Open-Source-Choreografie?
'Scott DeLahunta
Scott DeLahunta
Dieser Text ist ein Versuch, Konzepte aus der Bewegung der Open-Source-Software auf kreative Prozesse und Produkte zeitgenössischer Choreografie zu übertragen. (1) In drei Abschnitten werden mittels Vergleich und Gegenüberstellung Fragen zu Autorschaft und Originalität angeschnitten und Untersuchungen angestellt, ob choreografische Methoden durch Diskursformen dekodiert werden und der freie Zugang zu diesen Methoden eine Art „Open Source“ darstellt.Die Kunst, Tänze zu machen Die Geschichte des Contemporary Dance, des Modern oder „Postmodern“ Dance wird meist als ein Phänomen des 20. Jahrhunderts beschrieben, das in Amerika und Westeuropa entstand und einen Kanon ausgebildet hat, der um die Jahrhundertwende mit Isadora Duncan begann. Es besteht die Tendenz, diesen Kanon in zwei Abschnitte zu gliedern – den frühen Modern Dance und den Postmodern Dance –, die dem allgemeinen Übergang von der Moderne zur Postmoderne in den Künsten und der Architektur entsprechen und vor und nach jenem ikonoklastischen Bruch in den frühen 1960er Jahren anzusiedeln sind. Diesen Bruch markiert die Judson-Church-Bewegung, die das Spektrum choreografischer Methoden enorm erweiterte. (2)
Vor 1960 wurden spezielle choreografische Methoden für den Contemporary Dance kaum dokumentiert. Kurz vor ihrem Tod im Jahr 1958 vollendete die Choreografin und Lehrerin Doris Humphrey, eine Vertreterin des frühen Kanons des Modernen Tanzes, ein kleines Buch mit dem Titel Die Kunst, Tänze zu machen: Zur Choreographie des Modernen Tanzes. Dieses 1959 erschienene und 1987 neu aufgelegte Werk gilt weithin als das erste Buch, das die Kunst der Choreografie umfassend in Form eines „praktischen Handbuchs“ des Tanzes präsentiert. (3) Als solches ist es ein fixer Bestandteil der Tanzausbildung in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und auch in Kontinentaleuropa.
Humphrey behauptet in der Einleitung ihres Buchs, dass vor den 1930er Jahren keine handwerklichen oder formalen Theorien für den Tanz existierten. Es fehlte, wie sie schreibt, ein Bezugsrahmen wie es für die Musik „Kontrapunkt und Harmonie oder für die Malerei die Gesetze der Perspektive und Proportion sind“. In Die Kunst, Tänze zu machen entwickelt Humphrey ihre Theorie zum „Handwerk“ der Choreografie anhand von Komponenten und Instrumenten wie Design und Dynamik, Rhythmus, Motivation und Gestik, Worte, Musik, Bühnenbild sowie Requisiten und Form.
Das Buch kennzeichnet als einer der ersten Bezugspunkte für den Diskurs über den Entstehungsprozess von Tänzen den Beginn einer Periode, in der Kompositionstechniken, Strategien und Methoden der Tanzproduktion eine Eigendynamik zu entwickeln beginnen. Interessanterweise folgten keine neuen Bücher von den nachfolgenden Choreografengenerationen. Doch begann sich durch die zahlreichen Schriften und Publikationen einer wachsenden Anzahl von Autoren, Kritikern und zunehmend auch Wissenschaftlern ein Diskurs zu entfalten. Einige dieser Texte behandeln explizit choreografische Methoden, wie etwa Sally Banes in den „Choreografic Methods of the Judson Dance Theatre“. (4) Einblicke, wie gewisse Choreografen Tänze gestalteten, bekam man hin und wieder durch Interviews; methodologische Informationen wurden mitunter durch genaue Beschreibungen des Arbeitsprozesses vermittelt. (5)
Festzuhalten ist, dass viele Choreografen an der Dokumentation ihrer kreativen Prozesse Anteil hatten – manche brachten als Einzelautoren oder in Zusammenarbeit mit anderen umfangreiche Publikationen heraus, die Partituren, Skizzen, Anmerkungen etc. enthielten. Worauf ich aber hinaus will ist, dass diese Figur des Autors/Interviewers, eines Außenstehenden, der die Praxis beobachtet, an der Darstellung und Verbreitung der choreografischen Methoden zunehmend mitwirkte. Ohne sie wäre unser Wissen über den Entstehungsprozess von Tänzen deutlich geringer.
