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Sehnsucht nach Einfachheit


'Wolfgang Blau Wolfgang Blau

Jede Ära hat ihre Mythen. Der prägende Mythos der sogenannten Informationsgesellschaft besagt, dass unsere Welt angeblich immer komplexer werde. Komplexität wird jedoch subjektiv erlebt; sie hängt vom Standpunkt der Betrachterin ab.

Während wir zum Beispiel in den G8-Staaten dank Digitalisierung und Vernetzung eine Explosion des Wissens erleben, empfinden Intellektuelle anderer Ethnien unsere westliche Weltsicht oft als immer weniger geeignet, um den komplexen Bedürfnissen menschlichen Daseins noch gerecht zu werden.

Leben wir wirklich in einem Zeitalter exponenziell wachsender Information? Oder bedeutet das derzeitige Artensterben und das Verschwinden alter Sprachen und Erfahrungswissens nicht den schwerwiegendsten Verlust an genetischer und kultureller Information in der Geschichte der Menschheit? Beides trifft zu.

Komplexität ist die gleichzeitige Präsenz scheinbar widersprüchlicher Wahrheiten. Diese Widersprüche in uns zu vereinen, erfordert mentale Werkzeuge und Lerntechniken, die unsere Kultur bisher aber kaum bereithält.

Nach zweitausend Jahren männlich dominierter und monotheistisch geprägter Denkweisen sind wir es gewohnt, unsere Erfahrungswelt bevorzugt hierarchisch von oben nach unten zu strukturieren und Monokausalität im Zweifelsfall als wahrhaftiger zu empfinden.
Um uns in einer polykausalen, weniger hierarchisch und immer mehr in Netzwerkstrukturen organisierten Welt bewegen zu können, müssen wir uns ganzheitlichere Denkmethoden aneignen. Wir brauchen eine Weltsicht, die uns gerade in der Komplexität und nicht mehr in der Verflachung das größte Gefühl von Sicherheit, Authentizität, Verwurzelung und Heimat bieten kann.

Einfachheit könnte dabei als die Fähigkeit skizziert werden, vieles mit wenig zu beschreiben. Wobei das „Wenige“ nicht platt und monokausal sondern auf dualen Prinzipien beruhend, durchaus tiefgründig und multikausal sein muss; etwa so, wie in der Chemie das Periodensystem die komplexen Eigenschaften der Elemente in einem System der Einfachheit beschreibt, ohne deshalb zu vereinfachen.

Die neue Heimatlosigkeit


Wir können heute zwar mit Google Earth die entlegensten Regionen unseres Planeten via Satellit bestaunen, unser eigenes Leben zu kartografieren gelingt uns indessen kaum noch. Nichts ist mehr eindeutig, alle kulturellen Anker unserer Großelterngeneration sind ins Rutschen geraten: Die Zukunft der Nationalstaaten ist ungewiss, einst identitätsstiftende Landessprachen verlieren an Bedeutung; das Konzept der Kernfamilie und lebenslangen Ehe macht neuen Lebensformen Platz, während die monotheistischen Religionen ihr Deutungsmonopol auf unsere spirituellen Bedürfnisse verlieren.

Nur wenige würden gerne die mentalen Kerker der Vergangenheit wiedererrichten; nach der scheinbaren Einfachheit früherer Zeiten sehnen sich jedoch viele.

Was diese Sehnsucht nach Einfachheit noch verwirrender macht ist, dass ihre gesellschaftlichen Ikonen selbst alles andere als simpel sind: Die Open-Source-Bewegung, die Slow-Food-Bewegung, der Bürger-Journalismus oder Experimente mit partizipatorischer Demokratie sind allesamt viel unüberschaubarer und komplexer als die Monopole und Monokulturen, denen sie gegenüberstehen. Und dennoch verbinden wir mit ihnen ein positives Gefühl von neuer Einfachheit. Auch der beliebte Rückgriff auf die Natur als Sinnbild von Einfachheit hält nur dann stand, solange wir Einfachheit nicht mit Primitivität gleichsetzen. Ein besinnlicher Nachmittag in einer Sommerwiese mag uns im Gegensatz zu einem Computerspiel zwar als das simplere Vergnügen erscheinen, die chemischen und physikalischen Vorgänge in dieser Sommerwiese sind dennoch komplexer als alles, was bisher von Menschen verstanden, geschweige denn erfunden wurde.

