Fließende neon-grelle Schatten: Die Musik von Iannis Xenakis
'Don P. Miller
Don P. Miller
„1954 begründete ich eine Musikrichtung, die auf den Prinzipien der Unbestimmtheit aufbaut. Zwei Jahre später nannte ich sie ,Stochastische Musik‘. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung fanden aufgrund musikalischer Notwendigkeit Einzug in die Komposition … Doch auch andere Wege führten zur selben stochastischen Kreuzung – allen voran Naturereignisse wie der Aufprall von Hagel oder Regen auf einer harten Oberfläche oder das Zirpen der Zikaden in einer Sommerwiese. Diese Klangereignisse bestehen aus tausenden Einzelklängen und bilden in ihrer Gesamtheit ein neues Klangereignis. Diese Klangmasse wird artikuliert und schafft eine plastische Form der Zeit, die aleatorischen und stochastischen Gesetzen folgt. Will man eine große Masse von Einzelnoten z. B. für ein Streicher-Pizzicato formen, muss man diese mathematischen Gesetze beherrschen, die jedoch immer nur ein exakter Ausdruck einer logischen Folgerungskette sind.“ Jeder hat wohl schon die Klangphänomene gehört, die Dutzende, Hunderte oder Tausende Demonstranten verursachen können. Ein Menschenstrom skandiert im einförmigen Rhythmus eine Parole. Dann kommt am Beginn des Demonstrationszugs ein neuer Slogan auf, pflanzt sich bis zum Ende fort und ersetzt den ersten. Eine Welle erfasst die Menschenmenge und wogt von vorne nach hinten. Die Protestrufe hallen durch die Stadt und die alles unterdrückende Intensität der rhythmischen Stimmen erreicht ihren Höhepunkt – ein in seiner Wildheit beeindruckend machtvolles und schönes Schauspiel. Dann kommt es zum Zusammenstoß zwischen den Demonstranten und dem Feind. Der perfekte Rhythmus der letzten Parole zerbirst in chaotische Rufe, die sich ebenfalls bis zum Ende hin fortpflanzen.
Man stelle sich dazu noch Salven von Dutzenden Maschinenpistolen und das Pfeifen der Kugeln vor, die diese totale Unordnung kontrapunktieren. Die Menge ist schnell auseinander gesprengt und nach der klanglichen und visuellen Hölle folgt eine sich explosionsartig ausbreitende Stille voll Verzweiflung, Staub und Tod. Losgelöst von ihrem politischen oder moralischen Kontext folgen solche Ereignisse den selben statistischen Gesetzen wie die Zikaden oder der Regen. Es sind die Gesetze des stetigen oder abrupten Wechsels von völliger Ordnung zu totaler Unordnung. Es sind die Gesetze der Stochastik. Und damit stoßen wir auf eines der großen Probleme, die die menschliche Intelligenz seit der Antike verfolgt: kontinuierliche oder diskontinuierliche Transformation …Transformation.
Iannis Xenakis, Formalized Music, 1955
Neben all seinen anderen Verdiensten war Iannis Xenakis einer der ersten Komponisten, der wirklich interdisziplinär arbeitete, indem er Querverbindungen der verschiedenen Fächer zuließ und damit seine Ausdruckskraft befruchtete. Für ein Verständnis von Iannis Xenakis’ Musik ist dies unerlässlich. Alles weitere sind Details auf seinem Weg zur Übersetzbarkeit verschiedener Codes und zum Beibehalten der gedanklichen Struktur in verschiedenen Medien. Gemeinsam mit dem Physiker Hermann Helmholtz, Erik Satie (und dessen „Musique d’ameublement“) und Edgar Varese konzentrierte sich Xenakis vor allem auf die Ähnlichkeit zwischen dem Dinglichen und der Metapher, auf organisierte Klänge nahe am Lärm und deren Umsetzung in ein Signal. Bei der Aufführung von Metastaseis 1954 setzte er zum ersten Mal Klangmassen ein, die er durch organisierte Glissandi erzielte. Von da an verfolgte er seine Interessen an Klangmedien auf verschiedenste Weise: orchestral, elektro-akustisch (elektronische und traditionelle Instrumente) und rechnerisch (mit Computern und Digital-Analogwandlern). Er beschrieb seine Musik gerne als auf dem „Prinzip der Indeterminiertheit“ fußend, wie er es nannte.
