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Protokoll und Gegenprotokoll


'Alexander R. Galloway Alexander R. Galloway / 'Eugene Thacker Eugene Thacker

Eine These: Code hat nur „Bedeutung“, wenn er als Substanz eines Netzwerks begriffen wird. In den letzten zehn Jahren oder mehr hat sich der Netzwerk-Diskurs mit nahezu epidemischer Intensität verbreitet: Es gibt P2P-Filesharing-Netzwerke, WiFi-Gemeinschaftsnetzwerke, terroristische Netzwerke, Netzwerke zur Verbreitung von Mitteln der biologischen Kriegsführung, politisches Swarming und verteilten Dissens, Guerilla-Marketing, MMORPGs, PANs, Mobiltelefone, „generation txt“, usw. Oft stellt sich der ein Netzwerk umgebende Diskurs tendenziell sowohl moralisch als auch architektonisch gegen das, was er als rückwärtsgewandte Strukturen wie Hierarchie und Vertikalität erachtet, um die Dinge mit eigenen Techniken unter Kontrolle zu halten: die Bürokratie, die Befehlskette usw. Doch auch über den technologischen Bereich hinaus hat das Konzept des Netzwerks weite Teile unseres modernen Lebens bereits infiziert. Sogar das US-Militär, eine Bastion der vertikalen, pyramidalen Hierarchie, beginnt seine internen Strukturen mittels Netzwerkarchitekturen neu zu definieren, wie die RAND-Forscher John Arquilla und David Ronfeldt in ihrer Arbeit aufgezeigt haben. Darin beschreiben sie einen zeitgenössischen Konfliktmodus, den sie „Netzkrieg“ nennen: „Beim Netzkrieg geht es eher um die Zapatisten als die Fidelisten, eher um die Hamas als die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), eher um die American-Christian-Patriot-Bewegung als den Ku-Klux-Klan und eher um die Asiatischen Triaden als die Cosa Nostra.“ (1)

Solche In/Out-Listen sind natürlich eher amüsante Lektüre als präzise politische Bewertung, doch wird klar, dass das Konzept der Konnektivität in modernen Gesellschaften einen hohen Stellenwert hat. Dies geht tatsächlich so weit, dass es zunehmend schwieriger wird, Orte oder Objekte zu finden, die sich nicht auf irgendeine Weise in eine Netzwerk-Rubrik einordnen lassen. Der kürzlich in den Vereinigten Staaten beschlossene Patriot Act und andere Gesetze zur verstärkten elektronischen Überwachung lassen die Durchdringung mit vernetzten Technologien und vernetztem Denken noch tiefer gehen. So wie sich Netzwerke immer weiter verbreiten, scheint es fast, als bliebe kein Verständnis für das „Draußen“, für einen nicht vernetzten Ort, von dem aus man dieses Phänomen betrachten und kritisch bewerten könnte. Das konventionelle Wissen der Gegenwart suggeriert uns, dass sich alles unter der warmen, schützenden Decke der Interkonnektivität subsumieren lässt, doch fehlt bisher die Erklärung, was wir uns darunter vorstellen sollen.

All das Getue um Netzwerke macht nur deutlich, dass Politik und Technik nach wie vor nicht voneinander zu trennen sind. Es gibt verschieden Aspekte dieser Debatte. Die technophile Perspektive, wie sie von Howard Rheingold oder Kevin Kelly vertreten wird, ist sowohl Ausdruck technologischen Determinismus als auch Interpretation von Technologie als Ermächtigungsinstrument für die Erhabenheit des bourgeoisen Humanismus in einem sehr allgemeinen Sinn. Die juridische und Governance-orientierte Perspektive, wie wir sie in den Arbeiten von Lawrence Lessig, Yochai Benkler und anderen finden, postuliert eine ähnliche Situation, in der Netzwerke mit Hilfe rechtlicher Schutzmechanismen eine gerechtere und freiere gesellschaftliche Realität schaffen. Die Perspektive der Netzwissenschaft – vertreten z. B. in den populärwissenschaftlichen Werken von Albert-László Barabási – bildet Netzwerke als eine Art apolitisches Naturgesetz ab, die universell über heterogene Systeme hinweg operieren – seien diese nun Terrorismus, AIDS oder das Internet.

