1. Gesetz: Reduzieren
Am einfachsten erreicht man Einfachheit durch eine durchdachte Reduktion
'John Maeda
John Maeda
Die einfachste Art, ein System zu vereinfachen, besteht in der Entfernung einer Funktionalität. Die heutigen DVD-Player etwa haben zu viele Tasten dafür, dass man eigentlich nur einen Film ansehen will. Eine Lösung bestünde darin, die Vor-, Rückspul-, Auswurftaste etc. zu entfernen, bis nur eine Taste übrig bleibt: Play. Aber was dann, wenn Sie eine Lieblingsszene noch einmal sehen wollen? Oder den Film anhalten möchten, weil Sie die Toilette aufsuchen wollen? Die fundamentale Frage ist, wie man die richtige Balance zwischen Einfachheit und Komplexität findet.
WIE EINFACH KANN MAN ES MACHEN? < > WIE KOMPLEX MUSS ES SEIN?
Einerseits soll ein Produkt einfach zu verwenden sein, andererseits soll es sämtliche Erwartungen erfüllen. Der Prozess, einen idealen Zustand der Einfachheit zu erreichen, kann wirklich komplex sein; gestatten Sie mir, ihn für Sie zu vereinfachen. Am einfachsten erreicht man Einfachheit durch eine durchdachte Reduktion. Im Zweifelsfall einfach wegnehmen! Aber achten Sie darauf, was Sie wegnehmen.
SHE HAT IMMER RECHT
Es würde uns nicht leicht fallen, eine beliebige Taste eines DVD-Players zu entfernen, wenn wir dazu gezwungen wären. Das Problem besteht in der Auswahl dessen, was bestehen darf, und was geopfert werden kann. Solche Entscheidungen sind nicht einfach, weil die meisten von uns es nicht gewohnt sind, despotische Entscheidungen über Sein und Nicht-Sein zu treffen. Im Allgemeinen ziehen wir es vor, alles, was existiert, existieren zu lassen: Ginge es nach uns, würden wir sämtliche Funktionen beibehalten. Wenn sich die Funktionalität eines Systems ohne wesentlichen Nachteil reduzieren lässt, wird wahre Vereinfachung realisiert. Ist alles weg, was entfernt werden konnte, ist ein zweiter Methodensatz an der Reihe. Ich nenne diese Methoden she: shrink, hide, embody – schrumpfen, verbergen, verkörpern.
SHE: SCHRUMPFEN
Wenn ein kleiner, bescheidener Gegenstand die in ihn gesetzten Erwartungen übertrifft, sind wir nicht nur überrascht, sondern erfreut. „Dieses kleine Ding hat all das zuwege gebracht?“, wundern wir uns. Einfachheit hat mit der unerwarteten Freude zu tun, die uns etwas scheinbar Unbedeutendes bereitet. Je kleiner ein Gegenstand ist, umso nachsichtiger sind wir, wenn er aus der Rolle fällt. Verkleinert man Dinge, werden sie dadurch nicht zwangsläufig besser, aber wenn sie miniaturisiert sind, neigen wir ihnen gegenüber zur Nachsicht. Ein Gegenstand, der größer ist als ein Mensch, flößt uns zu Recht Respekt ein, während ein winziges Objekt Mitleid erregen kann. Vergleicht man einen Löffel mit einer Planierraupe, flößt die Größe des Fahrzeugs Angst ein, während das abgerundete Küchenutensil harmlos und belanglos erscheint. Die Planierraupe kann einen Menschen überrollen und töten, während ein Löffel, selbst wenn er einem auf den Kopf fiele, kein großes Unheil anrichten würde. Gewehre, Pfeffersprays und Knirpse, die Karatemeister sind, wären natürlich Ausnahmen von der Regel „Hüte dich vor Größe, suche das Kleine“. Die Technik schrumpft. Die rechnerische Kapazität einer Maschine, die vor 60 Jahren etwa 27.000 Kilogramm wog und 160 Quadratmeter groß war, kann nunmehr in eine Metallscheibe gepresst werden, die nicht einmal ein Zehntel Ihres kleinen Fingernagels groß ist. Die Technik der integrierten Schaltkreise (ICs) – besser bekannt als „Computer-Chips“– ermöglicht eine weitaus größere Komplexität bei viel winzigeren Dimensionen. Diese Chips sind die eigentliche Ursache der Problematik der heutigen Komplexität, da sie die Konstruktion immer kleinerer Geräte ermöglichen. Ein Löffel und ein Mobiltelefon können dieselben Dimensionen haben, doch die vielen in das Telefon integrierten