www.aec.at  
Ars Electronica 2006
Festival-Website 2006
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Simplexity - Die neue effiziente Klugheit


'Peter Wippermann Peter Wippermann

Neue Technologien und Datendienste treten an, unser Leben zu vereinfachen. Sie eröffnen uns eine unendlich viel größere Bandbreite an Informationen und Möglichkeiten. Aber wir beherrschen die Technik immer weniger und sind gleichzeitig mehr und mehr von ihr abhängig. Es fehlt ein einfacher und schneller Zugang zur wachsenden Komplexität unserer Welt. Die Flut an verfügbaren Informationen, Features und Möglichkeiten verwirrt uns. Wir sehnen uns nach Einfachheit und Zufriedenheit. Simplexity steht daher für eine Balance aus wachsender Alltagskomplexität und persönlicher Zufriedenheit. Dafür müssen wir uns von der Idee optimaler Entscheidungen verabschieden. Zukünftig wird es stärker darum gehen, Urteile zu fällen, die gut genug sind. Die Anforderungen der Konsumenten lautet: maximale Auswahlmöglichkeiten bei minimaler Orientierungslosigkeit.

Wachsende Komplexität und ein
steigendes Bedürfnis nach Einfachheit


Atomisierung der Aufmerksamkeit

Die Welt ist heute mit Werbung zugepflastert. Keine Sendung, die nicht von einer Marke präsentiert wird, kaum eine Webseite, die kein Banner trägt. Poster beginnen via Bluetooth mit Passanten zu kommunizieren, und Gebäuden wie die SAP-Zentrale in Berlin erhalten komplett medial bespielbare Fassaden. Der Werbedruck nimmt stetig zu, mit der Folge, dass der angestrebte „Buzz“ zum diffusen Offerten-Rauschen wird. Die Menge der wöchentlich per E-mail versandten Werbebotschaften stieg in den vergangenen 15 Monaten von durchschnittlich 800 Millionen im Dezember 2004 auf 1,2 Milliarden im März 2006. Ca. 60 Prozent aller verschickten E-mails sind als Spam einzustufen (Technology Review, März 2006). Jede weitere Werbung und jedes neue Medienangebot verstärken diesen Informationssmog. Medien und Marken buhlen immer härter um die Ressource Aufmerksamkeit. Aber diese zerfasert angesichts knapper Zeitbudgets zusehend.

Als Folge davon werden unsere Sehgewohnheiten oberflächlicher, denn es geht darum, möglichst schnell die wichtigsten Informationen zu erfassen. Eine Untersuchung über die Wahrnehmung von Nutzern bei Google ergab, dass die ersten drei Ergebnisse einer Google-Suche noch von allen wahrgenommen werden. Aber bereits ab der sechsten Fundstelle bricht die Hälfte der Testpersonen ab. Die Aufmerksamkeitsspanne beschränkt sich auf wenige Spitzenplätze. Wer keinen dieser Spitzenplätze erreicht, geht in der anonymen Masse unter. Darin spiegelt sich das Drama des Fortschritts wider: Wir sind nur sehr begrenzt aufnahme- und merkfähig.

Featuritis und Insellösungen erzeugen Frust

Gadgets entwickeln sich mehr und mehr zu multimedialen Alleskönnern, sie werden kleiner und immer komplexer zu bedienen. So verschwimmt z. B. die Grenze zwischen Mobiltelefon, Digitalkamera und MP3-Player zunehmend. Es werden laufend neue Funktionen in die Geräte integriert. Laut Stern Markenprofile stimmen heute 73 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die meisten Geräte heute mehr Funktionen haben, als man wirklich braucht. Dabei tritt ein bedeutendes Dilemma zutage. Im Geschäft wirkt die Zahl der Features verkaufsfördernd. Die Auslobung vieler Möglichkeiten suggeriert einen Mehrwert und ein gutes Angebot, so das Ergebnis einer aktuellen Studie der Harvard Business Week. Zuhause sorgt die Featureflut dann aber für Frust, denn die zusätzlichen Funktionen blähen die Handbücher auf, sind unverständlich, umständlich zu bedienen oder gar unnütz. Schließlich soll das Gerät funktionieren und seinen Zweck erfüllen.

Frust seitens der User gibt es auch auf der Content-Seite. Ein Viertel aller im Internet getätigten Bestellvorgänge wird abgebrochen, da die User die Shops nicht verstehen. Die Vielzahl zur Verfügung stehender Kategorien und Möglichkeiten verwirrt, frustriert und blockiert uns letztlich. Ähnliches gilt auch für das Digital Rights Management. Die Menge an unterschiedlichen Standards und Limitierungen raubt den Konsumenten jegliche Freude an den Produkten. Dies macht deutlich: Wir sind rational über- und emotional unterfordert. Wir sehnen uns nach Einfachheit, um wieder genießen zu können und zufrieden zu sein.