In seinem Werk finden sich turbulente Nachwirkungen eines Zusammentreffens mit einer offensichtlich neuen Kunstform, man sieht sich aber auch mit Nachklängen alter Wertesysteme konfrontiert, die Kernelemente seiner Kompositionstechnik darstellen: Signal zu Musik, Musik zu konkreter Form, konkrete Form zur transzendenten Auseinandersetzung mit dem Kosmos. Im Rahmen der Verteidigung seiner Doktorarbeit fragte der bekannte Wissenschaftsphilosoph Michel Serres Xenakis: „Warum ist eine Fuge ein Automat?“ Seine Antwort spricht Bände über die kybernetischen Implikationen, die diese Musikform auf das menschliche Bewusstsein hat. Diese Unterhaltung fasst auf ihre Art Xenakis immerwährenden Dialog zusammen, dass Musik und Wissenschaft zyklisch seien. Er sieht in der Musik für gewöhnlich den Vorboten für weitere konzeptuelle gesellschaftliche Entwicklungen. Ihre Unterhaltung verlief folgendermaßen:
Michel Serres: Noch einmal, musikalische Gedanken stehen im Vordergrund. Was meinen Sie damit, dass die Fuge ein Automat sei, dass „eine Fuge ein abstrakter Automat ist, der bereits zwei Jahrhunderte vor der Atuomatisierungswissenschaft erfunden wurde?“ Ich glaube das nicht. Ich denke, dass dies zufällig zugleich geschah, wenn nicht sogar die Wissenschaft zuerst da war.
Iannis Xenakis: Oh nein, nicht die Automatisierungswissenschaft. Die wurde erst im 20. Jahrhundert geboren.
Michel Serres: Nicht die Wissenschaft, aber die Konstruktion von Automaten.
Iannis Xenakis: Das macht einen Unterschied, denn der Einsatz von Automaten datiert aus der Alexandrinischen Zeit.
Michel Serres: In Tausend und einer Nacht gibt es beispielsweise automatische Brunnen und Wassermaschinen.
Iannis Xenakis: Ja, aber Tausend und eine Nacht stammt aus dem 12. Jahrhundert, während Automaten bereits viel früher verwendet wurden. Bereits die Zeit Alexanders kannte Heron und die erste Dampfmaschine.
Michel Serres: Ja, und sogar die Taube des Archytas.
Iannis Xenakis: Das waren alles konkrete Erfindungen, aber erst die Musik brachte die Abstraktion.
Michel Serres: Warum ist dann eine Fuge ein Automat?
Iannis Xenakis: Ich meine, sie entspricht im Großen und Ganzen der Definition eines wissenschaftlichen Automaten, die in den Zwanzigern dank Weiner und der Kybernetik aufgekommen ist. Zusammenfassend kann man sagen: Ein Automat ist ein Netzwerk von Ursachen und Wirkungen, die eine temporale Verkettung von Ereignissen bedeuten, die mit bestimmten Freiheiten gekoppelt oder sogar mehrfach gekoppelt sind. Ein Automat kann abgeschlossen sein. Es genügt, Energie zuzuführen, und er arbeitet zyklisch. Er kann aber auch vergleichsweise offen sein, über Möglichkeiten der Dateneingabe und externe Ausgaben, etwa durch Schaltknöpfe, verfügen. Bei jeder neuen Dateneingabe kann ein Automat, trotz seiner inhärenten Starrheit, unterschiedliche Ergebnisse erzielen.
Michel Serres: Die Syntax wiederholt sich, nicht aber die Ausführungen.
Iannis Xenakis: Genau, die Syntax wiederholt sich. Warum? Wegen der inhärenten strukturellen Starrheit.
Michel Serres: Ist die Syntax einer Fuge immer dieselbe?
Iannis Xenakis: Die Fuge stellt keinen absoluten Automaten dar. Sie ist ein relativer Automat, besonders im Vergleich mit den wissenschaftlich untersuchten, die im Verhältnis zu musikalischen ziemlich starr sind. Wenn ich musikalischer Automat sage, so meine ich, dass ein Menuett auch ein Automat ist. Der besondere Wert musikalischer Erfindungen besteht im erstmaligen Geschenk, der Kreation eines abstrakten Automaten, der nichts als Musik erzeugte …
Aus Arts/Sciences: Alloys, The Thesis Defense of Iannis Xenakis, 1976
Öffnen Sie sich den Klängen des totalen Kriegs: Nicht Krieg als physische Verkörperung politischer Differenzen zwischen obsoleten Nationalstaaten, sondern Krieg als Auseinandersetzung mit technologischer Beschleunigung. Krieg als In-Frage-Stellens der Conditio humana. Krieg als der Klang einer Urangst, die in allen Winkeln des menschlichen Verstands steckt. (Man sagt, Xenakis’ Musik konnte nur von jemandem komponiert werden, dessen Fleisch traumatisiert war, durchbohrt von der Dummheit von Menschen, die anderen ihren Willen aufzwingen wollen.) Krieg als Synonym für die Zahlen im Zentrum menschlichen Ausdrucks, eine binäre Dissonanz zwischen Präsenz und Absenz, ein Ausdruck einer uns allen bekannten Metasprache, die jedoch nur wenige beherrschen.
