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Einige Gedanken zu den Möglichkeiten und Gefahren von Computern in der Kunst und der Musik


'James McCartney James McCartney

BOOTSTRAP-LOADER
0. 1. Ein Wert für Nichts. Ein Wert für Etwas. Von diesem Abstraktionspaar, das die grundlegendste aller Unterscheidungen versinnbildlicht, sind alle weiteren Abstraktionen in der digitalen Welt abgeleitet. Einfache Werte wie Zahlen oder Buchstaben können als Strings aus Nullen und Einsen codiert werden. Eine Idee kann durch die Codierung ihrer Attribute, Funktionen und Beziehungen zu anderen Ideen dargestellt werden. Untereinander vernetzte Ideen können zu einem Mikrokosmos, zu einer künstlichen Welt geformt werden. Die Funktionen und Beziehungen, die diese Welten definieren, können in Bewegung gesetzt werden.

Computer sind die treibende Kraft in diesen Mikrokosmen. Sie sind die Motoren der Abstraktion, der Symbole, der Gedanken und Ideen. Die Performance dieser Motoren ist in den letzten Jahren enorm gestiegen und wird noch weiter wachsen. Mit der Performancesteigerung wird bisher Unmögliches plötzlich möglich. Ich erinnere mich noch genau, als ich das erste Mal einen meiner Synthesizer auf einem Rechner kompilierte, der Töne schneller berechnen konnte, als sie in Echtzeit abspielbar waren. Das war für mich die Wende. Kann man Klänge in Echtzeit generieren, so kann man mit ihnen interagieren. Und Interaktion ermöglicht Phänomene, die man durch Eintippen von Befehlslisten niemals hätte erzielen können.

Programmiersprachen sind die Werkzeuge, die wir zum Codieren der Ideen einsetzen. Dank immer schnellerer Computer können wir Sprachen mit einem wesentlich höheren Abstraktionsgrad verwenden; dies war früher wegen der fehlenden Performance undenkbar. Somit lassen sich komplexere Welten mit immer weniger Aufwand kreieren. Unterschiedliche Sprachen setzen auf unterschiedliche Paradigmen und führen so zu unterschiedlichen Lösungsansätzen. Wer mit einer bestimmten Programmiersprache arbeitet, beginnt in dieser Sprache zu denken und sieht für Problemstellungen stets mögliche Lösungen in jener Sprache.
DAS SELBST UND DIE GESELLSCHAFT ALS FITNESS-FUNKTION
Die Schnelligkeit der Rechner und die Expressivität der Programmiersprachen erlauben es, die Sphären von möglichen Klängen, Klang- und Musikprozessen sowie kompositorischen Algorithmen in einer noch nie dagewesenen Tiefe und Breite auszuloten. Frühe Zufallsmusik von Cage und anderen baute auf einfachen Algorithmen auf, und viele dieser ersten Kompositionsalgorithmen benötigen in modernen Sprachen nur wenige Zeilen Code.

Sucht man mithilfe eines Computers eine Lösung für eine Aufgabe, so braucht man eine Funktion, um festzustellen, ob man den richtigen Weg eingeschlagen hat. Das ist die Grundlage für genetische Algorithmen oder den A-Suchalgorithmus. Man braucht aber zumindest eine Funktion, um festzustellen, ob die Suche Erfolg hatte. In der Kunst lässt sich keine derartige Funktion programmieren. Nicht einmal Menschen sind sich einig, ob ein Kunstwerk erfolgreich, interessant oder von einer gewissen Relevanz ist, weshalb jeder Einzelne und die Gesellschaft Fitness-Funktionen für Kunst einsetzen. Die Gesellschaft entscheidet über den Wert von Kunstwerken, der sich im Lauf der Zeit aufgrund von Modetrends oder der allgemeinen gesellschaftlichen Befindlichkeit ändern kann. Daher werden voll autonome Kompositionsprogramme so lange keinen Erfolg in der Gesellschaft haben, bis – falls überhaupt – sich Computer der menschlichen Beziehung zu Kunst und dem sozialen Kontext von Kunst bewusst werden.