Die Natur ist in ihrer Fähigkeit zu effizienter und unerreicht schöner Komplexität unsere wichtigste Lehrerin, um Einfachheit zu verstehen. Dieser von Janine M. Benyus als „Biomimicry“ beschriebene Forschungsansatz hat in den letzten Jahren in vielen Branchen zu überraschenden Durchbrüchen geführt; von spritsparenden Speditions-Algorithmen, die sich an die Kommunikationsmuster von Ameisen anlehnen, bis hin zu super-effizienten Turbinen, deren Strömungsdesign von Meeresalgen abgeleitet wurde.

Was die Biomimicry-Forscher gemeinsam haben, ist das Verständnis, dass die Natur wesentlich mehr Design-Erfahrung hat als wir Menschen und dass wir Menschen zugleich Teil der Natur sind und nicht separat von ihr existieren. Auch ein Auto ist in dieser Denkart eine Erscheinung natürlichen Lebens; wenn auch sein heutiges Design noch längst nicht die Einfachheit-Expertise der übrigen Natur widerspiegelt.

Simplicity und Vereinfachung


Simplicity ist die Kunst der Reduktion auf das Essentielle. Die „Simplicitas“ der Antike war jedoch weit mehr als nur wertneutrales Design-Prinzip, sie war genauso auch Synonym für „Ehrlichkeit“ und „Direktheit“. Das Streben nach einer solchen Direktheit und Authentizität erliegt dabei oft dem Reiz platter Verkürzungen. Nichts verschafft uns die Illusion von Simplicity schließlich schneller als ein Feindbild: Open-Source gegen kommerzielle Software, Slow-Food gegen Fast-Food, Bürger-Journalismus gegen Old Media, Non-Profit gegen globalen Corporatismus, David gegen Goliath, wir gegen die, gut gegen böse.

Anhänger falsch verstandener Einfachheit fallen auch leicht der alles erklärenden Pseudologik von Verschwörungstheorien anheim oder hoffen zum Beispiel auf die eskalierende Zuspitzung von Krisen, damit die Welt „endlich zur Besinnung“ komme. Die Erfahrung zeigt aber, dass katastrophale Zuspitzungen von Krisen nicht zu mehr Vernunft, sondern eher zu noch mehr Fundamentalismus und zu noch härteren Verteilungskämpfen auf Kosten der Schwächsten führen. Einfachheit ist zerbrechlich.

Demokratische Staatsformen sind eines der ältesten kollektiven Experimente auf der Suche nach Einfachheit. Ein Zuviel an Komplexität führt zum Verlust von Zusammenhalt und Regierbarkeit, ein Zuwenig an Komplexität resultiert in diktatorischen Zuständen. Selbst in den G8-Staaten werden aber die Vorzüge demokratischer Gesellschaften heute wieder grundsätzlich in Frage gestellt. Präsident Putins gefährliche Verachtung für demokratische Verfassungen wird im Westen mit dem achselzuckenden Hinweis toleriert, Russland sei nicht für die Demokratie geschaffen; ganz so, als ob Demokratie in Wahrheit nur ein Luxus und keine essenzielle Notwendigkeit für die Innovationsfähigkeit jeder Gesellschaft wäre. Auch Chinas mörderische Verachtung für die Menschenrechte seiner Bürger wird im Westen mit dem Hinweis abgetan, das Land müsse sich nun eben erst einmal wirtschaftlich entwickeln.

Sogar im Zusammenhang mit der drohenden Klimakatastrophe werden nun vereinzelte Rufe nach einer zeitlich befristeten Diktatur laut, da unsere demokratischen Entscheidungsprozesse angeblich zu komplex seien, um das Abschmelzen der Polkappen und einen eventuellen Stillstand des Golfstroms noch zu verhindern. Die historische Erfahrung, dass Diktatoren nicht mehr freiwillig abdanken, macht hier dem Wunsch nach vermeintlich einfachen Lösungen Platz. Amartya Sen, der Wirtschafts-Nobelpreisträger des Jahres 1998, hat diesen Mythos von der zeitlich befristeten Entwicklungsdiktatur bereits eindrücklich widerlegt. In seinem Essay „Demokratie macht satt“ zeigt er auf, dass ein höherer Grad an politischer Mitwirkung sich nachweislich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung und Krisenreaktionsfähigkeit einer Gesellschaft auswirkt.