Das bisher Gesagte kurz zusammengefasst: In Ermangelung eines Diskurses informierte man sich vor 1960 über die Entstehung von Tänzen, indem man sich diese ansah oder an Workshops mit dem Künstler teilnahm. Nach der Veröffentlichung des Buchs Die Kunst, Tänze zu machen begann durch die Entwicklung einer Vielfalt von Diskursen über das Tanzen (parallel zum Anwachsen der diversen Tanzformen und des öffentlichen Interesses an dieser Kunstform) ein kollektiver Prozess der Wissensbildung über den choreografischen Prozess. Manche Choreografen beteiligten sich an diesem Diskurs durch Dokumentationen, Anmerkungen und einige größere Arbeiten, der Großteil dieser Produktion fällt jedoch in den Bereich des Autors/Interviewers.Kollektive Kreativität Open-Source-Software ist eine Software, von der nicht nur der ausführbare Binärcode, sondern auch der Quellcode frei verfügbar ist. Die Software kann daher modifiziert und von jedem für andere Programme verwendet werden. Das Open-Source-Konzept beruht darauf, dass das Softwareprodukt von einer Art kollektiver Kreativität produziert und weiterentwickelt wird. Dieses Produkt gehört jedem und niemandem – als geistiges Eigentum kann die Software durch diverse Lizenzvereinbarungen geschützt werden, die diese „Eigentumsfreiheit“ und die Rechte des Users, die Software an seine bzw. ihre Bedürfnisse anzupassen, gewährleisten. Dieses Konzept kollektiver Kreativität lässt sich nur schwer auf die Choreografie übertragen. Ich habe vorgeschlagen, dass Choreografen und Autoren/Interviewer als Kollektiv zusammenarbeiten, um mittels eines Diskurses freien Zugang zu Erläuterungen und Erklärungen choreografischer Methoden (einer Form geistigen Eigentums) zu gewähren. Ich würde dies nicht als eine Form kollektiver Kreativität bezeichnen, da die Tänze, die geschaffen werden, fast immer Produkte einer individuellen choreografischen Autorschaft und Neugestaltung sind. Als solche werden diese Tänze in vielen Ländern durch das Urheberrechtsgesetz geschützt, mit dem ich mich in der Folge beschäftigen werde.
