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Ars Electronica 2006
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Festival 1979-2007
 

 

Going to the Country




Eine Landpartie auf der Suche nach Simplicity, eine Exkursion, die das Festivalgeschehen für einen Tag vom Weg abbringen und in andere Umlaufbahnen des Themas lenken soll


Der Trend zu „Simplicity“ spiegelt sich nicht nur in Informationstechnologie und Design, sondern auch in einer immer stärkeren Sehnsucht nach Ruhepolen und einer oft klischeehaften Vorstellung vom einfachen Leben wider. Zurück zur Natur, neue Spiritualität, Schlagwörter wie „Cocooning“ oder „neues Biedermeier“ sind Beispiele dieser Suche nach Rückzugsräumen. Um diesen Aspekten von Einfachheit – aber auch ihren Widersprüchen – nachzugehen, verlagert Ars Electronica für einen Tag das Festivalgeschehen in das Barockstift St. Florian bei Linz.

Die Wahl des Ortes nimmt Bezug auf das Barock als Metapher für das Wechselverhältnis von Einfachheit und Komplexität. Einfachheit als Ausdruck für die unterschiedlich, von Spiritualität bis zum Design konnotierte „Konzentration auf das Wesentliche“ ebenso wie das darin genauso angesprochene Bemühen, das „Wesen“ der Dinge zu erkennen, es zu ordnen und ihm – wie J. S. Bach es in der Musik getan hat – algorithmisch Gestalt zu geben. Einfachheit als eine der zwei Seiten einer Medaille.

Das Augustiner Chorherrenstift St. Florian ist in seiner barocken Pracht und als religiös geistliches Zentrum seit dem 4. Jahrhundert Schauplatz und Ressource der Erfahrung. Das Kloster ist Verstärker und Katalysator für die (komplexe) Beziehung zwischen Einfachheit, vermeintlicher Einfalt („simplicare“) und der Entfaltung seiner eigentlich vielgestaltigen Aspekte. Ein sehr dichtes Programmangebot fordert ständig nach Entscheidung der eigenen Konzentration, erlaubt aber auch ein freies Wandern zwischen den parallel laufenden Programmsträngen. Ziel ist es, die Bedeutungsmuster des thematischen Gegensatzpaares kaleidoskopisch aufzusplitten und in Bewegung zu halten. Durch programmatische Verknüpfungen, Verweise, Parallelführungen, Gegenüberstellungen, konkrete und assoziative Bezugnahmen – in Form von musikalischen und performativen Ereignissen, in denen die einzigartige Orgel der Stiftskirche auf zeitgenössische Electronic-Sounds trifft; in Form von Vorträgen, Workshops, Installationen, Projektionen, Lesungen, von Exkursionen durch die historischen und spirituellen Ebenen des Stifts und der Orgelbauerwerkstatt bis zur Unterweisung in der Kunst des Origami.

Musik und Klang


Die Musikschiene wird von der grandiosen Stiftsorgel, der „Bruckner-Orgel“, dominiert. Das klangmächtige Instrument mit seinen 7386 Pfeifen ist Ausgangspunkt der musikalischen Reise und selbst eindrucksvolles Symbol für das Festivalthema. Ein Instrument, dessen Klangerzeugung auf einfachste Form durch einen an einer scharfen Kante in Schwingung versetzten Luftstrom erfolgt und das in seiner Komplexität zur „Königin der Instrumente“ avancierte, das modulare Bauprinzip der moderner Synthesizer vorwegnehmend. In Zusammenarbeit mit dem Stiftsorganisten Robert Kovács haben Mike Harding und Charles Matthews, zwei Schlüsselfiguren des Spire-Kollektivs, eine Klangreise entworfen, die an den Wurzeln der Orgelmusik beginnt (Robertsbridge Codex von 1335) und in den digitalen Loops und Klangtransformationen von Christian Fennesz endet.

Dazwischen gibt es Klanginstallationen wie z. B. von Leif Inge aus Norwegen, der mit Granularsynthese J. S. Bachs berühmter Toccata und Fuge in d-Moll auf über 200 Minuten gestreckt hat.



Der Marmorsaal mit seiner machtvollen Akustik ist auch der Schau- und Hörplatz für Scapha, eine Klangskulptur von Hilke Fährmann und Jürgen Schneider. Auf diesem zehn Meter langen Instrument werden durch 14 Saiten ebenso archaisch wie orchestral anmutendend Klangschichtungen erzeugt, die sich in den Resonanzen und Hallzeiten des Marmorsaals entfalten.

Den harmonischen Resonanzraum des 15 Meter hohen Marmorsaals nutzt auch der Wiener Digital-Komponist Rupert Huber für seine Klavierimprovisationen.
Danach führt eine musikalische Zeitreise in die Gruft der Stiftsbasilika und in die gregorianische Vokalkunst der Wiener Choralschola unter Robert Kovács.