Informationsflut sorgt für Verwirrung

Parallel zum Werbedruck steigt der Innovationsdruck. Die Technologisierung schreitet schneller voran und lässt immer mehr Menschen mit einem Fragezeichen zurück. Ob Elektronikfehler im Auto oder der Absturz des PCs – das jeweilige Problem bleibt uns rätselhaft und kann schon aus diesem Grund nicht mehr von uns selbst gelöst werden. Gleichzeitig wächst der Aufwand, mit dem wir uns in immer kürzeren Zyklen auf neue Computerprogramme und neue Generationen von Geräten einstellen müssen.

Die Fokussierung in technologiegetriebenen Branchen liegt sehr stark auf dem, was technisch möglich ist, und nicht darauf, wie neue Technologien angenommen werden oder wie die Technik verständlich vermittelt werden kann. Aber die überwiegende Zahl der Menschen versteht sich als User, die die Technik bedienen können will – und muss. Sie brauchen Interfaces, die ihnen einen schnellen, intuitiven Zugang zu der wachsenden Komplexität ermöglichen. Hier setzt Simplexity an.

Die Fähigkeit smart und schnell zu entscheiden


Wir haben heute mehr Freiheit und damit mehr persönliche Verantwortung. Wir müssen mehr Entscheidungen treffen. Aber es fehlt uns zunehmend an Sicherheit, Verlässlichkeit, Sinn, Orientierung und Zeit. Entsprechend sind wir permanent überfordert und gestresst. Das blockiert und hindert uns an Entscheidungen. Aber keine Wahl zu treffen ist definitiv die schlechteste Wahl. Informationsvernichtung wird damit zur entscheidenden Fähigkeit. Das neue Survial Kit „Simplexity“ besteht aus Vertrauen, Ästhetik und Faustformeln. Sie helfen uns, die Komplexität der verfügbaren Informationen zu verdichten und Entscheidungsprozesse zu beschleunigen. Allmählich setzt sich daher ein neuer Pragmatismus durch: schneller entscheiden, um intensiver zu leben.

Vertrauen kompensiert Konfusion

Wir kompensieren Unsicherheit, unvollständige Informationen und Zeitdruck durch Vertrauen. Aber Vertrauen ändert sich. Das Vertrauen in die Institutionen ist quasi nicht mehr existent, aber auch Medien, Marken und Handel haben neuerdings stark mit einem Vertrauensverlust zu kämpfen. So kennen in Deutschland mehr als die Hälfte der Fachverkäufer nicht die Unterschiede bei den vier unterschiedlichen Gütesiegeln der HDTV-Fernsehgeräte.

Als Reaktion auf lügende Werber und ahnungslose Verkäufer glauben wir viel stärker dem, was wir kennen, selbst erfahren oder direkt von Freunden empfohlen bekommen. Die Überprüfung von Produkten und Anwendungen im RealLife wird einerseits immer entscheidender. Anderseits haben wir aufgrund des permanenten Wandels immer weniger relevante Erfahrungen. Daher verwundert es nicht, dass die kommunizierten Erfahrungen von Freunden und Bekannten einen Siegeszug erfahren. Erfolgsmodelle wie OpenBC, MySpace oder die Kiezkollegen zeigen zudem, dass gerade die Weak Ties, also die Kontakte unserer Kontakte, besonders nützlich sind.

Faustformeln sichern Handlungsfähigkeit

Faustformeln sind Ausdruck unserer Alltagslogik. Die gesammelten täglichen Erfahrungen unseres privaten Umfelds werden zu Faustformeln verdichtet und permanent angepasst. So arbeitet das amerikanische Militär mit der sogenannten „70 Percent Solution“: Entscheide, wenn Du 70 Prozent der verfügbaren Informationen zu 70 Prozent ausgewertet hast und du zu 70 Prozent von der Richtigkeit überzeugt bist. Die Ergebnisse sind natürlich nicht optimal. Aber sie ermöglichen es den Menschen individuell und schnell Entscheidungen zu treffen, die gut genug sind.

Ästhetik stiftet Sinn

Ähnlich wie Vertrauen ist Ästhetik ein zentraler Filter unseres Handelns. Bekannte Formen, Farben und Oberflächen sind emotionale Widerhaken. Die Ästhetik verspricht Kontinuität in einer Welt, die sich immer schneller verändert. Diese Kontinuität wird wichtiger in einer Gesellschaft, in der die Jugend zur Minderheit wird und die gleichzeitig von Innovationen getrieben ist. Wir wissen aus der Mediensozialisation, dass die selbstverständliche Nutzung neuer, interaktiver Medien mit zunehmendem Alter ebenso deutlich nachlässt wie die Sehkraft, die Motorik und die Auffassungsgabe. Ästhetik schlägt die Brücke zwischen wachsender Technikkomplexität einerseits und einer Gesellschaft, die nicht altern will. Es vermittelt das Gefühl: „Du kannst so bleiben, wie du warst.“ Das Beispiel des iPod zeigt dies deutlich. Simples Braun Design der 1960er Jahre macht das Gerät zur Lifestyle-Ikone. Design ist schon heute nach dem Preis zentrales Kriterium bei der Produktwahl. Es funktioniert wie ein Interface, da es eine schnelle, einfache und verständliche Handhabung und Orientierung ermöglicht. Diese Metapher lässt sich auf unsere Lebensgestaltung übertragen. Das Interface ist die Benutzeroberfläche, die die Komplexität der Hard-, Soft- und Netzwerktechnologien vor uns verbirgt. Wir vertrauen den Icons und wollen die Codes der Programme nicht verstehen. Davon kann das Marketing lernen. Schließlich geht es in Zukunft mehr um Informationsvernichtung als um Informationsvielfalt. Die Oberflächengestaltung der Angebote ist entscheidend für den Erfolg.