Dennoch lässt dieses „Netzfieber“ (2) das Gehirn tendenziell träge werden, da wir in der aktuellen Literatur eine allgemeine Bereitschaft feststellen, die Politik zu ignorieren, indem man ihr das Mäntelchen der so genannten technologischen Blackbox umhängt. So zielt unsere aktuelle Arbeit darauf ab, Möglichkeiten zu schaffen, wie man diese Blackbox kritisch analysieren bzw. sich kritisch mit dieser Ambivalenz zwischen Politik und Technik auseinandersetzen kann (in der die Technik leider immer die Oberhand zu behalten scheint).

Die Frage, der wir hier nachgehen wollen, lautet: Welches Prinzip der politischen Organisation oder Kontrolle hält dieses Netzwerk zusammen? Autoren wie Michael Hardt und Antonio Negri haben mitgeholfen, eine gesellschaftspolitische Antwort auf diese Frage zu finden. Sie beschreiben die globale politische Organisation als das Prinzip des „Empire“. Wie ein Netzwerk lässt sich das Empire nicht auf eine einzige Staatsmacht reduzieren; ebenso wenig folgt es einer Architektur pyramidaler Hierarchie. Das Empire ist fließend, flexibel, dynamisch und weit reichend. In diesem Sinn hilft uns das Konzept des Empire einen großen Schritt weiter, wenn es darum geht, sich politische Organisationen als Netzwerke vorzustellen. Doch während wir uns von Hardt und Negris Beitrag zur politischen Philosophie inspirieren lassen, befürchten wir gleichzeitig, dass noch niemand diese Frage im Hinblick auf die technische Sphäre der Bits und Atome ausreichend beantwortet hat.

Zu diesem Zweck schlagen wir ein Prinzip politischer Kontrolle vor, das in der Betrachtung technologischer Netzwerke höchst hilfreich sein wird, nämlich das Protokoll – ein Wort aus der Computerwissenschaft, das jedoch auch ins Biologische spielt. Protokoll kommt in der Techno-Kultur ausgesprochen häufig vor. Es handelt sich dabei um einen totalisierenden Kontrollapparat, der sowohl die technische als auch die politische Formation von Computernetzwerken, biologischen Systemen und anderen Medien lenkt. Einfach gesagt, stellen Protokolle sämtliche konventionelle Regeln und Normen dar, die die Beziehungen innerhalb von Netzwerken kontrollieren. Ziemlich häufig treten diese Beziehungen als Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Computern auf, doch können sie sich auch auf rein biologische Prozesse (wie in dem systematischen Phänomen der Genexpression) beziehen. In diesem Sinn möchten wir den Begriff „Netzwerk“ auf jegliches System der Interrelationalität beziehen, sei dieses biologisch oder informatisch, organisch oder anorganisch, technisch oder natürlich – mit dem ultimativen Ziel, die polare Restriktivität dieser Paarungen aufzubrechen.

Im Lauf der Jahre haben Wissenschaftler in Computernetzwerken Hunderte Protokolle entworfen, um E-Mails, Web-Pages usw. zu verwalten, sowie zahlreiche andere Standards für Technologien, die das menschliche Auge nur selten erblickt. Wenn Netzwerke die Strukturen sind, die Menschen verbinden, dann sind Protokolle die Regeln, die sicherstellen, dass diese Verbindungen auch wirklich funktionieren. Internetuser verwenden normalerweise Protokolle wie HTTP, FTP und TCP/IP, auch wenn sie wenig darüber wissen, wie diese technischen Standards funktionieren. In der Welt der Biotechnologie kommen Protokolle auf vielen Ebenen zum Einsatz, von den Netzwerken der Protein-Protein-Interaktionen in der Zelle über die Vermischung von Molekularprotokollen mit dem Internet (Zugriff auf eine Genom-Datenbank) bis hin zu den institutionellen und ethischen Protokollen zur Handhabung biologischer Materialien im Labor. Das Protokoll ist sowohl ein Apparat, der die Grundlage für ein Netzwerk bildet, als auch die Logik, die die Abläufe innerhalb dieses Apparats bestimmt. Während in unserer aktuellen Netzwerkgesellschaft Protokolle zumeist im Zusammenhang mit Informationsnetzwerken verstanden
werden, möchten wir noch hinzufügen, dass auch in biologischen Netzwerken eine Logik der protokollogischen Kontrolle existiert.

