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Ars Electronica 2003
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Der Kampf um die Kontrolle von Code ist ein Freiheitskampf


'Howard Rheingold Howard Rheingold

Der Kampf um die Kontrolle von Code ist die Entscheidungsschlacht in einem Krieg, von dem die Mehrheit noch gar nichts weiß. Dieser Konflikt wird die Welt formen, in der wir und unsere Nachkommen in den nächsten Jahrzehnten leben werden – ein Krieg um die Innovationsfreiheit. Der Gebrauch von Personalcomputern und dem World Wide Web ist im Jahr 2003 für viele eine Selbstverständlichkeit, weil ein Doug Engelbart oder ein Tim Berners- Lee nicht lange um Erlaubnis fragen mussten, ob sie neue Meinungsbildungs- und Kommunikationsmedien erfinden durften. Computer und Telefon sind nicht bloß Elektrogeräte, sondern elektrisierende Geräte: Die Freiheit, neue Kommunikationsmedien zu erfinden und einzusetzen, unterscheidet sich wesentlich von der Lizenz zur Erfindung anderer Produkte oder Dienstleistungen. Ein Fernsehkanal, ein Weblog, ein Java-Programm, ein World Wide Web sind keine Frühstücksflocken, keine Eisenbahn, kein Mikroprozessor, sondern gleichzeitig Zugang zu Wissen, Kommunikationskanal, Überzeugungsinstrument und Vehikel zur Selbstorganisation. Die Produkte der Medien- und Kommunikationsindustrie sind Geisteszustand und Sozialkontakt. Wer den Geisteszustand und die Sozialkontakte anderer kontrolliert oder beeinflusst, öffnet sich damit das Tor zur Macht über sie. Die brennendsten Fragen zur Zukunft der Kommunikationstechnologie und der Medien sind mehr denn je Fragen der Macht und der Freiheit:

  • Wer hat die Freiheit zur Innovation? Unternehmer oder Arbeitnehmer?

  • Bleiben die Käufer von Werkzeugen und Know-how aktive Anwender der Technik, die die Medien ganz ihren Bedürfnissen anpassen und entsprechend weiterentwickeln, oder werden wir zu passiven Konsumenten degradiert, die lediglich die jeweilige Marke aus dem Angebot einer kleinen Gruppe von Anbietern wählen dürfen?

  • Werden die mobilen Kommunikationsmedien und der allgegenwärtige Computer ganzen Bevölkerungsgruppen kollektives Handeln ermöglichen, oder wird ein solches kollektives Handeln durch Gesetze und Code erstickt, kanalisiert und genau bemessen?
Zum rechtlichen, politischen und regulatorischen Schutz der Eigentümer heutiger Technologien und der Vertreter gestriger Geschäftsmodelle sucht man die kapitalistische „kreative Zerstörung“ zu vereiteln, die die veralteten, weniger wertvollen Produkte und Dienstleistungen durch billigere, leistungsfähigere und effizientere ersetzen will:
  • Unter Berufung auf Gesetze, die 1920 zur Regulierung der damaligen Technologien eingeführt wurden, frieren derzeitige Lizenzinhaber Funkfrequenzen lieber ein, anstatt ganze Frequenzbänder für Wi-Fi, Ultra-Breitband, Cognitive Radio, Mesh Networking und andere bahnbrechende Technologien freizugeben. Dieses Unterfangen ist nur ein Schauplatz der Unterdrückung der Innovationsfreiheit. Das Frequenzspektrum ist die Immobilie des mobilen Durchdringungszeitalters.

  • Die Anstrengungen, die gemeinsame Nutzung von Computerressourcen über das Internet zu kriminalisieren, zielen schlicht auf die Kontrolle jenes kollektiven Handelns ab, das das Web überhaupt erst entstehen ließ. Unterbindet man Peer to-Peer durch juristische und technische Restriktionen, so würde zusammen mit den Musiktauschbörsen der College- Studenten auch die verteilte Krebsforschung abgedreht werden.

  • Auf einem weiteren Kampfschauplatz wird sich entscheiden, ob mit dem in den USA bereits verabschiedeten Digital Millennium Copyright Act (DMCA) und seinen globalen Varianten – in naher Zukunft noch durch digitale Sicherheitskonzepte in der Hardware unterstützt – sowie mit Broadcast Flag und weiteren Vorstößen zum Digital Rights Management nur mehr einige etablierte Unternehmen in der Lage sein werden, Kulturprodukte zu erschaffen und zu verbreiten, oder ob dies auch Einzelpersonen und noch zu gründenden Firmen möglich sein wird. Und ob der Gesetzgeber in Zukunft alle Chiphersteller dazu verdonnern kann, Code-Polizei und Polizeicode in die Hardware zu integrieren.