Der Minimalismus der gregorianischen Choräle setzt sich in Dialog mit der Soundpoetry, die Charles Amirkhanian für die Klanginstallationen in den langen Wandelgängen des Klosters ausgewählt hat.

Zu den Besonderheiten des Stiftes zählen die Chorglocken, acht exakt in der C-Dur-Tonleiter gestimmte Glocken, die den Abend dieses Festivaltages nach einer Komposition von Michael Nyman einläuten werden, bevor es zurück in die Stiftsbasilika zum großen Spire-Konzert (Orgel & Electronic) geht, das die in Summe zehnstündige Musik- und Klangreise abschließt.


Theorie und Diskurs


Den verschiedenen Aspekten des Festivalthemas entsprechend, sind die diskursiven Programmteile verteilt. Lecture-Presentations, Gesprächsrunden und Demonstrationen finden zum Teil gleichzeitig in verschiedenen Räumlichkeiten statt. Man muss sich entscheiden.

Die Gesprächsrunden


John Maeda & Friends (Olga Goriunova, Jason Kottke, Burak Arikan)
Wie eine neue Designergeneration die wachsende Komplexität
unserer Welt bewältigt.

Wolfgang Blau (Journalist), Oliviero Toscani (Künstler) und
Donatella della Ratta (Medienforscherin)
Wie der massenmediale Druck zur Vereinfachung der
Botschaften Politik und Demokratie ruiniert.

Thomas Macho (Kulturtheoretiker), Peter Wippermann (Trendforscher) und ein Vertreter der Augustiner Chorherren
Wie sich der Wunsch nach Entschleunigung und Vereinfachung in Wirtschaft,
Kultur und Religion widerspiegelt.

Bill Buxton (Microsoft Research), Bernd Wiemann (Vodaphone Research),
Marko Ahtisaari (Nokia Design Strategy)
Wie Softwareentwickler, Hardwareproduzent und Serviceprovider versuchen,
User-orientierte Technologien zu schaffen.

Lecture Performances


Tmema feat. Erkki Huhtamo
In dieser Lecture-Performance treffen interaktive Visual-Sound-Performances auf Medienarchäologie und schlagen eine künstlerische Brücke zu den Vorträgen der Interface-Designer.

A Journey into Sound Poetry
Charles Amirkhanian führt sein Publikum durch mehr als 50 Jahre künstlerischer Arbeit mit Stimme und Sprache als klangliches und musikalisches Material
und stellt die Werke vor, die er für die Klanginstallation in den Wandelgängen
ausgewählt hat.

Inside – Toshio Iwai
Eine der interessantesten Persönlichkeiten der interaktiven Medienkunst
ist der Japaner Toshio Iwai (Featured Artist der diesjährigen Ars Electronica). Sein Werdegang, seine Philosophie und seine Werke stehen im Mittelpunkt
seiner zweistündigen Präsentation –
Live-Performances inklusive.

SemaSpace – Gerhard Dirmoser
Der Systemanalytiker und rastlose Produzent riesiger semantischer Netzwerke zu Themen der Medienkunst realisiert eine Archivinstallation in der Stiftsbibliothek und erläutert die Analyse und
Darstellungsprinzipien seiner
Arbeiten.

Lesungen


Kein komprimierter Kurzvortrag, kein Abstract oder Executive Summary, sondern der Text, so wie er geschrieben wurde: Wort für Wort. In der eindrucksvollen barocken Stiftsbibliothek können Sie den ganzen Tag zuhören. Texte von Paul Virilio und Augustinus sowie die Premiere des neuen Buches von John Maeda über die Gesetze der Simplicity.

Ästhetik der Komplexität


Wandert man durch die in der Barockzeit angelegte Mineralien-, Fossilien- und Gemäldesammlungen, so wird der menschheitsalte Drang, die Dinge und die Erkenntnisse über die Dinge zu ordnen, um durch diese Ordnung zu neuer Erkenntnis zu gelangen, als eine Strategie von Simplicity erfahrbar, als eine Art kognitiver Ergonomie, wie sie in der Mathematik oder theoretischen Physik ihr ästhetisches Ideal im Begriff der Symmetrie hat – die Welt ist am wahrscheinlichsten so, wie ihre Theorie konsistent ist.

In das Jahrhunderte alte Umfeld implantieren wir die Medien unserer Zeit: semantische Netzwerkvisualisierungen, generative Computergrafiken und digitale Klangwelten. Eine Korrespondenz, deren vermeintliche Gegenstücke auf das Gemeinsame verweisen.
Soundpoetry in den Wandelgängen, Klanginstallation von Rupert Huber im Prälatengarten,
digitale Daten- und Netzwerkvisualisierungen von Nomadix, Ben Fry, Lia u. a. in der Barockgalerie.

