Alle Sinne stimulieren
'Toshio Iwai
Toshio Iwai
Unsere Zeit strotzt vor Laufbildern. Warum aber finden wir dann so einfache Dinge wie Daumenkinos und Phenakistikope so faszinierend? Diese Frage war das Erste, was mich an interaktiven Medien interessierte. Vermutlich faszinieren mich diese Dinge deshalb, weil sie einem die Mechanismen des Körpers vor Augen führen. Beim Durchblättern eines Daumenkinos unter bewusster Verwendung der Finger erfährt jede Körperfunktion ihre Bestätigung. Das ist ein vollkommen anderes Erlebnis, als wenn man etwas unbewusst und passiv wahrnimmt. Nehmen wir die Augen. Wenn man etwas nur sieht, sind damit andere Gefühle verbunden, als wenn man es betrachtet und versteht, wie der Mechanismus funktioniert. Dinge mit eigenen Händen zu manipulieren und bewusst etwas Wirkliches – kein künstliches Bild – zu betrachten, ist ungeheuer wichtig. Etwas Wirkliches zu betrachten hat nichts mit Bildfrequenz oder Bildauflösung zu tun. Je länger man es betrachtet, umso mehr sieht man und umso besser wird die Auflösung. Ähnlich lässt sich auch die Zeit in Mikrosekunden oder noch kleinere Einheiten zerlegen. Wir begreifen das ganz natürlich mit unserem Körper. Und deshalb glaube ich, dass es etwas ganz anderes ist, ein künstliches Bild zu betrachten, als etwas Wirkliches, das sich tatsächlich bewegt. Bildfrequenz und Bildformat sind seit der Erfindung von Film und Video zu einem Allgemeingut geworden, das niemand hinterfrägt und an das sich jeder hält. Denkt man aber einmal darüber nach, so wird schnell klar, dass diese Formate von Leuten festgelegt wurden, die nichts mit der Arbeit der Kreativen zu tun haben. Die Gründe für diese Standardformate sind vielmehr kommerzieller und praktischer Natur. Mal ehrlich, empfände man es nicht als überaus restriktiv, wenn sich beim Zeichnen und Malen alle an dasselbe Bildformat halten müssten? Das Faszinierende an Gemälden und Skulpturen ist ihre ungeheure Vielfalt. Darum ist es so wichtig, die Standards zu durchbrechen und sich genau zu überlegen, was man wirklich machen und sehen möchte. Mit meinem kleinen Beitrag zur Schaffung von Arbeiten, die nicht den gängigen Formaten der Bildapparaturen entsprechen, bringe ich meine Zweifel und den Wunsch zum Ausdruck, die Dinge von einem Standpunkt jenseits der existierenden Standards zu betrachten.
Ich will Bilder nicht als eine Welt für sich, sondern als Teil unserer Umwelt sehen. Vielleicht habe ich diese Einstellung auch aufgrund von Daumenkinos gewonnen. Sie machen viel mehr Freude, wenn man die Seiten eigenhändig durchblättert, als wenn man nur zuschaut, wie es jemand anderer tut. Wurde einer meiner Animationsfilme vorgeführt, so hatte ich das Gefühl, dass der Projektor alles für mich machte. Obwohl ich an den Filmen tagelang gearbeitet, jeden Kader einzeln gezeichnet und fotografiert hatte, erschienen sie mir fern. Irgendetwas fehlte. Daumenkinos hingegen sind mir nah. Ich habe das Gefühl, immer am selben Ort zu sein wie die Sache, an der ich arbeite. Dieses Gefühl brachte mich auf die Ideen für meine späteren interaktiven Arbeiten.
Mein Ziel ist es letztlich, ehrlich zu meinem Körper zu sein. Ich möchte mit allen meinen Sinnen etwas wahrnehmen und erfahren, das ich noch nie wahrgenommen und erfahren habe. Und es ist eine Herausforderung für mich, so etwas zu schaffen. Dinge, die Sinne stimulieren, die ich normalerweise nicht verwende, finde ich auch ohne jeden Grund interessant. Ich versuche, etwas zu machen, das die Schalter von Sinnen betätigt, die noch nie betätigt wurden. Ich besitze viele solcher Schalter, derer ich mir gar nicht bewusst bin, und wenn ich an etwas Neuem arbeite, suche ich nach ihnen und lege sie nach und nach um. Ich versuche herauszufinden, was für faszinierende Dinge ich machen kann, wenn ich alle Sinne meines Körpers benutze. Immer wenn ich etwas intuitiv interessant finde, versuche ich jeden dieser Sinne anzusprechen. Ich versuche, meinen Sehsinn mit meinem Hörsinn zu verbinden, und diese wiederum mit den Bewegungen meines Körpers und meiner Hände.
Auch ist mir die sicht- und hörbare Welt immer nur als ein Stück einer dünnen Schicht des Universums erschienen. Es gibt hohe und tiefe Frequenzen, die für das menschliche Ohr unhörbar sind. Und auch das Auge kann nur ein begrenztes Lichtspektrum wahrnehmen. Im Gegensatz zu anderen Tierarten sehen wir bekanntlich keine Infrarot- und Ultraviolettstrahlen. Außerirdische, wenn es sie gibt, sehen die Welt vermutlich auf andere Weise. Menschen können auch nicht im Wasser leben. Unser Lebensraum ist eine überaus dünne Luftschicht. Von einem kosmischen Standpunkt aus betrachtet, besteht die Welt, die wir wahrzunehmen vermögen, aus einer sehr begrenzten Palette an Reizen. Ich frage mich, wie es wohl wäre, wenn wir jeden bei einem Handy ankommenden Ton und jede von einem Fernseher oder Radio empfangene elektrische Welle hören könnten.
Schönheit in den Dingen der Natur zu entdecken oder das Faszinierende und Schöne einer Sache durch Kunstwerke zu vermitteln, ist etwas, was Künstler seit jeher gemacht haben. Ich gehe diesen Weg weiter, wenn auch mit anderen Medien. Im 20. Jahrhundert interessierte man sich allgemein dafür, die Dinge optisch oder akustisch zum Ausdruck zu bringen. Ich möchte darüber hinausgehen und Werke schaffen, die alle Sinne stimulieren.
Aus dem Englischen von Wilfried Prantner
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