Man kann auch nicht sagen, dass der „freie Zugang“ zu den Diskursen über den Entstehungsprozess von Tänzen mit dem freien Zugriff auf einen Softwarecode vergleichbar ist – obwohl man einige Übereinstimmungen zwischen choreografischen Methoden und einem Code finden könnte, wenn man die Arbeit an Choreografien beobachtet, die fast zur Gänze auf einem Regelwerk, auf Instruktionen oder einem „Algorithmus“ basieren, deren „Quellcode“ frei verfügbar ist. In den 1970er Jahren hat die New Yorker Choreografin und Mitglied des Judson Church-Kollektivs Trisha Brown zwei Performances gestaltet, die auf Instruktionen basierten: Accumulation und Locus (und deren diverse Erscheinungsformen). Die Instruktionen für diese Tänze wurden in mehreren Büchern publiziert – und nichts hindert mich daran, den Algorithmus für Accumulation in diesem Text mit dem entsprechenden Quellennachweis zu zitieren.Die Akkumulation ist ein additives Verfahren. Bewegung 1 wird präsentiert – und wiederholt. Bewegung 1; 2 wird hinzugefügt, das Ganze wird wiederholt. 1, 2; Bewegung 3 wird hinzugefügt und das Ganze wiederholt etc., bis der Tanz beendet ist. Die ursprüngliche Akkumulation umfasst dreißig Bewegungen in achtzehn Minuten. Die 29. und 30. Bewegung ziehen eine 45-Grad-Drehung nach sich, was bei jeder Vollendung der Sequenz eine 90-Grad-Drehung ergibt. Daher kommt es in den letzten zwei Minuten des Tanzes zu einer 360-Grad-Drehung, die dem Publikum drei unterschiedliche Ansichten des Tanzes gewährt, bevor er schließlich endet. (6) Obwohl man mit diesem Algorithmus, dem „Quellcode“ sozusagen, einen Tanz aus dem Jahr 1975 nachgestalten könnte, ist der Erweiterung des amerikanischen Urhebergesetzes auf den Schutz abstrakter Choreografie aus dem Jahr 1976 zufolge nur Trisha Brown berechtigt, dieses Stück unter dem Titel Accumulation zu inszenieren und zur Aufführung zu bringen. Vor 1976 konnte der Urheberrechtsschutz nur auf Tanzproduktionen angewendet werden, die als „dramaturgische oder dramaturgisch-musikalische Kompositionen“ einzuordnen waren. (7) In beiden Fällen galt das Copyright nur für das Endprodukt, nicht für die ihm zugrunde liegenden Regeln. (8) Dies widerspricht ebenfalls einer direkten Übereinstimmung zwischen dem Quellcode einer Software, der gesetzlich geschützt werden kann, und choreografischen Methoden, die vor Vollendung der Performance nicht als geistiges Eigentum gelten. Andererseits kann der „Algorithmus“ für Accumulation dem Diskurs um die Tanzproduktion entnommen und verwendet werden (wie ich es in diesem Text getan habe), um Bewegungsmaterial zu generieren, das von einem anderen Choreografen in etwas Neues verwandelt werden kann. So gesehen ist der Hinweis legitim, dass der eine oder andere Aspekt der Open-Source-Software im offenen Zugang zu choreografische Methoden Anwendung findet. Ich werde darauf gegen Ende dieses Essays zurückkommen.
Um einen Tanz so zu definieren, dass er dem Urheberschutz unterliegt, ist eine objektive Methode erforderlich, um eine Choreografie so zu fixieren, dass sie identifizierbar ist. Die Richtlinien des Urheberrechtssamts in Washington D.C. lauten wie folgt: „Für die Choreografie kann das Werk in einem Film oder einem Video, mit einem Recorder aufgezeichnet oder in einem Text oder Tanznotationssystem wie etwa Labanotation, Sutton Movement Shorthand oder Benesh-Notation präzise beschrieben sein“. Die hier aufgelisteten Notationssysteme kommen dem Begriff von Software als geistigem Eigentum sehr nahe. Im Unterschied zu Audio-Video-Aufnahmegeräten bestehen Tanznotationssysteme aus einem flexiblen Register mit einzelnen Symbolen, die zu immer größeren Informationseinheiten neu kombiniert werden können, die sich auf bestimmte Bewegungen im Zeitablauf beziehen. Die einfachste Informationseinheit der Labanotation ist (wie in der Musik) ein Liniensystem. Auf diesen Linien kann man die Symbole kombinieren, die benötigt werden, um die Richtung, den Körperteil, die Position und den Zeitraum anzuzeigen. Mit der syntaktischen kombinatorischen Intelligenz dieser relativ einfachen Symbolsprache können komplexe Bewegungsinformationen dargestellt werden.