Schaltkreise machen das Gerät komplexer als eine Planierraupe – so täuschend kann das Äußere sein. Während ICs einerseits ein wesentlicher Motor für die Komplexität heutiger Alltagsgegenstände sind, können sie eine erschreckend komplexe Maschine andererseits auf die Größe eines klitzekleinen Bonbons schrumpfen lassen. Je kleiner ein Gegenstand, umso niedriger sind auch die in ihn gesetzten Erwartungen; je mehr ICs darin integriert sind, umso größer seine Macht. Im Zeitalter der drahtlosen Technik, das den IC im Inneren des Telefons mit allen Computern der Welt verbindet, ist diese Macht uneingeschränkt. Es gibt kein Zurück in die Zeit, als große Gegenstände komplex und kleine einfach waren. Babys können mit komplexen Maschinen verglichen werden, da sie, obwohl sie klein sind, konstant Aufmerksamkeit verlangen – in einem Ausmaß, das die meisten Eltern an den Rand des Wahnsinns treibt. Doch inmitten des Chaos, das sie anrichten, lassen sie ihre Eltern unvergleichliche Augenblicke erleben, wenn sie ihre schönen großen Augen auf deren müdes Gesicht richten, mit einem Ausdruck, der sagt: „Hilf mir! Liebe mich!“ Es heißt, dass dieser unwiderstehliche Liebreiz ihr wichtigster Selbsterhaltungsmechanismus ist, der, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, auch funktioniert. Zerbrechlichkeit ist eine wesentliche Gegenkraft der Komplexität, da sie Mitgefühl erregen kann.
Die Technik, einen Gegenstand zart und zerbrechlich wirken zu lassen, wird in der Geschichte der Kunst seit jeher eingesetzt. Ein Künstler ist darin geschult, durch sein Werk Emotionen bei seinen Mitmenschen zu erwecken, ob dies nun Mitleid, Angst, Zorn oder auch eine Kombination von Gefühlen ist. Zu den vielen Mitteln, über die der Künstler verfügt, um eine Überhöhung durch Verkleinerung zu erreichen, zählen unter anderem Leichtigkeit und Dünnheit.
Die spiegelnde Rückseite des Apple iPod lässt beispielsweise die Illusion entstehen, dass der Gegenstand nur so dünn ist wie die wahlweise weiße oder schwarze Kunststoffoberfläche, weil sich der Rest an die Umgebung anpasst. Flache LCD- oder Plasmabildschirme erscheinen noch leichter, wenn sie auf zarten Trägerelementen angebracht sind oder im Extremfall über einem unsichtbaren Plexiglas-Sockel zu schweben scheinen. Eine weitere verbreitete Methode, Dünnheit zu erreichen, demonstriert das abgeschrägte Clamshell-Design des Lenovo ThinkPad, bei dem der Blick, geht er über den unteren Rand des Keyboards hinaus, sich im Nichts zu verlieren scheint. Auf der Website lawsofsimplicity.com finden Sie noch weitere solche Designbeispiele. Jedes Design, das Leichtigkeit und Dünnheit verkörpert, vermittelt den Eindruck, kleiner, unbedeutender und bescheidener zu sein. Aus Mitleid wird Respekt, wenn der erbrachte Wert die ursprünglichen Erwartungen übertrifft. Es gibt eine Reihe von Kerntechnologien, die die Miniaturisierung der Dinge weiter vorantreiben werden, wie etwa die Nanotechnologie – die Wissenschaft, Maschinen zu bauen, die sich zwischen Daumen und Zeigefinger pressen lassen. Es mag wie eine Form der Täuschung erscheinen und ist letztlich auch eine, wenn man der unaufhaltsamen Tendenz zur Verkomplizierung, die diesen Techniken inhärent ist, durch Schrumpfen entgegenwirkt. Aber alles, was uns die Pille der Komplexität leichter schlucken lässt, ist eine Form von Einfachheit, auch wenn es ein Akt der Täuschung ist.
SHE: VERBERGEN
Wenn alle entbehrlichen Leistungsmerkmale entfernt wurden und ein Produkt schlank und leicht erscheint, wird es Zeit für die zweite Methode: das rücksichtslose Verbergen der Komplexität. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Schweizer Armeemesser. Nur das Werkzeug, das man gerade verwenden möchte, ist exponiert, während alle anderen Klingen und Funktionen versteckt sind.
