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Einfachheit des Raums im Zeitalter der Komplexität


'Gary Chang Gary Chang

Tauchen Sie ein in das Zeitalter der Technik, in dem Entitäten, Phänomene, Techniken, Konzepte und Ideologien in noch nie da gewesener Weise über Ihr Leben hereinbrechen. Es ist dies eine Zeit, in der Ihre Sinne akribisch berechnet und geschickt manipuliert werden, um das Ihnen vertraute Leben und Ihre Erfahrungen zu gestalten. Die Technik manifestiert sich sowohl in konkreter als auch in virtueller Form, ob es sich nun um Waren des täglichen Gebrauchs oder um die Grundlagen technischer Erfindungen handelt.
Dieser rapide technische Fortschritt rückt die Einfachheit wieder in das Bewusstsein. Die Frage, wie wir mit der Technik, die unseren Alltag mehr und mehr durchdringt, zurande kommen, löste eine Diskussion über die Logik hinter der unabwendbaren Komplexität aus, die mit einer ausufernden Präsenz von Ereignissen einhergeht. Wir möchten anhand von zwei Projekten, dem Suitcase House und dem Domestic Express, die Bedeutung von Einfachheit im architektonischem Entwurf veranschaulichen. Damit könnten wir, so zumindest unsere Intention, Anhaltspunkte für Lösungen, die sich in diesem Kontext zunehmender Komplexität ergeben haben, liefern.

Einfachheit

Einfachheit ist mehr als das Streben nach Minimalismus. Sie ist die Kehrseite der Komplexität des Systems. Komplexität ergibt sich aus den Beziehungen zwischen Ereignissen. Im digitalen Zeitalter, in dem wir heute leben, ist Komplexität durch die Häufung von Ereignissen aller Art nahezu unvermeidlich. Die Suche nach Einfachheit setzt daher ein umfassendes Verständnis dessen voraus, was sich als Komplexität darstellt. Einfachheit ist demnach eine organisierte Komplexität, die dadurch entsteht, dass Ähnlichkeiten von Ereignissen und nicht ihre Unterschiede hervorgehoben werden. Durch eine solche Kategorisierung könnten Ereignisse auf verständliche Weise miteinander in Beziehung gesetzt und zu einer Matrix zusammengefasst werden, die die Situation erklärt, in der wir uns befinden.

Raum

Der Raum ist die Bühne und die Beziehungsmatrix der Protagonist – gemeinsam bieten sie eine ineinandergreifende, wechselseitige Interpretation dar. Einerseits bezeichnet der Raum die Grenze, die Beschränktheit der Mittel, durch die man die Möglichkeit von Einfachheit erfahren könnte. Es geht dabei um den bewussten Einsatz von Ressourcen durch sinnvoll gestaltete Beziehungen. Andererseits existiert der Raum durch den Aufbau der Beziehungsmatrix, in der die Anordnung der Beziehungen ein System bildet, das den Raum definiert. Der Raum ist demnach mehr als eine physische Grenze, er ist seinem Wesen nach fließend und funktioniert wie eine Maschine, indem er in seiner Begrenztheit die Beziehungsmatrix definiert.


Vernünftiger Einsatz von Ressourcen – die vier Cs

Change – Veränderung

Veränderung ist das universelle Gesetz, dem alle Dinge unterstehen, die durch einen solchen Prozess entstanden sind. Ihr Fortschritt zeigt sich an der Zeitkurve: eingeschlossen in den Grenzen und Strukturen des Raums, wo wir die Zwischenprodukte des Verwandlungsprozesses ohne finale Form sehen. Dieses System zeigt die Zusammensetzung und die Beziehungen der Dinge an und offenbart schließlich die Möglichkeit von Ereignissen.
Veränderung zu akzeptieren heißt den Rahmen verstehen, in dem bedingte Flexibilitäten Raum bekommen, um eine individuelle Anpassung an unterschiedliche Bedürfnisse zuzulassen. In einem solchen Rahmen wären beliebige Kombinationen beliebiger Ereignisse möglich, es hinge nur von den jeweiligen Wünschen des Einzelnen ab, der die Veränderung in die Wege leitet. Um Veränderung zu ermöglichen, muss man Beziehungsregeln aufstellen, indem man eine Logik der Veränderung schafft, die ihrerseits grenzenlose Möglichkeiten eröffnen könnte.