Diese Funktionsbeschreibung der Tanznotation weist Ähnlichkeit mit jener des Softwarecodes auf. Das Tanznotationssystem unterscheidet sich jedoch insofern vom Programmcode, als die Tanznotation bei der Produktion von Tänzen nicht als ein generatives Instrument verwendet wird, während der Softwarecode seinem Wesen nach inhärent generativ ist; er produziert Wirkung. Notationssysteme wurden mit der Absicht geschaffen, Choreografien zu bewahren und wieder zur Aufführung bringen zu können, nicht sie zu erzeugen. Choreografen erfinden einen Tanz nicht, indem sie diesen vorab in den Symbolen der Tanznotation niederschreiben. Doch in den Begriffen des geistigen Eigentums ist die Notation Teil des Systems, das den Besitz von Choreografien definiert; und darin ist sie dem Softwarecode wiederum ähnlich.
Eine kurze Zusammenfassung des Kapitels: Die Art und Weise, wie Informationen über die Produktion von Tänzen aus einer Vielzahl individueller Quellen kollektiv gesammelt werden, ist nicht zu vergleichen mit der kollektiven Kreativität, die bei der Erzeugung von Open-Source-Software praktiziert wird. Tänze werden letztlich zu Produkten individueller Autorschaft und können als solche durch neuere Copyright-Adaptationen geschützt werden. Obwohl einige Choreografen in ihren Tanzproduktionen mit auf Regeln basierenden Systemen arbeiten, können diese Algorithmen kaum als geistiges Eigentum betrachtet werden. Damit ein Copyright zum Schutz eines Tanzes zur Anwendung kommen kann, muss die Choreografie dieses Tanzes in Form einer Audio- und/oder Videoaufnahme oder in irgendeiner Form von schriftlicher Tanznotation festgehalten werden. Tanznotationssysteme haben ihrem Wesen nach eine größere Ähnlichkeit mit Software als andere Charakteristika des Tanzes – sie werden aber in erster Linie verwendet, um Choreografien aufzuzeichnen, nicht um sie zu schaffen.Choreografie und Open Source Während gewisse Choreografen bei ihren Tanzproduktionen mit Systemen gearbeitet haben, die auf einem Regelwerk basierten, verwenden andere gleichsam „Kopien“ eines Tanzes, um die philosophischen Implikationen geistigen Eigentums in Bezug auf den Tanz zu erforschen. Das Stück The Last Performance aus dem Jahr 1998 des in Europa für seine provokanten konzeptuellen Tanzproduktionen bekannten französischen Choreografen Jérôme Bel besteht aus kurzen Sequenzen oder „Zitaten“ von Tänzen anderer Choreografen, die ihn auf die eine oder andere Weise beeinflusst hatten. (9) Er erhielt die Genehmigung, Teile dieses Materials zu verwenden, bekam aber auch Ablehnungsbriefe, die Zitate des Urheberrechtsgesetzes enthielten. Diese wurden bei den ersten Aufführungen des Stücks „The Last Performance“ laut vorgelesen.
Unter den Choreografen, die Bel gestatteten, ihr Material zu verwenden, war auch die Deutsche Susanne Linke. Eine in einem weißen Kleid auftretende Tänzerin aus The Last Performance sagt den Satz: „Ich bin Susanne Linke.“ In diesem Kontext ist die Bedeutung der „Kopie“ für den Betrachter der Performance das Bezugssystem. Nicht länger an die logischen Strukturen von Sprache oder Code, von Software oder Gesetz gebunden, beginnt diese „Kopie“ an den verschwimmenden Rändern der Mimesis zu spielen – wobei die Behauptung, die Urheberin der Performance zu sein, hier vielleicht bedeutet, in die Rolle eines Schauspielers oder Imitators zu schlüpfen. Tanzende Körper sind in informationellen Begriffen äußerst komplex und sperren sich gegen eine konkrete Auslegung. The Last Performance illustriert den Punkt, an dem die Beziehung zwischen zeitgenössischer Choreografie und Open Source auseinanderstrebt und zu inkonsistent wird, als dass sich ein Vergleich noch lohnen würde. Während The Last Performance eine Situation illustriert, in der Vergleiche zwischen Choreografie und Open Source klarer werden, eignet sich das Beispiel eines weiteren Choreografen für eine Fortsetzung dieses Gedankenspiels. Ich möchte auf die Vermutung zurückkommen, dass einige Aspekte der Open-Source-Software im Austausch choreografischer Ideen gegeben sind, wofür das Folgende ein Beispiel ist.