  • Die Bestrebungen von Breitbandkabel- und Telefonie-Infrastrukturbetreibern, die gleichzeitig als Breitbandanbieter auftreten, das End-zu-End-Prinzip des Internets aufzuweichen, sind ein Angriff auf die grundlegende Codearchitektur, die das Internet ermöglicht und dazu beigetragen hat, dass das Web durch die gesammelten und koordinierten Erfindungen von Millionen von Menschen wuchs und gedieh. Schon werden Zäune um das frei zugängliche Internet errichtet, indem man die Router – jene Hardware-Gateways, die das Internet zum Funktionieren braucht, weil hier die Bits durchfließen – entsprechend codiert.
Werden die Künstler, Techniker, Lehrer, Planer, Politiker, Bürger und Technikkonsumenten von morgen weiterhin Werkzeuge wie den PC oder das Internet erfinden dürfen, oder werden Gesetz und Code diese Innovationsfreiheit beschränken? Auch wenn die beiden wichtigsten Instrumente des Code – PC und Internet – vom US-Militär stammen und deren Infrastruktur von Firmen wie IBM und ATT entwickelt wurde, so wurden sie schlussendlich zu Massenmedien, weil sie von Millionen von Computer- und Internetusern für deren Zwecke laufend neu erfunden wurden. Der PC und das Netz wurden von ihren Benutzern geformt; angefangen vom neunzehnjährigen Harvard-Abbrecher Bill Gates, der IBM die Kontrolle über die Computer wegschnappte, über Steve Wozniak und Steve Jobs, die ungefähr im gleichen Alter PCs für „den Rest von uns“ machten – Computer, die von Leuten, die niemals zuvor einen PC bedient hatten, zu Aufgaben herangezogen wurden, für die noch nie zuvor ein Computer verwendet worden war – bis zu Tim Berners-Lee, der das World Wide Web kreierte und für die Allgemeinheit freigab. Unix, Linux, Usenet, Yahoo, Google – kommerzielle und Geschenkökonomie – wurden von einzelnen Erfindern und Heerscharen von Mithelfern geschaffen.

Der PC und das Netz sind nicht bloß bedeutsame Technologien, sondern die Produktionsmittel und Distributionskanäle für neue Erfindungen, die Bootstrapping-Werkzeuge, die sich Engelbart vor vierzig Jahren vorstellte. Die Entwicklungsexplosion, die uns vom Apple II zum Pocket-PC und vom 300-Baud-Modem zur Breitbandverbindung mit Übertragungsgeschwindigkeiten x-Megabit / Sekunde brachte, hat nur deswegen stattgefunden, weil leistbare Werkzeuge, gewiefte Bastler sowie eine juridische und kulturelle Atmosphäre, die innovative Ideen des Einzelnen begünstigte, zusammentrafen. Allerdings können wir nicht davon ausgehen, dass diese Bedingungen für grundlegende Innovationen ewig bestehen bleiben, wo uns doch die größte technische Medienrevolution bevorsteht: Wenn erst einmal Milliarden von Menschen tagtäglich Multimediageräte bei sich tragen, die tausendmal leistungsfähiger sind als heutige PCs, und untereinander und mit anderen Geräten über ein drahtloses Netzwerk verbunden sind, das tausendmal schneller ist als heutige Breitband-Internetverbindungen, werden dann die freien Mitarbeiter weiterhin nach Lust und Laune herumbasteln dürfen? Werden wir weiterhin die Freiheit haben, unsere Ad-hoc-Netzwerke zwischen Menschen und Geräten selbst zu organisieren? Oder werden wir für eine der wenigen globalen Disinfotainment- Fabriken arbeiten müssen, um ungehindert kreativ tätig sein zu können und Kulturproduktion überhaupt zu ermöglichen – die Werke jedoch nicht zu besitzen?