Computermusik stellt das Publikum vor dasselbe Problem wie die moderne Kunst: Wie bewertet man ein Kunstwerk? Das Publikum kann oft gar nicht nachvollziehen, was in einem Computermusikstück gerade abläuft. Hat der Komponist alle Elemente selbst gewählt und verwendet er den Rechner nur zum Rendern? Oder ist ein Kompositionsalgorithmus mit im Spiel? Etwa ein interaktiver Algorithmus? Ein Zufallsalgorithmus? Ein deterministischer? Wie viele Entscheidungen hat das Programm getroffen und bei wie vielen hat der Komponist eingegriffen? Ohne Kommentare im Programm wird man vielleicht nie Antworten auf diese Fragen erhalten, da es möglicherweise keine Live-Prozesse gibt, die das Publikum sehen könnte. Selbst wenn Programmkommentare verfügbar sind, so ist der geniale Algorithmus des Komponisten vielleicht zu feinsinnig oder hinter oberflächlichen Details verborgen, als dass er wahrnehmbar wäre. Muss das Publikum die inneren Abläufe eines Kunstwerks kennen, um es wertschätzen zu können, oder reicht die sensorische Wahrnehmung des Endprodukts aus? Ein Komponist könnte seine Arbeit wegen der komplexen inneren Abläufe schätzen, doch beim Publikum findet es vielleicht wegen seines sensorischen Aspekts keine Zustimmung, da keine alternativen Verständnismöglichkeiten geboten werden.
META-KOMPOSITIONEN
Jean Tinguelys Méta-Matics waren kinetische Skulpturen, die selbst Kunstwerke schufen. AARON von Harold Cohen oder EMI von David Cope sind von Künstlern geschriebene Programme, die Kunst produzieren. Wer Kompositionsalgorithmen in den Sprachen MAX oder SuperCollider schreibt, erzeugt Meta-Kunst. Der einzige Unterschied zwischen einer als Programm geschriebenen Komposition und einer aleatorischen besteht darin, dass wir anstelle eines Musikers einen Computer instruieren, welche Auswahlkriterien anzuwenden sind.

Ich habe SuperCollider entwickelt, weil ich an Musik interessiert bin, die bei jedem Abspielen anders wirkt. Ich wollte auch Kompositions-Klassen angeben und dann Beispiele dieser Klassen hören können. Computer zur Variantenerzeugung einzusetzen, ist eine Möglichkeit, die eigenen Werke nicht langweilig werden zu lassen. Dieses Verfahren bietet auch die emotionale Freiheit, nicht an jedem Entscheidungspunkt der Komposition sein Ego einbringen zu müssen, während man für die Regeln zur Entscheidungsfindung dennoch verantwortlich bleibt.
DAS ERZIELEN SCHNELLER ERGEBNISSE
Wird ein neues Medium oder Werkzeug vorgestellt, müssen verschiedene Wege erkundet werden, wie man mit den gebotenen Möglichkeiten zu Rande kommt. Sehr oft wird dabei als erstes die Strategie des Erzielens schneller Ergebnisse verfolgt, d. h. man macht die einfachsten Dinge mit dem neuen Medium, sucht nach dem natürlichen Idiom des Mediums. Anfangs ist man sicher begeistert, doch dann werden diese Idiome zu Klischees. Diese Tendenz zeigt sich z. B. darin, dass in vielen Pop-Songs die neuesten Synthesizer immer nur mit den Werkseinstellungen verwendet werden. Oder wenn ich zu einem Konzert gehe oder mir jemand eine CD mit seinen Werken zuschickt, höre ich meine eigenen Demobeispiele. Oder ganze Stilrichtungen, die nur darauf aufbauen, dass ein Computer Loops aus Audio- oder MIDIDaten bilden kann. „Wiederholung ist eine Art der Veränderung“, wie die Oblique Strategies - Karte meint. Aber Veränderung ist oft die bessere Art der Veränderung, vor allem nach zwei Jahrzehnten extremer, repetitiver E-Musik. Auf einer Musikmesse pries jeder Hersteller vor einigen Jahren Software und Geräte für Loops an. Ich habe damals für mich entschieden, keine Loops mehr zu generieren. Ich kämpfe lieber mit der Veränderung.
AUSSCHÖPFEN DER GRENZEN
Einige Künstler versuchen die Grenzen digitaler Klangdarstellung auszuloten: Grenzen der Sample-Resolution, der Bandbreite, der Modelle oder der in Programmen enthaltenen Algorithmen zur Tonerzeugung oder -verarbeitung. Für einen Künstler mag es von Bedeutung sein, die Grenzen der für unsere Kultur so wichtigen digitalen Medien aufzuzeigen. Ich meine jedoch, dass die von den digitalen Medien gebotenen Möglichkeiten genauso bedeutend sind. Es ist oft einfacher, an die Grenzen zu gelangen, als die gebotenen Möglichkeiten zur Gänze auszuschöpfen.

