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Epigenetische Kunst im Rückblick: Software als Genotypus


'Roman Verostko Roman Verostko

Roman Verostkos Arbeit zum Thema „Epigenetische Kunst: Software als Genotypus“ aus dem Jahr 1988 wurde 1990 in Leonardo veröffentlicht. Für den Katalog der Ars Electronica 1993, Genetische Kunst / Künstliches Leben, fasste er den Text unter dem Titel „Notizen zur epigenischen Kunst“ zusammen. In der Folge wirft er – im Licht seiner 20 Jahre als Algorist und 40 Jahre als Künstler – eine Blick zurück auf seine damalige Sichtweise zu kodierten künstlerischen Abläufen.

Die Anfänge.
Seit mehr als 40 Jahren versuche ich als Künstler Arbeiten zu schaffen, die auf versteckte oder unsichtbare Realitäten abzielen. Schon früh lernte ich, mir über die wunderbare Tatsache, dass Dinge „genau wie sie sind“ existieren und über andere Möglichkeiten „zu sein“ Gedanken zu machen. Ich lernte, innerhalb alltäglicher Erscheinungen eine wunderbare Welt voller Geheimnisse zu entdecken. Mein Kunstverständnis entwickelte sich aus diesem Sich-über-die-Dinge-Wundern und aus einer Ehrfurcht vor den Materialien der Erde. Nach und nach umfasste diese Neugier auch Platinen, Programmiersprachen und die Kunstformen, die über einfache Algorithmen zu erforschen waren.
Terminologie.
Spricht man von „Code“, „Algorithmen“ oder „Algoristen“, so kann das zu gerunzelten Stirnen und verständnislosen Blicken führen. Erlauben Sie mir einen Erklärungsversuch. Ein Algorithmus kann als eine detaillierte, schrittweise Anleitung zur Durchführung einer Aufgabe verstanden werden. So kann man ein Rezept zum Brotbacken oder eine Wegbeschreibung als Algorithmus betrachten.

Natürlich werden die meisten Anleitungen nicht geschrieben, um Kunst zu schaffen. Wir mögen uns aber fragen: „Können wir Anleitungen zur Schaffung von Kunst schreiben?“ „Kann ein Künstler ein Kunstwerk ,kodieren‘?“ Darauf ein nachdrückliches „Ja“! Im Folgenden werde ich Ausdrücke wie „Kopf-Ohr“ und „Kopf-Hand“ verwenden, um anzudeuten, dass der gesamte Mensch und nicht ein einzelner Körperteil Anleitungen zum Schaffen von Kunst schreibt. Nehmen wir als Bespiel Chopins Partitur zu seiner Nocturne Op. 27. Chopin schuf die musikalische Notierung oder den Code, der dem Musiker anzeigt, wie die Nocturne zu spielen ist. Die Partitur, ein einmaliger Ablauf, stellt genaue Anweisungen für das Spielen einer bestimmten musikalischen Form. Sie verkörpert buchstäblich eine musikalische Idee, die 1835 in Chopins „Kopf- Ohr“ entstand. Sein Kopf, der „Klang erfährt“, steht für seinen Gehörsinn. Hören wir heute eine Darbietung, dann hat uns Chopins musikalische Idee, so wie er sie hörte, über die Partitur erreicht – über eine Anleitung, einen Algorithmus. Findet also Chopins musikalische Idee in der Partitur einen angemessen Ausdruck und interpretiert der Musiker die Partitur nach Chopins Vorstellungen, erlaubt uns das einen Einblick in Chopins „Kopf-Ohr“.

Natürlich gibt der Beitrag des Künstlers jeder Darbietung eine eigene Färbung und ist daher nicht zu unterschätzen. Dennoch steht die musikalische Notierung über der individuellen Interpretation und behält über Generationen hinweg Bedeutung. Zu beachten ist, dass die „musikalische Partitur“ in einem „Code“ aus Symbolen geschrieben ist, die die Dauer und Farben des Klangs festlegen. Verwenden wir den Begriff „Code“, so meinen wir im Allgemeinen eine Anleitung oder einen Algorithmus in seiner notierenden Form, eine Fachsprache zur genauen Darstellung der Anweisung.

Ein klar formulierter Code enthält eine wunderbare Rationalität, in der jedes Detail deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Allerdings können wir den Prozess, der der Generierung des Codes zugrunde liegt, nicht nachvollziehen. Wir können Chopins Nocturne studieren und jede Einzelheit der Partitur verstehen: Wir können jedoch niemals den Prozess ergründen, der Chopin die Partitur schaffen ließ. Wir müssen darauf achten, den Prozess, aufgrund dessen der Künstler den Code generiert, nicht mit dem durch den Code spezifizierten Ablauf zu verwechseln. Der kreative Prozess liegt hauptsächlich im Schreiben des Codes.
Kodierte visuelle Form.
Behalten wir diese Überlegungen im Kopf und wenden wir uns von der kodierten „musikalischen Form“ zur kodierten „visuellen Form“.

