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Meine Wunderkammer
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'Jason Kottke Jason Kottke

Es gibt keinen Grund, warum man die Welt nicht als
ein riesiges Gemälde betrachten sollte.

Robert Rauschenberg


In einem Artikel für Feed 20001 verglich Julian Dibbell Weblogs mit den Wunderkammern, die im Europa des 17. Jahrhunderts populär waren. Diese Kammern wurden von begeisterten Sammlern sorgsam betreut und mit Naturalien und Artefakten der vormodernen Welt vollgeräumt, wobei man bemüht war, aus den Objekten, die Kulturen und Ideen repräsentierten, ein ästhetisches Ganzes zu schaffen. kottke.org, ein Weblog, das ich seit über acht Jahren betreue, ist meine Wunderkammer, die ich täglich kuratiere und durch aktuelle Links, Ideen und Informationen aktualisiere – und darüber hinaus mein spezieller Beitrag zur Vereinfachung einer komplexen Welt. Meine Tätigkeit als Kurator sieht dabei folgendermaßen aus:

Ich setze mich jeden Morgen an meinen Computer und öffne den Newsreader. Ein Newsreader ist eine geradezu magische Software, die auf einen einfachen Befehl hin Updates von nahezu allen Websites einsammelt, die ich an diesem Tag lesen möchte – etwa 600 Artikel von insgesamt 300 Websites. Mein Newsreader stellt für mich eine überaus umfangreiche Tageszeitung aus einem globalen Fundus zusammen: etwa die letzten wissenschaftlichen Berichte aus New Scientist,2 typografische Informationen von Typographica,3 ökonomische Diskurse von Marginal Revolution,4 die letzten Neuigkeiten aus der Apple-Welt von Daring Fireball,5 Aktuelles aus der Popkultur von Goldenfiddle,6 Fotografie von Eliot Shepard,7 Kulinarisches von Megnut,8 Kommentare aus dem Wall Street Journal9 sowie persönliche Betrachtungen zahlreicher Designer, Künstler, Techniker, Unternehmer, Eltern, Fotografen, Kellner, Callgirls, Filmemacher und Schriftsteller. Im Durchschnitt erhalte ich täglich 70 bis 90 relevante E-Mails neben mindestens 900 Spam-Nachrichten, die mein E-Mail-Programm angenehmerweise filtert und vor mir verbirgt. Bei der Lektüre dieser E-Mails und der vom Newsreader zugestellten Texte übernimmt allmählich der durch Hyperlinks organisierte Zufallsgenerator – das Web – die Leitung über meine Informationstour und ich surfe durch alle möglichen Themen auf Dutzenden von Websites, indem ich mich wie besessen von Link zu Link klicke.

Ich sehe zwei bis drei Kinofilme pro Woche, lese ein bis zwei Bücher monatlich und höre nahezu ständig Musik. Ich besuche regelmäßig eine Buchhandlung oder eine Bibliothek, stöbere in den Regalen und überfliege Dutzende von Büchern. On- und offline lese ich acht bis zehn Magazine pro Monat, dreißig bis vierzig weitere blättere ich durch. Außerdem nehme ich so manches meiner Abenteuer mit dem Kamerahandy und einer digitalen SLR-Kamera auf. Museen, Konzerte, Gespräche, Konferenzen, Restaurants, Partys, Cafébesuche mit Freunden, Einkaufsbummel … Sie erraten schon, worauf es hinausläuft – alle diese Einrichtungen und Ereignisse liefern Informationen, die ich aufsauge. In der heutigen Gesellschaft ist ein Informationskonsum dieses Umfangs nichts Ungewöhnliches. Für alle jene, die einen technischen Beruf ausüben oder kreativ tätig sind, ist der Umgang mit riesigen Informationsmengen nicht nur eine gelegentliche Aufgabe, sondern die eigentliche Arbeit.

Aus diesem „Stoff“, der Hunderte unterschiedliche Tendenzen, Weltsichten und Perspektiven repräsentiert, stelle ich eine tägliche Aktualisierung von kottke.org zusammen, die man, je nach Interesse, in einigen Minuten lesen oder stundenlang studieren kann. kottke.org ist meine Interpretation dessen, was in der Welt vorgeht, ein einfacher Pfad durch einen komplexen Informationsraum. In der Einleitung bezeichnete ich diese Tätigkeit als „Kuratieren“, man könnte es aber auch Aggregation nennen. Ich bin ein Aggregator von Informationen und Ideen.

In seinem Buch Die Weisheit der Vielen beschreibt James Surowiecki die Bedingungen, unter denen man relevante Informationen von einer Gruppe von Menschen gewinnt. Die Zusammensetzung einer solchen Gruppe muss heterogen sein, die Mitglieder sollen unabhängig voneinander und die Organisation dezentralisiert sein. Und dann bedarf es der Aggregation, um die „Antwort“ der Gruppe auf eine bestimmte Frage zu ermitteln, den Zeitgeist herauszudestillieren, wenn man so will. Je ausgeprägter die genannten drei Faktoren sind, umso komplexer wird auch das System. Ein höheres Maß an Diversität, an voneinander unabhängigen Ideen und an Dezentralisation bringt auch mehr Faktoren und Kombinationen ein, die der Aggregator zu erfassen und zu evaluieren hat. Andererseits ist effiziente Aggregation notwendigerweise ein Vereinfachungsprozess; damit die Antwort auf eine bestimmte Frage oder der Ausdruck einer bestimmten Idee Aussagekraft hat, muss die aggregierte Antwort bzw. der Ausdruck einfacher sein als die Sammlung der Meinungen der einzelnen Mitglieder. Oder anders gesagt, man kann nicht einfach alles in seine Wunderkammer hineinstopfen.

Daraus folgt: Je effizienter der Aggregator ermittelt, was die Gruppe denkt, umso besser ist das Endergebnis. Paradoxerweise kann die Qualität des Endergebnisses sich auch verbessern, wenn die Komplexität der Gruppe zunimmt. Beim Aufbau der Website kottke.org, die, wie ich hoffe, eine einfache, kohärente Aggregation meiner Welt und der an mir vorbeirauschenden Eindrücke ist, ist diese Komplexität mein engster Verbündeter. Sich über so viele unterschiedliche, unabhängige, dezentralisierte Quellen auf dem Laufenden zu halten, macht meinen Job als Aggregator schwierig – täglich 300 Websites (plus all das andere Material) zu sichten, ist keine leichte Sache – macht kottke.org aber viel besser, als wenn ich nur Newsweek lesen und Hitchcock-Filme sehen würde. Künstler, Designer und Unternehmer, alle setzen im Augenblick auf Einfachheit; sie täten gut daran, ihr Blickfeld zu erweitern und die mit der Einfachheit verbundene Komplexität einzubeziehen. Herr Rauschenberg möge verzeihen: Es gibt keinen Grund, warum man die Welt nicht als eine riesige Palette betrachten sollte, mit der man seinen eigenen kleinen Weltausschnitt malt.
http://www.kottke.org
Aus dem Englischen von Martina Bauer

(1)
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(2)
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(3)
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(4)
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(5)
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(6)
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(7)
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(8)
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(9)
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