Entscheidungsfreundlichkeit der Angebote zählt


Simplexity bedeutet für die Entwickler und Vermarkter von Angeboten, dass sie das wachsende Bedürfnis nach Einfachheit und Bedienbarkeit ernst nehmen müssen. Über die Gestaltung des Angebots müssen sie viel stärker als früher Entscheidungshilfen anbieten. Grundsätzlich gibt es drei Strategien darauf zu reagieren: Servolution, Try(Ad)vertising und Sense-Branding.

Servolution: Neue Services statt Abservieren

Jeder, der in einem großen Unternehmen ein Computerproblem hat, ruft heute den HelpDesk an. Der IT-Support loggt sich dann in den jeweiligen Computer ein, und man kann zusehen, wie der eigene Computer gesteuert und das Problem in Echtzeit behoben wird. Dar-über können die User selber sehen, wie Probleme zu lösen sind. Solche persönlichen Services, die on-demand, schnell und einfach Probleme lösen, werden sich zukünftig auch im privaten Bereich stärker entwickeln. Und: Verbraucher und User werden im wachsenden Maß bereit sein, für diese Service-Leistungen zu bezahlen.

Auf der anderen Seite wird die Bedeutung von automatisierten Services weiter zunehmen. Wir hinterlassen heute immer mehr digitale Spuren und Feedbacks, die bislang kaum ausgewertet werden. Chris Anderson, Chefredakteur von Wired, geht davon aus, dass die Zukunft der Ökonomie des 21. Jahrhunderts bereits in den Datenbanken schlummert. Die Bedeutung maßgeschneiderter, automatisierter Angebote wird daher weiter zunehmen. Vorreiter ist hier seit langem Amazon mit seinem Collaborative Filtering. Hier können sich User sehr leicht anhand des Verhaltens anderer Nutzer orientieren.

Try(Ad)vertising: Ausprobieren statt Anzeigen

Persönliche Services sind vergleichsweise teuer. Wer die Kosten für den HelpDesk reduzieren will, der muss darin investieren, dass die User die Probleme selbst lösen können. Es geht darum, positive Erlebnisse und Erfahrungen mit Produkten und Anwendungen zu schaffen. Diese Form der Werbung durch Ausprobieren zielt letztlich auf die Zufriedenheit der User. Vorreiter ist der Apple-Store in London. Neben dem Verkauf dient die Ladenfläche vor allem dazu, die Möglichkeiten der Computer und die verschiedenen Anwendungen der Apple-Software zu erklären. Dafür gibt es sowohl Vorführungen als auch kostenlose Einzelstunden. Ein weiteres Beispiel für erfolgreiches Tryvertising ist Adobe Live. Dabei handelt es sich um eine Art Roadshow, bei der in zwei Tagen die Funktionen der verschiedenen Adobe Produkte von Visionären erklärt wurden. Sie sollen wissen, wie sie die Hard- und Software bedienen können und ihre positive Erfahrung nach Möglichkeit kommunizieren.

Sense-Branding: Sinn stiften statt Verstand rauben

Die ästhetische Antwort auf die wachsende Komplexität liegt einerseits darin, Angebote zu schaffen, die die User emotional ansprechen und in der Auswahl überzeugen. Hier wird in Zukunft die gefühlte Einfachheit der High-Tech-Komplexität vorgezogen werden. Denn eine älter werdende Gesellschaft, die sich ästhetisch an ihrer Jugend orientiert, wird auch weiterhin von Retro-Trends geprägt werden. Andererseits müssen die Oberflächen so aufbereitet sein, dass sie ein schnelles und einfaches Handeln erlauben. Das beinhaltet vor allem die intuitive Benutzerführung und die Optimierung von Interfaces. Hier sind in den vergangenen Jahren komplett neue Berufe entstanden, vom Information Architect bis zum Suchmaschinenoptimierer. Zentrales Ziel ist die Steigerung der logischen Konsistenz, der Übersichtlichkeit und Bedienbarkeit. So konnte der Büromittelhändler Staples durch eine Entrümpelung des Online-Shops die Abbruchquote um 73 Prozent reduzieren und darüber zusätzliche 6 Millionen USD monatlich einnehmen.

Simplexity schafft Zufriedenheit

Simplexity ist die wichtigste Antwort auf das wachsende Bedürfnis nach Zufriedenheit und ist gleichzeitig die große Herausforderung der kommenden Jahre. Die Basisinnovation der Netzwerkökonomie macht Konsumenten zunehmend zu Produzenten, treibt damit die Individualisierung voran und erhöht die Komplexität weiter. Entscheidungen werden zur Pflicht. Das Motto lautet: „Simplexify my life!“