William Forsythe, künstlerischer Leiter und seit 1984 erster Choreograf des Frankfurter Balletts, stellte Komponenten seiner choreografischen Arbeit durch die Verbreitung einer interaktiven Multimedia-CD-ROM mit dem Titel Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye zur Verfügung. (10) Er wollte mit seinem CD-ROM-Projekt neuen Tänzern der Kompanie ein Trainingsinstrument zur Verfügung stellen, das es gestattete, die grundlegenden Aspekte seiner innovativen Improvisationstechniken zu studieren. Im Unterschied zu Doris Humphreys Die Kunst, Tänze zu machen wollte Forsythe mit seiner Publikation nicht alle Aspekte der Tanzproduktion berühren, sondern lediglich über die so genannten Bausteine informieren, die zur Entwicklung einer Analysemethode der Improvisation geeignet sind. Forsythe zufolge sind diese Bausteine eher als Konzepte oder Ideen denn Techniken oder Strategien zu verstehen. Aus dieser Perspektive betrachtet gehen choreografische Methoden in choreografisches Denken über.
Die CD-ROM präsentiert vier Informationskategorien: Linien, Additionen, Reorganisation und Text. Innerhalb jeder Kategorie gibt es bis zu fünf Subkategorien (z. B. Punkt-Punkt-Linie, grafische Animationen, Isometrien etc.), die sich weiter unterteilen. Dieser hierarchische Informationsaufbau ermöglicht es dem Leser / User, bequem einem roten Faden von Bewegungen zu folgen, der von einfachen zu komplexeren Prinzipien führt. Der Leser / User hat auch die Möglichkeit, die Informationen aufzunehmen, indem er sich ansieht, wie diese Bausteine oder Ideen von Mitgliedern der Kompanie getanzt werden. Es gibt insgesamt 63 verschiedene Bausteine auf der CD-ROM, wobei viele davon weitere enthalten. Sie repräsentieren einen kleinen, aber bedeutenden Ausschnitt von William Forsythes choreografischem Denken. Da sie durch dieses elektronische Medium verbreitet und zugänglich gemacht werden, sind sie eine Art Open-Source-Code in öffentlichem Besitz, der nicht nur allen an der Entstehung von Tänzen Interessierten entsprechende Einblicke gewährt, sondern die Bausteine auch jedem zur eigenen Verwendung zur Verfügung stellt.
Als Forsythe gefragt wurde, ob er das Gefühl hätte, durch die Publikation dieser Informationen in Form der CD-ROM etwas zu verschenken, antwortete er:Nun, durch die CD-ROM erfährt man nicht, wie ich choreografiere, sie zeigt lediglich, wie Bewegung zu beobachten ist. (…) Sie zeigt nur einige Denkansätze zur Analyse von Bewegung. Ich glaube, es gibt eine ganz neue Einstellung zur Arbeit: Lassen Sie es mich so ausdrücken: Arbeit ist kein Geheimnis. Es ist irgendwie abergläubisch zu denken, dass man seine Methode geheim halten müsste. (…) Gegen Ende des 20. Jahrhunderts sollte Arbeit nicht geheim gehalten werden. Sie verschwindet nicht, nur weil wir kommunizieren. Wir könnten sozusagen verstanden und dadurch gezwungen werden, unsere eigenen Methoden aufzugeben, was auch nicht das Schlechteste wäre (…) Ich hoffe, dass die User ihren eigenen Tanz entdecken, indem sie unseren verstehen. (11) Eine kurze Zusammenfassung des Kapitels: Wenn ein Tanz schließlich zur Aufführung kommt, kann er urheberrechtlich geschützt werden, und die Choreografen können Kollegen die Genehmigung verweigern, einen Ausschnitt dieses Tanzes zu reproduzieren, wie es bei The Last Performance von Jérôme Bel geschah. Doch lässt sich der tanzende Körper auf der Bühne nicht so leicht in das starre Korsett