Ich bin Gründungsmitglied einer losen Gruppe von Künstlern, die als Algoristen bekannt sind (http://www.verostko.com/algorist.html). Für uns meint der Begriff „Algorist“ ganz allgemein Künstler, die selbst programmierte Prozesse zur Entwicklung von Kunstformen verwenden. Wie auch andere Stiftplotter-Algoristen konzentriere ich mich auf kodierte Zeichenprozesse. Der vom Algoristen angestrebte Zeichenprozess darf nicht als entkörpertes Konzept verstanden werden, das fernab einer fühlenden Hand entwickelt wird. So wie ein Komponist mit seinem „Kopf-Ohr“ komponiert, so arbeitet ein Algorist mit seiner „Kopf-Hand“. So wie der Kopf beim Zeichnen der Hand zur Seite steht, so hilft auch die Hand dem Kopf, wenn er Zeichenprozesse programmiert.

Daher widmet sich der Algorist beim Schreiben des Codes ästhetischen Qualitäten und Grenzen von Medium und Maschine, wie etwa Oberfläche und Leimung des Papiers die Aufnahmefähigkeit von Tinte beeinflussen. Der Algorist überträgt das Bewusstsein um diese Faktoren auf intelligente kodierte Arbeitsvorgänge.

Wie genau gelangt man nun von diesem „kodierten Kopf-Hand“-Zeichnen zur eigentlichen Zeichnung? In meinem Fall instruiert der Code über einen PC eine Zeichenmaschine, einen so genannten Multi-Stiftplotter. Diese für Ingenieure und Architekten konstruierten Maschinen verfügen über „Zeichenarme“, die aus einer Reihe von Stiften auswählen und nach genauen Anweisungen Linien zeichnen. 1987 habe ich die Zeichenarme für Farbpinsel adaptiert und spezifische Abläufe für die Ausführung von Pinselstrichen beschrieben. Meine Arbeiten bestehen hauptsächlich aus Tausenden von Tuschstrichen, die nur von vereinzelten Pinselstrichen durchsetzt sind.
Zeichenarm und Rekursion.
Man mag nun versucht sein, den Zeichenarm des Plotters als Simulation der tatsächlichen Hand des Künstlers zu sehen. Dem ist nicht so. Vielmehr vollzieht er die „Kopf-Hand“ des Künstlers. Die „Kopf-Hand“ des Algoristen gibt über weitläufige Zeichenprozesse einer Präzision Form, welche die Möglichkeiten der tatsächlichen Zeichenhand übersteigt. Wir könnten sagen, dass die Kopf-Hand des Künstlers über den Zeichenarm der Maschine zeichnet, so wie die Hand des Baggerfahrers mit der Baggerschaufel schaufelt. Zu diesen Fähigkeiten gehören zum Beispiel selbst entwickelte Zeichenbewegungen, die die Möglichkeiten und Gewandtheit der menschlichen Hand übersteigen, weil sie Funktionen verwenden, die endlos wiederholbar sind und Improvisationen ihrer selbst durchführen. Die Kopf-Hand ist imstande, eine Zeichenschleife zu erarbeiten, die auf das bisher Ausgeführte zurückblickt und einen Improvisationsablauf für den nächsten Zeichengang entwerfen kann. Der Künstler kann Vorgänge schaffen, die bei jedem Schritt Improvisationen auf schon Improvisiertes legen. Diese Art von „Zeichen-Kopf“ taucht tief in die Fluten wiederkehrender Prozesse. Die Erfahrung lehrt den Algoristen, wie Improvisationsregeln aufzustellen sind, um zur Etablierung ästhetischer Prioritäten zu führen.
Wiederholungsprozesse sind keine neuartige Erfindung.
Die Formel für die Fibonacci-Zahlenreihe wäre eine einfache rekursive Funktion, [n+(n+1)=n+2]. Neu ist jedoch die Möglichkeit, Code immer wieder rekursive Iterationen durchlaufen zu lassen, die Dimensionen in der zeichnerischen Improvisation ermöglichen, die das, was unsere Köpfe begreifen oder unsere Hände zeichnen können, weit übersteigen. Diese Fähigkeit wäre meiner Meinung nach in den Händen von Künstlern wie Wassily Kandinsky, Piet Mondrian und der Brüder Pevsner ein wahres Wunder gewesen.