„Politische Mitwirkungsrechte sind wichtig – nicht nur für die Erfüllung von Bedürfnissen,
sondern auch für deren Formulierung“, schreibt Sen und zitiert aus einer Rede des chinesischen Diktators Mao Zedong: „Ohne Demokratie erfahrt ihr nichts darüber, was am unteren Ende vorgeht; die Situation wird unklar; ihr werdet nicht in der Lage sein, in genügendem Maße Meinungen von allen Seiten einzuholen“, sagte Mao 1962, nachdem seine Reformen gescheitert und Millionen Chinesen verhungert waren. „Es gibt keine Kommunikation zwischen oben und unten“, so Mao, „weit oben angesiedelte Führungsorgane werden sich bei der Beschlussfassung auf einseitiges, unkorrektes Material stützen müssen; es wird euch daher schwer fallen, euch anders als subjektiv zu verhalten.“

Vereinfachung und Einfachheit kommen oft im selben Gewand daher, sie unterscheiden sich aber dramatisch in ihrer Bereitschaft, Komplexität zu respektieren und Vielfalt zu fördern.

Untaugliche Pyramide


Komplexität stellt auch nicht automatisch eine Überforderung dar. Wir erleben Komplexität nur dann als überfordernd, wenn wir uns gezwungen fühlen, Prioritäten zu setzen, wo keine Prioritäten möglich sind. Diesen vor allem europäischen Konflikt könnten wir auch als das „Pyramiden-Dilemma“ beschreiben. Es ist unser Erbe aus dem Zeitalter des Feudalismus, in dem es für das Diesseits wie das Jenseits keine andere denkbare Organisationsform mehr gab als die der hierarchischen, vertikalen Machtabstufungen.



König
Adel
Volk



Charakteristische Pyramiden des feudalistischen Denkens sind zum Beispiel: „Gott, Engel, Teufel“/ „Mann, Frau“ / „Papst, Kaiser, König, Klerus, Adel, Volk, Leibeigene“ / „Mensch, Tier, Pflanze“ / „Arbeitgeber, Angestellter, Arbeiter, Arbeitsloser“/ „Inländer, Europäer, Ausländer“ / „Regierung, Parlamentarier, Wahlvolk“.

Wer seine Welt in Pyramiden strukturiert, kann sich nur Umstürze innerhalb dieser Hierarchien vorstellen, nicht jedoch horizontale oder sphärische Organisationsformen, die beispielsweise auch einer Grundschülerin ebenso wertvolle Unternehmer-Instinkte zubilligen würden wie einem Konzernchef.

Selbst die Tierwelt wird aus dieser vertikalen Geisteshaltung heraus noch als „Tier-Reich“ kartografiert; scheinbar selbstverständlich mit Tierkönigen an der Spitze, dem Löwen als „König der Tiere“, dem Großhirsch als „König des Waldes“ oder Ameisen und Bienen, die ihren jeweiligen „Königinnen“ dienen.

Die gesellschaftliche Pyramide ist ein innovationsfeindliches System der Unglücklichen. Jede Stufe kämpft gegen die darunterliegende Stufe, um den eigenen Abstieg zu verhindern. Neue Ideen schaffen es, wenn überhaupt, dann nur langsam an die Spitze.

Dass es aber auch nicht-hierarchische Ordnungsmuster für hoch komplexe Sachverhalte gibt, zeigen beispielsweise die Kulturen der nordamerikanischen Indianer mit ihren sogenannten Medizinrädern. Statt die Welt in Pyramiden zu strukturieren, neigen diese Kulturen dazu, die verschiedenen Aspekte unseres Daseins gleichberechtigt und in Kreisen anzuordnen. Unsere menschlichen Grundbedürfnisse sind hier zum Beispiel von spiritueller, physischer, emotionaler und mentaler Natur. Im Gegensatz zur bekannten Bedürfnis-Pyramide von Abraham Maslow, dem Gründervater der humanistischen Psychologie, ist in den indianischen Kulturen kein Bedürfnis höherrangiger oder lebenswichtiger als die anderen drei.

Die Vorstellung, hier überhaupt eine vertikale Rangordnung erzwingen zu wollen, würde in diesen Kulturen als primitiv gelten. Statt zu hierarchisch-linearem Denken neigen diese Kulturen zu sphärischem Denken.