pressen, das die Einrichtung des Copyrights gerne hätte. Der tanzende Körper auf der Bühne lässt sich auch nicht mit der Dynamik von Open Source vergleichen. Zusammenhänge zwischen Choreografie und Open Source als eine bestimmte Sammlung von Konzepten und Praktiken finden sich eher in der manifesthaften Offenheit der CD-ROM Improvisation Technologies von William Forsythe.Schluss Die kreativen Prozesse und Produkte der zeitgenössischen Choreografiepraxis decken sich nur teilweise mit jenen der Bewegung der Open-Source-Software. Forsythe zufolge ist die Zeit, in der man aus seinen Methoden ein Geheimnis machte, vorbei, doch bin ich mir nicht sicher, in welchem Ausmaß dies von der Open-Source-Bewegung herrührt oder einfach nur ein zufälliges Zusammentreffen ist (bedingt durch denselben historischen Zeitrahmen). Verschiedene Fragen stellen sich: Geben die Software-Lizenzen, die freien Zugang zum Quellcode gewährleisten, einen Anstoß zur Adaptation der Urheberrechtsgesetze für Choreografie? Auf der Suche nach einer Antwort zeigt sich alsbald, dass eine derartige Verknüpfung nicht möglich ist, wie sich auch an mancher Stelle in diesem Essay gezeigt hat. Eine andere Frage: Müsste man nicht wissen, wie eine Choreografie gemacht wird oder selbst Choreograf sein, um den Quellcode eines bestimmten Tanzes verwenden zu können? Dies wäre eine Aufforderung an uns, die Möglichkeiten des Wissens als etwas anderes als Eigentum zu betrachten. Vielleicht könnte das Verständnis, wie ein Tanz gemacht wird, der Zugang zu seinem Quellcode, dazu führen, dass wir generell ein größeres Verständnis für kreative Prozesse entwickeln. Man würde beginnen, eine Tanzperformance als untrennbar von ihrem Entstehungsprozess zu sehen – als eine Anwendung choreografischen Denkens. Ein größeres Verständnis choreografischer Prozesse könnte vielleicht dazu führen, auch anderes als Performances zu schaffen. Wenn ein Vergleich der Welt der Choreografie mit jener der Open-Source-Software zu einer solchen Verlagerung inspiriert, sind die Überlegungen der Mühe wert.
Aus dem Englischen von Martina Bauer
Released in conjunction with DAMPF Lab. http://dampf.v2.nl
(1) Dieser Essay wurde ursprünglich für ein (noch nicht veröffentlichtes) Buch der MIT Press geschrieben, das von der CODE-Konferenz, die im April 2001 stattfand, angeregt wurde (http://www.cl.cam.ac.uk/CODE/. Ich habe mich für den Begriff „Open Source“ statt „Freier Software“ entschieden, um das Konzept einer Software mit freiem Zugang nicht nur zum ausführbaren Binärcode, sondern auch zum Quellcode zu beschreiben. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese technische Beschreibung zwar für beide Konzepte zutrifft, Open Source und Freie Software jedoch eine unterschiedliche Geschichte haben und in mancher Hinsicht auch ideologische Unterschiede aufweisen. Beide haben eigene Websites, als weiterführende Lektüre empfehle ich einige Texte von Florian Cramer: „Freie Software“ (http://www.fsf.org), Open Source (http://www.opensource.org/); Florian Cramer: http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/.zurück