Choice – Wahlmöglichkeit

Wahlmöglichkeit ist die vielgestaltige Reaktion auf individuelle oder kollektive Wünsche. Die Bandbreite der Wahlmöglichkeiten ergibt sich aus der jeweiligen Begrenztheit der Ressourcen innerhalb des Systems, wobei möglichst viele Lösungen für die jeweilige Priorität zu finden sind. Deshalb sind die Wahlmöglichkeiten des Einzelnen im beschränkten Bereich der Ressourcen geregelt, während Prioritäten, die man setzt, nie zu kontrollieren sind. Um die Wahlmöglichkeit zu konzipieren und zu steuern, muss man den Kontext und die Bedingungen berücksichtigen, in denen Beschränkungen und Grenzen veranschaulicht und reorganisiert werden, um eine maximale Anzahl von Lösungen zu liefern. Diese im Rahmen definierter Umstände geschaffene, ressourcenbewusste Flexibilität wäre eine Lösung für unsere nie enden wollenden Wünsche.
Wahlmöglichkeit bedeutet Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Der Designer des Systems verfeinert und produziert einen Mehrwert, ohne die Beziehungsmatrix zu komplizieren. Es ist daher entscheidend, dass man die Beziehungen und die Grenzen des Kontexts versteht und ein einfaches, aber ausgeklügeltes System daraus ableitet, das die Benutzer dechiffrieren und handhaben können.

Coexistence – Koexistenz

Koexistenz wird durch die Akzeptanz und Etablierung von Beziehungen zwischen weit verstreuten Ereignissen und durch ihre Organisation zu einer einfachen Symbiose realisiert. Sie wird erreicht, indem die Ähnlichkeiten der Ereignisse betont und ihre Differenzen überwunden werden, ohne dass die Idiosynkrasie eines einzelnen Ereignisses negiert wird, sodass sie sich untereinander austauschen und in ein praktikables Ganzes integrieren können. Koexistenz fördert auf diese Weise die Diversität von Ereignissen innerhalb eines Systems. Dies ist heute, in einer Zeit, in der Produkte aller Art in den eigenen Lebensbereich eindringen und kein Weg am Partikularen vorbeiführt, von besonderer Wichtigkeit.
Koexistenz begünstigt Diversität statt Homogenität, während die Bereitstellung mehrerer Wahlmöglichkeiten eine größere Flexibilität innerhalb des Systems zulässt. Sie ermöglicht die Erfüllung ein- und derselben Aufgabe mittels verschiedenster Ansätze. Koexistenz ermutigt auch zur Adaptierung und Wiederverwendung und wehrt sich gegen Festlegung und Eliminierung. Unter den Voraussetzungen beschränkter Ressourcen und enger Räume bekommen Ereignisse in der ihnen zugewiesenen Zeitspanne die Möglichkeit zur Selbstentfaltung und zum Generieren eines effizienten systemischen Gesamtwerts, der wesentlich vorteilhafter ist als eine Summe von Einzelwerten.

Connectivity – Anschlussfähigkeit

Anschlussfähigkeit ermöglicht es, Beziehungen zwischen Systemen zu knüpfen,
um ein Supersystem zu kreieren. Ein Supersystem umfasst eine Reihe von Systemen, die sich in Größe und Eigenart unterscheiden. Die Beziehungen zwischen den Systemen sind äußerst flüchtig, da keine starre Ordnung besteht, sondern mobile Systeme miteinander kommunizieren und in ständiger Bewegung sind. Diese dynamische Organisation und die simultane Präsenz in Wechselbeziehung stehender Systeme lassen die zugrunde liegenden Komplexitäten in einem einzigen und vollständigen Ganzen fortbestehen.
Anschlussfähigkeit evoziert eine Beziehungsmatrix und eine Interaktionsplattform. Sie führt zu einem eigenständigen Supersystem, das zahlreiche bestehende Systeme enthält und ermöglicht das Funktionieren verschiedener Systeme als Komponenten, die einander ergänzen, wodurch eine bessere Nutzung der Ressourcen bei gleichzeitigem Zusammenwirken in einem effizienten Supersystem ermöglicht wird. Kurz gesagt, Anschlussfähigkeit versucht mittels einer strategischen Konstruktion das ganze Potenzial von Komplexitäten auszuschöpfen.