Contemplation


Meditation in der Stille der Krypta; Gartengespräche mit den Chorherren des Stifts St. Florian.

Workshops und Übungen


Origami, Arduino – Open Hardware, Bogenschießen, Orgelbauwerkstätte sowie Führungen durch die Stiftsanlage (Krypta, Gruft, Bibliothek, Kaiserzimmer, Orgel, Chorglocken).

Der Ort, das Augustiner Chorherrenstift Sankt Florian


Über dem Grab des Märtyrers Florian (gestorben 304) entstand aus einer Wallfahrtsstätte allmählich eine klosterähnliche Niederlassung. Die Mauerreste unter der Stiftsbasilika weisen bis ins 4. Jahrhundert zurück. Das im 8. Jahrhundert erstmals schriftlich erwähnte Kloster erlitt bei den Einfällen der Awaren und Ungarn schwere Schäden. 1071 reformierte Bischof Altmann von Passau das Klosterleben und restaurierte Kirche und Klostergebäude. Unter Propst David Fuhrmann (1667 – 1689) kommt es zu einem Neubau des gesamten Stiftes. 1751 findet das ehrgeizige Projekt nach 66-jähriger Bauzeit sein Ende.

Das Stift St. Florian zählt zu den eindrucksvollsten Barockanlagen Österreichs. Es präsentiert sich als in sich geschlossenes, harmonisches Barockensemble, in dem zugleich jeder Baumeister seine ganz persönlichen Akzente setzte.

Die Stiftsbibliothek

Die Stiftsbibliothek St. Florian zählt zu den ältesten und eindrucksvollsten Klosterbibliotheken Österreichs. Bei einem Gesamtbestand von etwa 150.000 Bänden besitzt die Stiftsbibliothek St. Florian 108.000 Bände (60.000 Titel) aus der Zeit vor 1900. Davon sind 952 Titel (1,6 Prozent) Inkunabeln, 35.443 Titel (59,2 Prozent) entfallen auf das 16. bis 18. Jahrhundert und 23.493 (39,2 Prozent) auf das 19. Jahrhundert. Den wertvollsten Schatz stellen die rund 800 mittelalterlichen Handschriften dar. 1930 erwarb die Stiftsbibliothek den Nachlass des Wiener Orientalisten Rudolf Geyer (1861 – 1929). Diese Büchersammlung galt noch 20 Jahre später als größte Sammlung
arabischer Literatur zwischen Rom und Berlin. Etwa ein Drittel der Bücher Geyers ist bislang katalogisiert.

Die Bruckner-Orgel

Das Instrument wurde von dem slowenischen Orgelbauer Franz Xaver Krismann (1726 – 1795) unter Propst Matthäus Gogl zwischen 1770 und 1774 erbaut; mit 74 Stimmen (teilweise mehrfach besetzte Züge), verteilt auf drei Manuale, entstand ein für die damalige Zeit monumentales Werk. Bis 1886 war sie die größte Orgel der Donaumonarchie. Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Orgel oftmals umgebaut und erweitert.

Nach den Restaurierungsarbeiten der OÖ. Orgelbauanstalt Kögler/1994 – 1996) erhielt das Instrument eine elektrische Traktur und einen komplett neuen Spieltisch mit elektronischer Setzeranlage (4 x 640 Kombinationen, Diskettenspeicherwerk und automatische Abspielanlage per Magnetband). Die heutige Orgel besitzt 7386 Pfeifen, die sich auf Positiv, Hauptwerk, Oberwerk, Labialwerk (schwellbar), Trompetenwerk, Regalwerk und Pedalwerk verteilen, die Registerzahl beläuft sich auf 103.

Das Chor- bzw. Zimbelgeläute aus dem Jahr 2000

Eine Besonderheit der Stiftsbasilika ist das Chorgeläute aus dem Jahr 2000. Die schwerrippigen Glocken erklingen in unerwarteter Klangfülle und Wärme. Die Zimbeln umfassen alle acht Töne der C-Dur-Tonleiter. Durch die präzise Schlagtonlinie und die genauen Innenharmonien sind eine Unzahl von Kombinationen möglich.

Programm: Gerfried Stocker, Martin Honzik
Spire: Mike Harding, Charles Matthews, Christian Fennesz, Philip Jeck
Stift St. Florian: Prälat Johannes Holzinger, Stiftsdechant Ferdinand Reisinger, Stiftspfarrer Harald R. Ehrl, Werner Grad, Klaus Sonnleitner, Karl Rehberger, Gernot Grammer, Gerald Eichinger, Stiftsorganist Robert Kovács