Vor allem im Zeitalter der mobilen Kommunikation passiert Innovationsfreiheit – und die Bestrebung, Innovation zu beschränken – sowohl auf der Ebene des kollektiven Handelns als auch auf jener der individuellen Initiative. Das Gleichgewicht zwischen Eigeninteresse und Kooperation, das Märkte, Staaten, Regierungsformen und Firmen als Unternehmung erst ermöglicht hat, war auch die treibende Kraft der heutigen Medienwelt. Die Firmen, die die Hardware erzeugten, denen die Verbindungen gehörten, die die Zugangsberechtigungen verkauften und dabei satte Gewinne einfuhren, haben die mobile, sich selbst organisierende Datenwolke nicht geschaffen. Das haben die Abermillionen von Menschen gemacht, denen andere die Werkzeuge gebaut haben, die es ihnen ermöglichten, untereinander über den PC zu kommunizieren, Webseiten zu publizieren oder neue Betriebssysteme zu generieren. Im Zentrum der Evolution des Netzes standen die Werkzeuge, die bewusst für dieses kollektive Handeln entwickelt wurden: Unix, TCP / IP, das Web, Free- bzw. Open-Source-Software – und sie alle wuchsen durch das kollektive Handeln ihrer Entwickler und User weiter. Dieses End-zu-End-Modell führte zu genau jener Architektur des Internet, die es zukünftigen Nutzern erlaubt, das Medium für Dinge einzusetzen, von denen seine Architekten niemals geträumt, die sie in weiser Voraussicht aber auch nicht ausgegrenzt hatten.

Obwohl die Plattenindustrie nur an ihrem eigenen Geschäftsmodell interessiert ist und die gerichtlichen Schritte gegen den Peer-to-Peer-Dateiaustausch als Kampf um das geistige Eigentum darstellt, geht es dennoch um die Freiheit, unsere PCs und mobilen Endgeräte in legitimen und leistungsfähigen Netzwerken wie http://folding.stanford.edu zusammenzuschließen. Niemand kann heute erfassen, welche Errungenschaften in Medizin, Wissenschaft oder Technik möglich wären, wenn alle Personal Supercomputing Communicators der Welt ihre Rechen- und Kommunikationskapazität ein einem gemeinsamen Pool zur Verfügung stellten. Doch die von der Platten- und Filmindustrie geforderte drakonische Beschränkung von Peer-to-Peer-Applikationen könnte die Freiheit solcher Rechenverbände gravierend beeinträchtigen, wenn die Gesetze dazu so schlecht ausfallen wie der DMCA.

Gewisse Vertreter der Software-, Kommunikations- und Unterhaltungsbranche, die ihre Macht diesen Werkzeugen verdanken, setzen vermehrt auf strukturelle, juridische und regulatorische Mechanismen, um neue Unternehmen und Technologien an der Übernahme dieser Macht zu hindern. Western Union konnte das Telefon nicht aufhalten. Die Filmindustrie konnte die Produktion von Videorecordern nicht vereiteln, obwohl sie es versuchte. Kein Eisenbahnmagnat oder Pferdepeitschenfabrikant konnte den Siegeszug des Automobils stoppen. Unterstützt von Politikern, denen sie zur Wahl verhelfen, vereinen jedoch heute wesentlich mächtigere Unternehmen ihre Kräfte, um hilfreich klingende Errungenschaften wie „Digital Rights Management“ oder „Trusted Computing“ zu entwickeln, die letzten Endes darauf abzielen, zukünftige technische Innovationen auf diese kleine Gruppe mit ihren mächtigen Interessen zu beschränken. Wir bewegen uns von einer Konzentration der Nachrichtenmedien, die für freie Gesellschaften unabdingbar sind, zu einer Konzentration der Innovation.

Die Freiheit des Erfindens und des Einsatzes von Medien zur Organisation kollektiven Handelns steht auf dem Spiel. Es ist ungewiss, ob man uns diese Freiheiten weiterhin lässt. Und selbst wenn genug Menschen in der Lage sind zu verstehen, sich zu organisieren und zu handeln, so ist der Gewinn dieser Freiheit kein Freifahrtschein in eine rosige Zukunft des technisch unterstützten kollektiven Handelns. Ich habe mein 2003 erschienenes Buch Smart Mobs betitelt, weil nicht jede Gruppierung, die Medien zur Organisation kollektiven Handelns verwendet, sozial nutzbringende Ziele vor Augen hat. Überbefähigte Gruppen von Menschen können ihre Macht dem kollektiven Handeln demokratischer oder faschistischer Kräfte zur Verfügung stellen. Die Druckerpresse machte Wissenschaft, Medizin und Verfassungen erst möglich, doch die Technik, die potenziell Bildung für die gesamte Bevölkerung versprach, konnte böse
Absichten, Gewalt und Ungerechtigkeit nicht eliminieren. In der Tat gestattet die Technik gleichermaßen die Produktion von Maschinengewehren und Antibiotika. Somit stellt sich letztendlich im Hinblick auf die Kontrolle über die Codes des kollektiven Handelns die Frage, ob einige wenige oder viele die Möglichkeiten weltweiter Medien klüger nützen würden.

Aus dem Amerikanischen von Michael Kaufmann