Die Fernbedienungen für Audio- und Videogeräte mit ihren zahllosen Tastenreihen sind bekannt verwirrend. In den 1990er Jahren war die Design-Lösung verbreitet, weniger häufig verwendete Funktionen wie Zeit- und Datumseinstellung hinter einer Klappe zu verbergen und nur die primären Funktionen wie Play, Stop und Eject zu zeigen. Dieser Ansatz ist mittlerweile überholt; vermutlich wegen der erhöhten Produktionskosten und der vorherrschenden Meinung, dass sichtbare Leistungsmerkmale (z. B. Tasten) auf Käufer anziehend wirken.
Seit Styling und Mode bestimmende Kriterien auf dem Mobiltelefonmarkt sind, haben Produzenten die Aufgabe, die Balance zwischen der Eleganz des Einfachen und der Wir-brauchen-alles-Komplexität zu finden. Heute ist das Clamshell-Design das am weitesten entwickelte Beispiel für das Verbergen einer Funktionalität, bis man sie wirklich benötigt. Alle Tasten sind zwischen dem Lautsprecher und dem Mikrofon eingezwängt, sodass es zusammengeklappt an ein einfaches Stück Seife erinnert. Viele neuere Designs haben die Clamshell hinter sich gelassen und verwenden Slide-away- oder Flip-out-Mechanismen. Solche Entwicklungen werden von einem Markt beschleunigt, der Innovation verlangt und bereit ist, für kluge Methoden zur Verbergung von Komplexität zu bezahlen.
Doch gibt es wohl kein besseres Beispiel für die Methode des Verbergens als die heutigen Benutzeroberflächen von Computern. Die Menüleiste am oberen Rand verbirgt die Optionen. Und auf den anderen drei Seiten des Bildschirms sind weitere Menüs und Paletten zu finden, die sich auf Mausklick öffnen und zu multiplizieren scheinen, je stärker ein Computer ist. Der Computer hat unendliche Möglichkeiten des Verbergens, um die Illusion von Einfachheit entstehen zu lassen. Heute, wo Computerbildschirme geschrumpft sind und auf Mobiltelefonen, Mikrowellenherden und unterschiedlichster Unterhaltungselektronik Platz finden, ist die Fähigkeit, Komplexität in unglaublich hohem Maße zu verbergen, allgegenwärtig.
Komplexität durch ausgeklügelte Klappmechanismen oder winzige Bildschirme zu verbergen, ist offenkundig eine Form der Täuschung. Wenn die Täuschung nichts Böswilliges hat, sondern vielmehr wie Magie erscheint, werden verborgene Komplexitäten eher zu einem besonderen Vergnügen als zu einem Ärgernis. Der faszinierende „Klick“, wenn man ein Motorola Razr-Handy aufklappt, oder die Desktop-Animation unter Mac OS X von Apple vermitteln die Befriedigung, nach Belieben zwischen Komplexität und Einfachheit wechseln zu können. Komplexität wird auf diese Weise zum Schalter, den der Besitzer nach eigenem Belieben betätigen kann, ohne sich an die Vorgaben des Geräts halten zu müssen.
Das schrumpfen eines Gegenstands verringert die Erwartungen, und das Verbergen der Komplexitäten ermöglicht es dem Besitzer, die Erwartungen selbst zu steuern. Die Technik schafft das Problem der Komplexität, bietet aber auch neue Materialien und Methoden für die Gestaltung unserer Beziehung zu den Komplexitäten, die im Übrigen noch zunehmen werden. Obwohl das „Erregen von Mitleid“ und die Wahl der „Kontrolle“ darüber sehr rigorose Annäherungen an die Einfachheit zu sein scheinen, sind sie aufgrund des Vergnügens, das sie bereiten, positiv zu bewerten.
SHE: VERKÖRPERN
Das Verbergen von Leistungsmerkmalen und das Schrumpfen der Produkte erhöhen die Notwendigkeit, den Gegenstand aufzuwerten, da durch das verbergen und schrumpfen Werte verloren gehen. Konsumenten werden nur dann von einem kleineren, weniger funktionalen Produkt angezogen, wenn sie es für wertvoller halten als eine größere Variante mit mehr Leistungsmerkmalen. Daher wird die Wahrnehmung von Qualität ein wesentliches Kriterium bei der Entscheidung für Weniger und gegen Mehr.