Die Wiederholung ist das Herzstück der algoristischen Kunst. Auf diesem Weg werden selbstgleiche Qualitäten der gezeichneten Linien und Pinselstriche in meinem Epigenesis Mural in treibende Bündel von Tuschstrichen eingebettet, die einander widerspiegeln (http://www.verostko.com/st/mural.html). Darin liegt die Einmaligkeit der Vereinigung von maschineller Kraft und dem kodierten Verfahren des Künstlers.
Arbeiten im Atelier vor neuen Herausforderungen.
Seit mehr als einem Viertel Jahrhundert faszinieren mich die Möglichkeiten, die sich aus der Macht kodierter Abläufe für das Experimentieren mit visuellen Formen ergeben. Künstler, die selbst programmierte Prozeduren in ihre Arbeit integriert haben, stehen an der Grenze zu völligem Neuland. Stellen sie sich dieser Herausforderung, so sehen sie sich mit zwei großen Hindernissen konfrontiert. Da wäre einmal die Aufgabe, Form schaffende Ideen in einen praktischen Arbeitscode zu übertragen. Dazu kommt die Suche nach geeigneten Methoden, der Arbeit greifbaren Ausdruck zu verleihen.

Der Code als Formgeber ist nur ein Teil des Problems. Um als Kunst zu funktionieren, muss der Code imstande sein, eine greifbare Form hervorzubringen – man muss sie sehen, greifen, fühlen oder hören können. Vor einigen Jahren fragte mich ein befreundeter Künstler, als er neben einer Ulme stand: „Was gibt diesem Baum seine starke Präsenz?“ Und er gab selbst die Antwort: „Man kann ihn angreifen – seine Oberfläche fühlen, sein ,Da-Sein‘!“ Da das Erfahren von Kunst über die Sinne passiert, ist die Kunst untrennbar mit ihrer stofflichen Darstellung verbunden.

In ihrer Auseinandersetzung mit den menschlichen Befindlichkeiten machen sich Künstler viele verschiedene Medien zunutze, darunter auch jene, die aus der Kultur des Cyberspace hervorgehen. Mein Interesse gilt seit langem dem Zeichnen und Malen auf Papier. Meine Arbeiten nehmen Rücksicht auf die ästhetischen Qualitäten von Papier, Tinte, Stift und Pinsel – und auf die Art des Ausdrucks. Für mich sollte das fertige Objekt durch seine Aura den Betrachter zum Verweilen einladen und ihm zu verstehen geben, dass die Arbeit, der Ausdruck menschlichen Bemühens, über stoffliche Belange hinausgeht. Dennoch ist der Prozess selbst ungeheuer spannend.
Ausgabegeräte im Atelier.
Viele Besucher meines Ateliers wundern sich, wenn sie die verschiedenen, an ein Computernetzwerk angeschlossenen Plotter sehen, von denen einer meinem experimentellen und der andere meinem künstlerischen Schaffen dient. Sehen Besucher einem Plotter bei der Arbeit zu, sind ihre Augen meist fest auf den Zeichenarm geheftet, der „scheinbar intelligent“ präzise, überraschend und ohne zu zögernbuchstäblich Tausende von Linien zieht und dabei eine unheimliche Präsenz ausstrahlt!

Meine ersten Stift-Plotter mit Namen wie „Brunelleschi“ und „Alberti“ stehen längst still. Manchmal hole ich Brunelleschi hervor und lasse ihn eine kleine Zeichnung machen. Obwohl genaue Einstellungen schwer zu erhalten und die Bewegungen ein wenig grob sind, kann er doch noch immer eine Zeichnung zu meiner Zufriedenheit ausführen.

Im Laufe der Jahre ist mir mein Atelier zu einem Skriptorium mit einem Netz von elektronischen Zeichengeräten geworden. Diese befolgen unermüdlich alle Anweisungen. Manchmal dauert das Zeichnen einer bestimmten Arbeit mehrere Tage. Große Objekte sind aufgrund von Stift- oder Hardware-Pannen auch heute noch schwierig auszuführen.

