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Ars Electronica 2006
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SIMPLICITY—the art of complexity


'John Maeda John Maeda

Ein einfaches Leben. Eigentlich wollen wir das doch alle. Aber wie alles, das man nicht hat und sich sehnlichst wünscht, paart es sich unweigerlich mit Langeweile, sobald es in Erfüllung geht. Das hektische Treiben in der täglichen Arbeit motiviert uns zu Urlaub und Erholung. Endlich Einfachheit! Sobald sich aber Erholung einstellt, lockt die Komplexität. Es muss doch noch mehr im Leben geben! Wir tauchen wieder in die Komplexität ein und setzen das Ritual von Komplexität, Einfachheit, Komplexität, Einfachheit, Komplexität fort, bis wir am Ende unseres Lebens durch unser Nicht-mehr-Sein die höchste Stufe der Einfachheit erlangen – Nicht-Existenz.

Oberflächlich betrachtet, unterstützen alle künstlerischen Praktiken Komplexität: durch das Hinzufügen eines Konzepts zum visuellen, auditiven oder taktilen Bereich. Dennoch vereinfacht so manche Kunstform – obwohl sie dem Universum aus Konzepten und Objekten um uns Dinge hinzufügt – dank ihres eher subtrahierenden als addierenden Charakters die Welt. Technologiekunst, und im Besonderen die Computer- im Gegensatz zur kinetischen Kunst, ist im Allgemeinen weder einfach noch komplex. Sie ist beides. Deswegen will die Technologiekunst auch nicht so recht in eine der vorher genannten Kategorien passen. Sie ist komplex: Zur Erhaltung des Kunstwerks und zur Interaktion damit sind kryptische Anweisungen und Rituale notwendig.

Sie ist einfach: Im Vergleich zu den komplexen Empfindungen, die sie hervorrufen, muten die Codes hinter den Kunstwerken geradezu trivial an. Vor die Wahl gestellt, ein traditionelles Ölgemälde oder ein Computerkunstwerk in meinem Wohnzimmer aufzuhängen, würde ich mich der Einfachheit wegen für das Gemälde entscheiden. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass ich im Wohnzimmer bin und mich am Bild erfreue, weil ich für gewöhnlich vor dem Computer sitze – der für die meisten von uns zum Wohnzimmer geworden ist.

Um die Computerwelt annehmen zu können, müssen wir einen Grad an Komplexität hinnehmen, den wir definitiv nicht erfassen können. Der Computer täuscht uns mit seinen Pixelreihen – wir meinen das gesamte Bild zu sehen, das auch der Computer sieht. Das stimmt aber nicht. Am Bildschirm sehen wir nur einen Bruchteil der zu jedem beliebigen Zeitpunkt am Computer aktiven Prozesse. Wir erfassen nur einen winzigen Ausschnitt des Gewirrs und der Pein des Computerhirns. Die Einfachheit der Computerschnittstelle lässt uns über den im Inneren des Rechners überbordenden Komplexitäten stehen. Wollen wir wirklich tiefer in dieses innere Chaos vordringen?

Ich war immer der Meinung, Programmieren wäre für jeden Technologiekünstler eine wichtige Fertigkeit. Das glaube ich nicht mehr. Ich bin zwar überzeugt, dass die Beherrschung der Grundbegriffe des Programmierens unumgänglich ist, aber nicht, um Technologiekunst schaffen zu können. Die Grenzen des Programmierens haben mich immer gestört. Um das sagen zu können, muss man sich allerdings damit auskennen. Es muss erst eine neue Generation von Programmiersprachen oder -paradigmen entwickelt werden, um das Potenzial des Computers voll ausschöpfen zu können. Ich habe keine Vorstellung, wie diese neuen Systeme aussehen oder sich anfühlen werden. Um aber dorthin zu gelangen, müssen wir die Komplexität – oder „The Art of Complexity“, den Titel des diesjährigen Ars-Electronica-Symposiums – verstehen lernen.