Fallstudien: Ein Manifest für die vier Cs der Einfachheit

Suitcase House

Das einem Koffer nachempfundene Suitcase House versucht den Begriff des „Hauses“ zu hinterfragen und damit das Wesen von Intimität, Privatsphäre, Spontaneität und Flexibilität neu zu überdenken. Es demonstriert den Wunsch nach ultimativer Anpassungsfähigkeit und versteht sich als Bühne für eine unbegrenzte Anzahl von Szenarien.
Das Haus besteht aus übereinander gelagerten Schichten. Die mittlere Schichte verkörpert einen piano nobile par excellence, der als Wohnbereich, als Raum für Aktivität und Bewegung gedacht ist. Durch die Adaption eines nicht hierarchischen Plans mithilfe der von der Gebäudehülle vorgegebenen mobilen Elemente lässt sich der Raum bereitwillig an die jeweilige Aktivität, die Anzahl der Bewohner und den persönlichen Wunsch nach Privatsphäre anpassen. Als metamorphes Volumen erfüllt er die spezifischen Bedürfnisse der Bewohner und lässt sich mühelos von einem offenen Raum in abgetrennte Zimmer verwandeln. Die Räume unterscheiden sich dann durch eine Besonderheit in der Ausstattung.
Die unterste Schicht fungiert als Container für zweckgebundene Räume. Die Abteile verstecken sich hinter einer „Landschaft“ aus pneumatisch gestützten Bodenplatten. Räumliche Präsenz wird immer nur den wesentlichen und gerade benötigten Elementen zuteil. Nutzung und Ausstattung der Räume ist vorgegeben.
Um die Grenzen zwischen Haus, Interieur und Mobiliar aufzuheben, wurden der gesamte Bau und die einzelnen Elemente einförmig mit Holz verkleidet, während das Äußere der Stahlkonstruktion von einem Betonfundament gestützt und getragen wird, in dem die Versorgungseinrichtungen untergebracht sind.

Domestic Express

Als Beispiel für eine kontextbezogene Gestaltung von Kompaktheit evoziert Domestic Express eine Reihe plastischer Gesten, die Anschlussfähigkeit, Privatsphäre, Spontaneität und Flexibilität thematisieren. Das Gebäude veranschaulicht die Anpassung eines Raums, der den jeweiligen Wünschen und Beschränkungen entsprechend permanent in Verwandlung begriffen ist.
Das Cottage ist als Übergang vom Land zum Wasser konzipiert. Die Grundprinzipien des architektonischen Entwurfs waren ein Cottage und eine Plattform, die als Pier fungiert. Wir beschlossen, die beiden zu verbinden, und ein Cottage zu entwerfen, das zwar nur 5 x 8 Meter groß ist, sich aber auch über den Pier erweitern lässt. Mobile Möbel können auf Schienen durch das Haus auf die Plattform bewegt werden und heben dadurch die Grenze zwischen Innen und Außen auf. Die Möbel, die nebeneinander gestellt wie ein abstraktes Objekt wirken, können immer wieder neu arrangiert werden und sich an alle Wünsche und Bedürfnisse der Bewohner anpassen, egal, ob nun ein abgeschlossener Raum für mehr Privatsphäre oder ein Bereich für eine bestimmte Aktivität verlangt wird.
Die beweglichen Möbelmodule sind ursprünglich in einer auf Schienen ruhenden Box montiert, in der Tisch, Sofa und Bank ineinander verschachtelt stehen. Die Bewohner können das Interieur nach Belieben an ihre Bedürfnisse anpassen, indem sie die Möbel über die Schienen ziehen und Räume für unterschiedliche Aktivitäten ganz nach ihren Wünschen gestalten.
Der „Express“ beschränkt sich nicht auf die Innenräume, sondern kann auch auf den Pier hinaus erweitert werden. Indem die gesamte Länge des Piers genutzt wird, können Möbel, die aus dem Cottage geführt werden, Außenräume erschließen, die vielfältige Aktivitäten im Freien, wie etwa Schlafen, Essen und nicht zuletzt Baden, ermöglichen.

Re: Einfachheit

Das Konzept von Einfachheit leistet einen wesentlichen Beitrag zu unserem Verständnis der Komplexitäten, mit denen wir in einem Zeitalter der Ereignishäufung konfrontiert sind. Wir erkennen die Unabwendbarkeit dieser Komplexitäten an und versuchen, wie etwa beim Suitcase House und dem Domestic Express, durch eine Reorganisation der Beziehungen zwischen System und Raum Lösungen für ein alternatives und vereinfachtes Leben zu finden.
Wir akzeptieren Einfachheit als Strategie. Einfachheit ist eine „Lösung, die keine wirkliche Lösung für ein spezifisches Problem ist, sondern eine Möglichkeit, intellektuelles Unbehagen und selbst existenzielle Angst zu lindern (Claude Lévi-Strauss) – eine Haltung, die uns ermöglicht, mit den überwältigenden und unausweichlichen Komplexitäten der heutigen Welt zurande zu kommen. Zu erreichen ist dies durch einen vernünftigen Umgang mit beschränkten Ressourcen und den bewussten Aufbau von Systemen, indem Ähnlichkeiten erkannt und Prioritäten gesetzt werden.

Aus dem Englischen von Martina Bauer