Man kann zwar Codes für Endlossequenzen und eine breite Palette von Formen schreiben, der Zeichenprozess selbst muss jedoch unter Rücksichtnahme auf spezifische Zeichenmaterialien und -geräte kodiert werden. Der Code legt Abläufe fest, die diese Instrumente in Echtzeit und -raum führen. Der eigentliche Vorgang muss den Grenzen und ästhetischen Qualitäten von Papier und Zeichenwerkzeugen angepasst sein. Im Idealfall optimiert der Code die Handhabung von Zeichengeräten und verstärkt die ästhetischen Qualitäten von Papier und Tinte und den Charakter des Zeicheninstruments. Um diese technologischen Hürden zu meistern, braucht es in endlosen Stunden des Experimentierens Geduld und Erfahrung . Der Schatz am Ende dieser Suche ist das Stück Code, das funktioniert – so wie die Eichel zum Baum wird, so „wächst“ aus dem Code das Kunstwerk! Dieses Verfahren zum Schaffen von Kunst ist heute nicht grundlegend anders als in den Achtzigern, als ich den Originaltext „Epigenetische Malerei: Software als Genotypus“ schrieb. (http://www.penplot.com/epigenet.html)
Ein Personal-System.
Die Software mit Computer und Plotter stellen ein eigenes Gesamtsystem dar. Vielfältigste Experimente mit Papier, Tinte und Plottprozeduren wurden durchgeführt. Durch jahrelanges Experimentieren hat sich das System zu einer einmaligen Reihe von Abläufen mit ihrer eigenen Sprache entwickelt. Die Software, die ständig weiterentwickelt wird, ist ein integriertes Programm aus Algorithmen in Standard-BASIC und Plotter-Befehlen in DMPL. Die Programmroutinen bestehen inzwischen aus Tausenden von Zeilen.
RAD(SID)=(INT(RND*(RMAX-RMIN))+RMIN)
THETA(SID)=INT(RND*(DEGEND-DEGBEG))+DEGBEG
XQ=X1:YQ=Y1
JX(SID)=X1+INT((RAD(SID)*STRETCH)*COS(THETA(SID)*(PI/180)))
JY(SID)=Y1+INT(RAD(SID)*SIN(THETA(SID)*(PI/180)))
X1=JX(SID):Y1=JY(SID)


Oben: Sechs Zeilen des Codes einer Schleife, die den Radius, einen Winkel und die Koordinaten von Kontrollpunkten eines Federstriches beschreibt.


Hodos.
Ich habe die Software Hodos (ïäï´ ò) genannt, nach dem griechischen Wort für Pfad oder Weg. Außerdem ist meta-hodos (µå´ èïäïò) die klassische Wurzel des Worts „Methode“. Hodos als Zeichenmethode ist leicht mit meinen frühen Arbeiten unter dem Motto „Wegpfade“ in Zusammenhang zu bringen. Mein Atelier, Pathway Studio, erhielt ein orientalisches Siegel, geschnitzt vom berühmten Shufa-Meister Wang Dongling. Wang war von den vom „elektrischen Gehirn“ ausgeführten Pinselstrichen begeistert und wählte den klassischen Ausdruck xiao jingzhai, „Kleines Fußweg-Atelier“, für das Siegel meines Ateliers. Viele in diesem Atelier geschaffene Arbeiten erhalten dieses Siegel (http://www.penplot.com/seal.html (4) ).
Formfamilien.
Formschaffende Unterprogramme von Hodos schaffen Arbeiten mit typischen, diesen Unterprogrammen eigenen Zügen. Arbeiten, die durch die selben oder ähnliche algorithmische Unterprogramme entstehen, weisen eine familiäre Ähnlichkeit zueinander auf. Hodos kann auf eine bestimmte Papiergröße, Palette oder Programmfolge eingestellt werden, um eine gänzlich neue Art von limitierter Ausgabe zu schaffen. Das Programm kann eine Formfamilie hervorbringen, in der die Objekte gleichzeitig einander verwandt und doch auf ihre Weise „einzigartig“ sind. Die Arbeiten tragen starke familiäre Züge, da sie dieselben algorithmischen Eltern haben. Die Unterschiede ergeben sich daraus, dass der Code innerhalb gemeinsamer Parameter zufällige Entscheidungen trifft. Die Parameter, innerhalb derer entschieden wird, können sein: (a) nicht mehr als oder nicht weniger als, (b) weit geöffnet und ohne Ober- oder Untergrenze, oder (c) gewichtet um einen Prozentsatz mehr oder weniger als soviel. Die festgesetzten Parameter bestimmen Faktoren wie Winkel, Radius, Koordinaten, Skalierung und Farbe. Familienähnlichkeiten zwischen den Arbeiten variieren mehr oder weniger, je nachdem, wie viele Parameter sich in welchem Ausmaß verändern sollen.