Wir haben eine illustre Reihe von Vortragenden eingeladen, die über die unterschiedlichen Aspekte der Einfachheit – und wohl auch der Komplexität – sprechen werden. Wie leben wir? Wie werden wir leben? Was fürchten wir? Wonach sehnen wir uns? Ich denke, dass die Diskussion darüber ausgesprochen komplex wird. Und dann, so hoffe ich, werden wir allmählich die Zusammenhänge sehen, die jede interdisziplinäre Diskussion zum Thema Einfachheit verbinden. Gemeinsam werden wir auf diesem Podium des Vertrauens einen Wissenskatalog organisieren, reduzieren und synthetisieren und hoffen, dass dabei jeder Teilnehmer die Wahl für seinen Weg zur Einfachheit oder Komplexität treffen kann.
Vor kurzem habe ich mein neues Buch The Laws of Simplicity fertiggestellt, das in Europa erstmals hier bei der Ars Electronica erhältlich sein wird. Immer wieder werde ich gebeten, es in ein paar Sätzen zusammenzufassen. Das ist meines Erachtens schwierig, da Einfachheit ein so komplexes Thema ist. Kurz gesagt, handelt das Buch von meinen persönlichen Ansichten über die Einfachheit, die in zehn Gesetzen vermittelt werden. Das dritte Gesetz, TIME (Zeit), lautet: „Zeitersparnis nimmt man als Einfachheit wahr.“ Das Kapitel über das dritte Gesetz in The Laws of Simplicity beginnt wie folgt:

Der Mensch verbringt im Durchschnitt mindestens eine Stunde täglich damit, dass er sich in einer Warteschlange anstellt. Dazu kommen die unzähligen Sekunden, Minuten, Wochen, die er anderswo mit Warten verbringt.

Manche dieser Wartezeiten sind kaum spürbar. Wir warten darauf, dass Wasser aus der Leitung kommt, wenn wir den Wasserhahn aufdrehen. Wir warten – meist etwas ungeduldig – darauf, dass das Wasser am Herd zu kochen beginnt. Wir erwarten den Wechsel der Jahreszeiten. Andere Wartezeiten hingegen sind eher enervierend oder ärgerlich: etwa das Warten auf das Laden einer Webseite, im Stau oder auf das Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung, vor dem man Angst hat.

Niemand schätzt das Frustrationserlebnis des Wartens. Daher versuchen alle, Konsumenten ebenso wie Firmen, Mittel und Wege zu finden, um am Rad der Zeit zu drehen. Wir suchen nach der schnellsten Abkürzung oder einer anderen Möglichkeit, um diese Frustration zu vermeiden. Geht etwas rasch vonstatten, schreiben wir diese Effizienz der wahrgenommenen Einfachheit der Erfahrung zu.

Effizienz und Geschwindigkeit zeigen sich exemplarisch bei Kurierdiensten wie FedEx oder auch der Bestellung eines Hamburgers bei McDonald’s. Sind wir gezwungen zu warten, erscheint das Leben unnötig komplex. Zeitersparnis wird als Einfachheit wahrgenommen. Wir sind voller Dankbarkeit, wenn wir diese seltene Erfahrung machen.
Zeitersparnis hat einen weiteren impliziten Vorteil: Die reduzierte Wartezeit wird zu einer Zeit, die wir mit etwas anderem verbringen können. Letztendlich geht es um die Wahlmöglichkeit, wie wir die Zeit, die uns gegeben ist, verbringen. Zehn Minuten weniger Wegzeit werden zu zehn zusätzlichen Minuten, die man im Kreis seiner Lieben verbringen kann. Eine kürzere Wartezeit ist daher nicht nur im Geschäftsleben ein wichtiger Posten, sondern für unser Leben und Wohlbefinden im Allgemeinen von unschätzbarem Wert.(1)


Die übrigen Gesetze behandeln ein breites Themenspektrum, das von oberflächlichen Wahrnehmungen wie jener einer Schnittstelle bis hin zu profunderen Themen wie emotionalen Erfahrungen reicht. Sämtliche Gesetze sind auf meiner Website lawsofsimplicity.com abrufbar, auf der die Diskussion, wie ich hoffe, noch viele Jahre weitergeführt wird. Und ich freue mich, hier bei der Ars Electronica mit Ihnen gemeinsam diese Diskussion ins Rollen zu bringen.

Aus dem Englischen von Michael Kaufmann.

(1)
Auszug aus John Maeda, The Laws of Simplicity, Cambridge, MA: The MIT Press 2006, Seite 23zurück