In der Vielfalt des Klangs wird alles befreit, dabei aber nichts entziffert, es „läuft“ (wie ein Faden in einer Socke oder die Glissandi von Xenakis’ stochastischen Strukturen) an jedem Punkt und in jeder Ebene, aber es liegt nichts dahinter. Der musikalische Raum ist zu durchwandern, nicht gewalttätig zu durchbohren; Musik postuliert unaufhörlich Bedeutung, um sie unaufhörlich wieder in Nichts aufzulösen, indem sie eine systematische Befreiung vornimmt. Während die Zahlen im Kern des Bewusstseins durchschimmern, ist die unendliche Drift über die Transversale von ewigem Spiel und ewiger Instabilität gekennzeichnet. Klang und Bedeutung? Klang und sein Einsatz im Raum? Das Aufflackern des Signifikanten, der alle Signifikate spaltet und verzögert … Xenakis’ schimmernde mathematische Konstrukte, seine geplatzten und gebrochenen Klänge. Ein Gedanke löst sich in Visionen auf, Emotionen entfalten sich im Glitzerschein der Algorithmen, aus denen er Musik generiert … Diese schwindelerregende Musik geht über jede konventionelle Narration hinaus.
Oft beschreibt Xenakis seine Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs – jene enorme soziale Umwälzung, die uns Computer bescherte, die Atomphysik revolutionierte und die Welt mit einigen der größten Massaker in der menschlichen Geschichte konfrontierte – oft als eine Art abstrakten Schmelztiegel, in dem seine Faszination für das Aufgewühlte geschmiedet wurde. Aber die von Xenakis verwendeten „stochastischen Methoden“ („stochastisch“ bezieht sich hier auf die Bedeutung von Änderung als eine Abfolge von Eventualitäten), wurzeln wohl tiefer in seiner beständigen Auseinandersetzung mit extremen Veränderungen.
„In meiner Musik“, schrieb er vor vielen Jahren, „liegt der ganze Schmerz meiner Jugend und des Widerstands (der griechischen Antifaschisten) sowie die damit aufgeworfenen ästhetischen Fragen, zusammen mit den gewaltigen Straßendemonstrationen oder jenen mysteriösen Geräuschen – den Geräuschen des Todes in den kalten Nächten Athens im Dezember 1944. Daraus hat sich mein Verständnis von Massen und letztlich die stochastische Musik entwickelt.“ Später zitiert er Harry Neville, indem er sagt: „Die Erklärung der Welt und in Folge auch des Klangphänomens, das uns umgibt bzw. das kreiert werden kann, bedurfte einer Expansion des Kausalprinzips, dessen Grundlage auf den Gesetzen der Zahlen basiert.“ Stochastische (abgeleitet vom griechischen stochos – „zielen“) Musik bedeutete für ihn die Abwendung von der deterministischen „neo-seriellen Musik“, die in den Werken der damaligen Komponisten vorherrschend war. In dem 1955 veröffentlichten Aufsatz „Die Krise der seriellen Musik“ beschrieb er sein Gefühl von der Verknöcherung der westlichen klassischen Welt, aus der er ausbrechen musste.
