sommerer, und Mignonneau L.: „Interfacing the Web: Multi-modal and Immersive Interaction with the Internet“, in VSMM2002 Proceedings of the Eight International Conference on Virtual Systems and MultiMedia, Gyeongju, Korea 2002, S. 753-764.zurück