Welche Qualität verkörpert wird, ist in erster Linie eine ökonomische Entscheidung und nicht eine des Designs oder der Technik. Die Qualität kann eine tatsächliche sein, wie sie durch bessere Materialien oder deren Verarbeitung bewirkt wird, oder auch nur eine vermeintliche, wie sie durch eine durchdachte Marketingkampagne insinuiert wird. In welche Qualität man nun investiert, um maximales Feedback zu bekommen – in die reale oder die vermeintliche – ist eine Frage, auf die es keine definitive Antwort gibt.
Vermeintliche Vorzüge können den Konsumenten mit dem machtvollen Instrument des Marketings eingetrichtert werden. Wenn wir einen Weltklasseathleten wie Michael Jordan mit Sneakers von Nike sehen, schreiben wir ihnen automatisch einige seiner herausragenden Eigenschaften zu. Auch ohne Assoziation mit einer Berühmtheit kann eine Marketingbotschaft ein machtvolles Instrument sein, um den Glauben an Qualität zu stärken. Ich bin beispielsweise im Allgemeinen ein Fan von Google, wurde aber kürzlich einer Flut von Microsoft live.com- und ask.com-Fernsehwerbespots ausgesetzt und seither google ich bedeutend weniger. Die Macht der Suggestion ist groß. Die Verkörperung wirklicher Qualität ist die Basis der Luxusgüterindustrie und auf die Verwendung kostbarer Materialien und bester Handwerkskunst zurückzuführen. Ein Ferrari-Designer hat mir einmal erzählt, dass ein Ferrari weniger Bestandteile hat als ein gewöhnliches Auto, die Qualität der Teile aber kaum zu überbieten ist. Diese elegante Geschichte über die Konstruktion eines Autos basiert auf einer einfachen Philosophie: Wenn gute Bestandteile ein großes Produkt ausmachen, lassen bessere ein legendäres entstehen. Es gibt natürlich auch Beispiele für ein Zuviel des Guten, wie etwa den Laptop mit Titangehäuse, den ich besitze – ich werde die Stärke des Titan wohl kaum brauchen, um mich vor einer Kugel zu schützen. Aber ich genieße die persönliche Befriedigung, dass ein qualitativ hochwertiges Material anstelle von Kunststoff verwendet wurde. Die positive Seite des Materialismus ist, dass die Art und Weise, wie wir etwas besitzen, unser Befinden verändern kann.
Manchmal funktioniert die Mischung tatsächlicher und vermeintlicher Qualitäten gut, wie das Design der Bang & Olufsen-Fernbedienung zeigt. Das Gerät ist schlank und aus besten Materialien, aber deutlich (und bewusst) schwerer, als man seinem Äußeren nach erwarten würde – wodurch auf subtile Weise höhere Qualität kommuniziert wird. Substanzielle Technik, wie drei CCD-Zeilensensoren in einer Videokamera anstatt der standardmäßigen einzelnen, sind meist unsichtbar. Die Wahrnehmung muss daher erst darauf gelenkt werden, was bedauerlicherweise in direktem Widerspruch zum verkörpert steht. Ein unauffälliger Aufkleber auf dem Gerät wie etwa „3 CCDs“ oder eine Information, die beim ersten Einschalten des Geräts erscheint, könnte für diese verborgene Qualität werben. Auf Qualitäten, die nicht implizit vermittelt werden, muss eigens hingewiesen werden, insbesondere wenn sie schlicht und einfach der Wahrheit entsprechen.
KLEIN IST BESSER
Reduzieren Sie, was Sie können, und verbergen Sie alles andere, ohne das Gefühl für den inhärenten Wert zu verlieren. Die Verkörperung höherer Qualität durch verbesserte Materialien und andere Botschaften ist ein wichtiges und subtiles Gegengewicht zum schrumpfen, indem es die unmittelbar verständlichen Aspekte eines Produkts verbirgt. Design, Technik und kaufmännisches Denken können konzertiert die Entscheidung erleichtern, wie viel Reduktion in einem Produkt tolerierbar ist und wie viel Qualität es trotz seiner Reduziertheit verkörpern wird. Klein ist besser, wenn es den she-Kriterien entspricht.
Aus dem Englischen von Martina Bauer
Aus: John Maeda, THE LAWS OF SIMPLICITY, Cambridge, MA: The MIT Press, 2006.
|