Heute beschwört die Netzwissenschaft oft Themen wie Anarchie, Rhizomatik, Verteilung und Antiautorität, um verbundene Systeme jeglicher Art zu beschreiben. Aus diesen manchmal radikalen Prognosen sowie dem breiter gefassten technischen Diskurs Tausender Weißbücher, Memos, und Handbücher in ihrem Umfeld können wir einige der Grundqualitäten des Organisationsapparats ableiten, den wir hier als Protokoll bezeichnen:

  • Ein Protokoll erleichtert die Beziehungen zwischen verbundenen, jedoch autonomen Entitäten;

  • zu den Eigenschaften des Protokolls zählen Robustheit, Kontingenz, Interoperabilität, Flexibilität und Heterogenität;

  • ein Ziel des Protokolls besteht darin, alles unterzubringen, ganz egal, welche Quelle oder welcher Zweck, welche ursprüngliche Definition oder Identität;

  • obwohl das Protokoll universell ist, kann es immer durch Verneinung erzielt werden (d.h. dass das Protokoll der Zukunft anders sein kann und wird);

  • ein Protokoll ist ein System zur Aufrechterhaltung von Organisation und Kontrolle in Netzwerken.
Jede dieser Eigenschaften reicht für sich allein aus, um ein Protokoll von den vielen bisherigen Formen der gesellschaftlichen und technischen Organisation zu unterscheiden (wie Hierarchie oder Bürokratie). Gemeinsam bilden sie ein neues, raffiniertes System der verteilten Kontrolle.

Als Technologie wird das Protokoll umfassend angewendet und lässt sich somit nicht auf die Macht von Institutionen, Regierungen oder Großkonzernen reduzieren. Im weitesten Sinn stellt das Protokoll eine Technologie dar, die Datenströme reguliert, Webspace verwaltet, Beziehungen kodiert und Lebensformen miteinander verbindet.

Bei Netzwerken sind immer mehrere Protokolle gleichzeitig am selben Ort aktiv. Daher sind Netzwerke immer leicht schizophren, da sie an einem Ort dies, an einem anderen Ort genau das Gegenteil davon ausführen. So hat Protokoll weniger mit autorisierten Einzelpersonen zu tun, die die Antriebskraft einer teleologischen Vision eines Protokolls darstellen könnten, sondern eher mit den zahlreichen Formen der Individuation, die sowohl menschliche als auch nicht menschliche Elemente anordnen und redividualisieren. Ein Protokoll ist eine Form der Kontrolle, und als solches enthält es in sich einen eigenen Widerstand. Wie wir dies anderweitig im Detail beschrieben haben, fordert uns die protokollogische Kontrolle dazu heraus, kritisches und politisches Handeln in einem aktuelleren Rahmen neu zu überdenken, nämlich im Hinblick auf individualisierte Multi-Agent-Knoten in einem metastabilen (d. h. innerhalb bestimmter Grenzen fluktuierenden) Netzwerk. Politisches Handeln im Netzwerk kann dann bewusst durch menschliche Akteure gelenkt oder zufällig bzw. „natürlich“ von nicht menschlichen Akteuren ausgelöst werden. Oft kann der taktische Missbrauch eines Protokolls, sei er beabsichtigt oder nicht, die politischen Risse eines Netzwerks identifizieren. Man denke nur an Computerviren (biologisches Protokoll) und neu auftretende Infektionskrankheiten (technologisches Protokoll). Wir behaupten, dass solche Momente, wenn sie auch außerhalb des Kontexts politisch manchmal doppeldeutig sind, auch als Beispiele für eine kritischere, stärker politisch engagierte Praxis der „Gegenprotokolle“ dienen können. Protokollogische Kontrolle ruft auch Widerspruch hervor, da sie einerseits auf komplexe Weise Agencies verteilt, während sie gleichzeitig strenge Management- und Kontrollformen einsetzt. Dies bedeutet, dass es bei Protokollen weniger um Macht (Beschränkung, Disziplin, Normativität) und mehr um Kontrolle (Modulation, Regulierung, Netzwerk-Identifizierung) geht. Ob sich unter solchen Voraussetzungen Gegenprotokoll-Praktiken entwickeln können ist zum Teil davon abhängig, wie wir die Konzepte Widerstand, Agency und letztendlich „Network Effect“ refigurieren. Aus dem

Amerikanischen von Susanne Steinacher

(1)
Arquilla, John und Ronfeldt, David: Networks and Netwars: The Future of Terror, Crime, and Militancy, RAND, Santa Monica 2001, S. 6.zurück

(2)
Siehe Mark Wigleys kürzlich unter demselben Titel erschienen Essay in Grey Room 4, 2001.zurück