Wie Maurice Fleuret im Begleittext zu einer Ausgabe von „Le Polytope de Montreal“ schrieb: „Andere Zeiten, andere Sitten: Für die Jugend, die ehemals heilige Werte in Frage stellt und gegen die Enge der Gesellschaft revoltiert, drückt diese Musik ein unbändiges Verlangen nach Leben und eigenem Denken aus. Noch besser: Indem sie Kunst und Wissenschaft im Dienst der Menschheit miteinander verschmilzt, symbolisiert sie das neue Gewissen unserer Zeit.“ Aber um bei Xenakis’ eigenen Worten zu bleiben […], folgt seine Beschreibung einer Zukunft, die durch extreme Veränderungen definiert und umschrieben wird, eine Epoche am Rand permanenten kulturellen Aufruhrs:„Nach kaum drei Generationen wird die Erdbevölkerung mehr als 24.000 Millionen Menschen betragen. 80 Prozent werden unter 25 Jahren alt sein. Daraus werden fantastische Veränderungen in allen Bereichen resultieren. Ein unvorhersehbarer biologischer Kampf wird zwischen den Generationen entbrennen, der sich über den gesamten Planeten ausbreiten und die bestehenden politischen, sozialen, urbanen, wissenschaftlichen, künstlerischen und ideologischen Rahmenbedingungen in einem noch nie von der Menschheit versuchten Umfang sprengen wird. Diese außergewöhnliche Konfliktvermehrung kündigt sich bereits durch die weltweiten Jugendbewegungen an. Diese Bewegungen sind der Anfang jenes biologischen Umsturzes, der uns ungeachtet des ideologischen Inhalts dieser Bewegungen bevorsteht. […]“ Die mechanische Implementierung sequenzieller und nicht-sequenzieller Textformen, Musik als Referenz für andere menschliche Ausdrucksformen, eine Auseinandersetzung mit Kultur als kollektivem Archiv, Asymmetrien von Klang bei dessen Umsetzung in kulturelle Signifikanten, akustische Metonymien, elektronische Werkzeuge zum Komponieren und Erzeugen von Klängen sowie eine Reihe weiterer Merkmale verbinden die experimentellen kompositorischen Strukturen der Klassik-Avantgarde des 20. Jahrhunderts mit der Kunstform des DJ-ing. Unter diesem Aspekt betrachtet, hat sich das Vokabular der DJ-Kultur beinahe alle künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts bereits einverleibt.
Aus dem Amerikanischen von Michael Kaufmann Aus dem Booklet zur CD Kraneerg von Iannis Xenakis, veröffentlicht auf Asphodel. SCHEDULE metamorph #1 Brucknerhaus / Großer Saal Bruckner Orchester Linz, Conductor: Dennis Russell Davies Music : Edgar Varèse, Déserts—Video: Bill Viola Music: Morton Subotnick, Before the Butterfly—Visuals: Sue Costabile Maki Namekawa (piano and computer) Music: Marco Stroppa, Traiettoria … deviata—Visuals: Marius Watz Bruckner Orchester Linz, Conductor: Dennis Russell Davies Music: Iannis Xenakis, Analogique A—Visuals: Lia
metamorph #2 Brucknerhaus / Mittlerer Saal Dennis Russell Davies (piano), Maki Namekawa (piano) Music: Steve Reich, Piano Phase—Visuals: Martin Wattenberg Studio Percussion Graz Music: Steve Reich, Drumming—Visuals: Justin Manor Rupert Huber / Tosca, I Could Be You–Visuals: Justin Manor
metamorph #3 in Klangpark Music: Iannis Xenakis, Analogique B–2 Channel Tape Music: Iannis Xenakis, Persepolis–4 Channel Tape Visuals: Gerda Palmetshofer, Stefan Mittlböck
metamorph #4 Brucknerhaus / Großer Saal Persépolis Remix by Otomo Yoshihide—Visuals by Lia Remix by Ryoji Ikeda–Visuals by Ryoji Ikeda Remix of the Remixers by Naut Humon—Visuals: Sue Costabile
metamorph #5 Brucknerhaus / Großer Saal Data Spectra—Music and Visuals by Ryoji Ikeda Multiple Otomo—Music and Visuals by Otomo Yoshihide # dominant, Music by Rupert Huber—Visuals by Marius Watz
Principles of Indeterminism
The idea leading to this project resulted from many conversations involving Dennis Russell Davies, Gerfried Stocker, Naut Humon and Rupert Huber First and foremost, we wish to thank all participating artists who, without exception, committed spontaneously to making this extraordinary evening possible. For the extensive support they provided, we wish to thank the Bruckner Orchestra Linz, Dennis Russell Davies, Dr. Heribert Schröder, ORF Upper Austria, Österreich 1, Claude Mussou / INA (Groupe de Recherches Musicales), Steven Joyce / Boosey & Hawkes, Andreas P. Leitner / Universal Edition AG, Rudolf Andrich / Sacem, Madame Françoise Xenakis, Dianna Santillano / Bill Viola Office / Arcotel Nike. Supported by PANI Projection & Lighting Audio/technical concept: Naut Humon and Hubert Havel Project/technical director: Magnus Hofmüller Production director: Manu Pfaffenberger This concert is a cooperative production of the Ars Electronica Festival and the Brucknerhaus Linz.
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