(2) Die Judson-Church-Bewegung bezeichnet eine Reihe von Tanzprojekten und Performances in New York, die in den 1960er Jahren stattfanden. Anfang des Jahrzehnts leitete der Komponist Robert Dunn auf Anregung von John Cage einflussreiche Choreografieklassen in New York, aus denen einige der bekanntesten und innovativsten Choreografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgingen. Die Klassen schufen die Voraussetzungen, um sich von dem choreografischen Standardrepertoire wegzubewegen, das von den Theoretikern des frühen 20. Jahrhunderts wie Doris Humphrey entwickelt worden war. Unter den Tanzkünstlern, die an diesen Klassen teilnahmen, finden sich berühmte Namen wie: Trisha Brown, Lucinda Childs, David Gordon, Douglas Dunn, Kenneth King, Yvonne Ranier, Steve Paxton, Simone Forti und Deborah Hay. Einige Mitglieder dieser Gruppe traten ab dem 6. Juli 1962 mit einer Reihe von Performances in der Judson Memorial Church in Lower Manhattan auf. Die Auftritte erstreckten sich über vier Jahre, weshalb die Gruppe als „Judson Dance Theater“ bezeichnet wurde.zurück
(3) Humphrey, Doris: Die Kunst Tänze zu machen: Zur Choreographie des modernen Tanzes. Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Karin Vial, Verlag der Heinrichshofen-Bücher, Wilhelmshaven 1998, S. 16.zurück
(4) Banes, Sally: „Choreografic Methods of the Judson Dance Theater“ in Writing Dancing in the Age of Postmodernism, S. 211 – 226, Wesleyan University Press, Februar 1994.zurück
(5) Siehe beispielsweise 1) folgendes Buch, das Interviews mit Choreografen bringt: Butterworth, Jo und Clarke, Gill, Hrsg., Dance Makers Portfolio: conversations with Choreografers, Bretton Hall, Wakefield, GB: Centre for Dance and Theatre Studies, 1998 sowie 2) diverse Ausgaben von Tanzjournalen, in denen häufig Artikel über bestimmte Choreografen erscheinen, etwa Ballet International/Tanz Aktuell (http://www.ballet-tanz.de/) oder Dance Theatre Journal (http://www.laban.org/dance_theatre_journal.phtml)zurück
(6) Mehr über diesen Tanz-Algorithmus ist in einem Interview mit Trisha Brown in The Drama Reviews, Post-modern Dance issue nachzulesen. T-65, März 1975.zurück
(7) Van Camp, Julie: „Copyright of Choreografic Works“, in 1994–95 Entertainment, Publishing and the Arts Handbook, S. 59 – 92, Hrsg.: Stephen F. Breimer, Robert Thorne und John David Viera; Clark, Boardman und Callaghan, New York 1994. Dieser Artikel ist online abrufbar unter: http://www.csulb.edu/~jvancampcopyrigh.html.zurück
(8) Prozesse im Zusammenhang mit Tanz und Urheberrechtsgesetz gab es nur gelegentlich. Ein Beispiel dafür ist die schriftliche Aufzeichnung eines Gerichtsfalls über die Verwendung des Namens von Martha Graham, der Ikone des modernen Tanzes. Finkle, David: „The Future of Dance’s Past, Graham Center Wins a Round in Court and Wakes up Choreografers“, in The Village Voice, August, Woche 15 – 21. 2001. Der Text ist auf http://www.villagevoice.com online abrufbar, wenn man in das Suchfeld „David Finkle“ eingibt.zurück
(9) Siegmund, Gerald: „The Endgame of Dance: ,The Last Performance‘ von Jérôme Bel in Nürnberg“ in Ballett International/Tanz Aktuell, Januar 1999.zurück
(10) Forsythe, William: Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye (CD-ROM), Hatje Cantz Verlag (ISBN: 3775708502), Ostfildern Juni 2000.zurück
(11) Diese Zitate sind einem Interview mit William Forsythe entnommen, das Nik Haffner am 22. April 1999 führte und in dem Booklet der CD-ROM Improvisation Technologies veröffentlicht ist. Nik Haffner, Volker Kuchelmeiser und Christian Ziegler leisteten in konzeptueller und technischer Hinsicht wesentliche Beiträge zu der CD-ROM.zurück
(sämtliche URLs datieren vom 14. Mai 2003)
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