Dass eine Kultur, die ihr Seelenleben in nicht-hierarchischen Kreisen organisiert, dann auch zu anderen Staatsformen findet, zeigt die Geschichte der Irokesen-Konföderation. Dieses viele Jahrhunderte währende Staatengebilde mit ausgefeilter Gewaltenteilung, vollständiger Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern und einem komplexen Gesetzgebungsverfahren inspirierte zahlreiche Gründer der USA. Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und Thomas Paine bewunderten in ihren Briefwechseln immer wieder die elegante Einfachheit dieses indianischen Regierungssystems, das ihnen demokratischer und effizienter erschien als alle bekannten Staatsformen des alten Kontinents.

Gelähmte Entscheider


Wer nun diesem Exkurs in andere Kulturen nur esoterischen Wert beimisst, sollte beispielsweise einmal das unterschiedliche unternehmerische Verhalten europäischer und amerikanischer Medienmanager vergleichen.

Die Geschäftsführer traditioneller Medienhäuser in den USA wie auch in Europa stehen bekanntlich vor einem Dilemma: In den 1990er Jahren hat die Digitalisierung der Medienproduktion den kostengünstigen Betrieb von immer mehr Kanälen und immer mehr Print-Titeln ermöglicht. Jetzt steht eine noch tiefgreifendere Umwandlung ins Haus. Nach der Produktion wird nun auch die Distribution von Medieninhalten zunehmend digitalisiert und ermöglicht beispielsweise in der TV-Branche eine solch komplexe Vielzahl neuer Übertragungswege, Abspielgeräte und damit auch wieder neuer Programmformen, dass selbst Branchenexperten den Überblick verlieren.

Amerikaner und Europäer scheinen mit dieser beängstigenden Unübersichtlichkeit verschieden umzugehen. Europäische Medienmanager tendieren dazu, die Welt neuer Ideen als Pyramide zu visualisieren. Sie gehen selbstverständlich davon aus, dass es auch in Zukunft wieder ein Königsmedium wie einst das Fernsehen und eine Königsdisziplin der Übertragungstechnologien geben wird. Den gegenwärtigen Umbruch erleben sie nur als Chaos-Phase zwischen dem Einsturz einer alten und dem Entstehen einer neuen Pyramide.

Die bevorzugte Taktik der Europäer ist es deshalb, abzuwarten. Je länger sie ihre entscheidenden Investitionen in neue Infrastrukturen und Geschäftsideen hinauszögern, so die Annahme, um so größer ist ihre Chance, den zukünftigen „König“ zu erkennen und auf das richtige Pferd zu setzen.

Die Amerikaner hingegen scheinen sich leichter mit der Vorstellung anzufreunden, dass die Zeit der Pyramiden vielleicht ganz zu Ende gehen könnte und einem Medien-Ökoystem Platz machen wird, in dem die provisorische Vielfalt zum Dauerzustand wird. Sie investieren häufiger und experimentieren mehr. Sie akzeptieren geringere Gewinnspannen und machen dadurch paradoxerweise größere Profite. Während die Europäer erst einmal abwarten wollen, ob eine Idee es an die Spitze einer Pyramide schafft, steigen die Amerikaner früher ein und haben damit die Marktführerschaft in fast allen digitalen Medienindustrien erworben. Der zentrale Unterschied ist dabei gar nicht die vielbeschworene Risikobereitschaft amerikanischer Unternehmer, sondern die wachsende Unfähigkeit unserer immer noch vom Feudalismus geprägten vertikalen Weltsicht, zunächst Einfachheit und daraus dann entsprechende Strategien zu erzeugen.

Hierarchien und Rangordnungen werden nie verzichtbar sein. Sie bieten uns aber nur noch dann Orientierung, wenn sie ein Ordnungsprinzip von vielen sind und parallel zu sphärischen und horizontalen Ordnungen existieren. Unser heutiges Gefühl von Stress und Überforderung durch die Komplexität der Welt und neuer Technologien entsteht vor allem durch den unreflektierten Zwang, Prioritäten und Rangordnungen etablieren zu wollen, wo dies gar nicht mehr möglich ist. Wir wissen heute zuviel, um in dieser veralteten Denkart noch Einfachheit finden zu können.

Was wir nun erleben, ist der langatmige Niedergang des feudalistischen Zeitalters. Seine politischen Institutionen sind zum Teil schon seit Jahrhunderten erloschen, seine verinnerlichten Denkmuster stehen uns noch heute im Weg. Der Wissensanstieg über das Internet hat diesen Prozess nicht ausgelöst, sondern nur beschleunigt. Ein Ergebnis davon ist unsere wachsende Sehnsucht nach Einfachheit.