So plottete zum Beispiel meine Frau Alice Wagstaff 1990 unter Einsatz von Hodos und mit meiner Hilfe 125 Titel- und 125 Schlussbilder einer limitierten Ausgabe von Originalzeichnungen mit Stift und Pinsel. Die ledergebundene Ausgabe mit einer Auflage von 125 Exemplaren enthielt weitere algorithmische Zeichnungen, die als Illustrationen für Kapitel II von George Booles Klassiker Eine Untersuchung der Gesetze des Denkens aus dem Jahr 1854 dienten (http://www.penplot.com/boole.html). Ein Satz von Programmroutinen mit einem Parametersatz wurde für die Titelbilder eingesetzt, ein anderer für die Schlussbilder. Wir glauben, dass hier zum ersten Mal eine limitierte Ausgabe eines Buchs unter Zuhilfenahme eines derartigen Illustrationsprozesses entstanden ist.
Epigenetische Kunst: Software als Genotypus.
Diese Abläufe unterscheiden sich von traditionellen. Wie sollen wir diesen Prozess nennen? Diese Frage stellten sich Alice und ich 1986. Während unserer Suche kehrten wir immer wieder zu den Ähnlichkeiten zwischen biologischen Prozessen und kodierten Abläufen zurück. Daher wählten wir den Begriff „epigenetisch“, was zur Grundlage meines Textes aus dem Jahr 1988 wurde.

Epigenese meint den Prozess, durch den eine ausgewachsene Pflanze oder ein Phänotypus aus einem Samen oder Genotypus wächst. So enthält eine Eichel den Genotypus oder Code, der die gesamte, für das Wachsen einer Eiche benötigte Information enthält. Durch den Prozess der Epigenese wird die Eichel zum Baum oder Phänotypus. Analog zum Genotypus enthalten meine Programme oder Codes die gesamte zum Entstehen einer Kunstform benötigte Information. Unter den richtigen Bedingungen im Atelier wächst die Software buchstäblich vom kodierten Ablauf zur Kunstform. Ähnlich der biologischen Epigenese kann dieser Prozess als epigenetisch gesehen werden. Natürlich könnte jeder kodierte Ablauf, der alle für das Entstehen einer Kunstform benötigten Informationen enthält, als epigenetisch bezeichnet werden. Der seit kurzem geläufigere Begriff dafür ist generative Kunst.
Inhalt und Bedeutung.
Seit mehr als einem Viertel Jahrhundert generiert epigenetische Kunst die Ikonen unseres Informationszeitalters. Man könnte diese Ikonen als Diagramme oder visuelle Entsprechungen der kodierten Abläufe sehen, durch die sie entstanden sind. Der bezeichnende Charakter jeder fertigen Arbeit leitet sich vom „formgebenden Ablauf“ oder „Algorithmus“ ab, der als Genotypus fungiert. Daher könnte man auch sagen, dass das Endprodukt eine Epiphanie oder Manifestierung seines Erzeugers, des Codes, darstellt. Für mich ist jede Arbeit der feierliche Ausdruck ihres Codes, besonders der wiederholten Programme, die ihre Eigenart ausmachen. Dabei ist zu beachten, dass derartige Abläufe viel mit Prozessen gemein haben, die mit Kristallisierung und Genetik in Verbindung stehen.

All das ist jedoch sehr allgemein. Wie sollen wir zum Beispiel eine algoristische Zeichnung in Stift und Tinte, herangehen? Im Idealfall sind derartige Zeichnungen vom kodierten Ablauf des Künstlers geprägt. So wie der Pinselstrich eines Malers vielleicht die eindeutige Kennung der Hand des Malers trägt, so verraten die Linien in einer algorithmischen Zeichnung die charakteristischen Qualitäten der algorithmischen „Kopf-Hand“ des Künstlers. Durch das einmalige Zusammenlaufen von konzeptueller Innovation und dem Wissen um Materialien entsteht über den vom jeweiligen Algoristen geschriebenen Code ein persönlicher Stil, der jeder Zeichnung innewohnt. Die Linearformen eines Künstlers wie Jean Pierre Hebert wandern in selbstgleichen Mäandern über das Papier und unterscheiden sich dabei recht eindeutig von den Linien, die mein Code oder der von Manfred Mohr erzeugt. Die Betrachtung ihrer Formen verrät in jedem gegebenen Fall etwas über die „Kopf-Hand“ ihres Schöpfers. Diese Arbeiten erlauben uns einen Einblick in das geheimnisvolle Innenleben des Algoristen.

Diese Arbeiten öffnen allgemein den Blick auf unsichtbare Prozesse, die dem Geist und der Materie Gestalt geben. Auf diese Weise werden sie zu Ikonen, die Licht auf die geheimnisvolle Natur des Selbst, der Welt und des Kosmos werfen.

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Wiellander