Bedeutend interessanter ist es für mich, die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung zu ergründen als die Einschränkungen der digitalen Medien. Wie kann man die Mehrdeutigkeit sensorischer Eindrücke nützen? Auf wie vielen Ebenen kann Information codiert und wahrgenommen werden? Komponisten nützen beim Schreiben eines Musikstücks ein intuitives Verständnis für den menschlichen Informationserwerb. Versuche, Informationstheorie Eins zu Eins in der Musik umzusetzen, resultieren in einem sehr dichten Musikstück, das nicht rezipiert werden kann. Die menschliche Wahrnehmung ist auf einer Ebene sehr rasch erschöpft, kann dafür jedoch auf mehreren Ebenen operieren. Fraktale stellen Informationen auf mehreren Ebenen dar; einfache Fraktalformeln bieten allerdings Informationen, die auf verschiedenen Ebenen zu ähnlich sind (entweder zu regelmäßig oder zu zufällig), so dass sie eher viele „Langeweile-Ebenen“ anstelle einer einzigen „Langeweile-Ebene“ ergeben.
ROMANTIK DES NAIVEN
Manchmal bin ich Zeuge, wenn ein Künstler sich brüstet, er verwende ein Tool in einer Weise, wie es nie vom Entwickler intendiert war. Ich halte das eher für Eigenlob als für einen rühmlichen Erfolg. Solche Menschen sehen sich als Künstler und den Entwickler als Techniker. Aber viele der Synthesizer- und Softwareentwickler sind auch Musiker, und hoch stehende Entwicklungen sind wie Kunst, weshalb dieses Konzept wohl kaum Gültigkeit hat. Sehr oft scheuen die Entwickler keine Mühen, um ein Tool so flexibel wie möglich zu gestalten, und solche User erkennen meist nicht einmal ansatzweise dieses Potenzial. Ja, vielleicht setzen sie das Tool auf eine Weise ein, für die es nicht konzipiert war. Aber ich bezweifle, dass der Entwickler davon beeindruckt wäre, kannte er doch die Möglichkeiten und Grenzen bereits vorher. Weiters bezweifle ich, dass dadurch etwas künstlerisch Großartiges geschaffen wurde, das der User nicht noch perfektionieren hätte können, hätte er das Tool besser beherrscht.
TERRA INCOGNITA
Mich interessiert vor allem, was es außer dem Erzielen immer schnellerer Ergebnisse, der Ausschöpfung aller Grenzen und der Romantisierung der Naivität noch geben könnte? Man könnte das als modernistische Haltung bezeichnen; die Haltung eines Menschen, der wie einst Schönberg noch immer an den unvermeidlichen Fortschritt in der Kunst glaubt. Dem stimme ich allerdings nicht zu. Das Resultat der modernen Kunstrevolution besteht darin, dass man jedes Mittel ohne jegliche Einschränkung zur Lösung eines künstlerischen Problems einsetzen kann (und das Publikum entscheidet über Ge- oder Missfallen). Es gibt jedoch noch unkartiertes Land. Neue Tools sind wie neue Vehikel, die uns ein Vordringen in dieses unerforschte Terrain ermöglichen. Und da ich gerne neue Klänge höre, möchte ich dieses Ziel erreichen.

Aus dem Amerikanischen von Michael Kaufmann