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Morphovision – Verzerrtes Haus


'Toshio Iwai Toshio Iwai / ' NHK Science & Technical Research Laboratories NHK Science & Technical Research Laboratories

Morphovision erzeugt optische Illusionen, indem schnell rotierende Objekte mit einem speziellen Licht beschienen werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Festkörper zerfließen oder gar auseinanderfallen. Bei Morphovision dreht sich ein Miniaturhaus und kann über ein Tastenfeld mit verschiedenen Lichtmustern beleuchtet werden. Die Art der Verzerrung hängt vom gewählten Lichtmuster ab. So entsteht bei einer Beleuchtung z. B. der Eindruck, das Häuschen wäre ganz windschief, so wie in manchen Zeichentrickfilmen. Dieser und andere Effekte werden erzielt, indem das Objekt synchron zur Rotation von einem Lichtstrahl abgetastet und das Lichtmuster in Echtzeit verändert wird. Anders als bei der künstlichen Erzeugung von 3D-Objekten in der Computergrafik, verzerrt Morphovision reale Objekte. Die Betrachter werden angeregt, sich über das Wesen von Bildern und was es bedeutet, die Welt mit eigenen Augen zu „sehen“, Gedanken zu machen.

Another Time, Another Space, eine Installation, die ich 1993 schuf, verwendet Videokameras, -monitore und Computer. Das System speichert Videoaufnahmen temporär am Computer und kombiniert Videokader oder zeichnet diese auf, um auf den Videomonitoren Zeit- und Raumillusionen in Echtzeit zu erzeugen. Betrachter haben das seltsame Gefühl, als würde sich der eigene Körper außerhalb von Raum und Zeit befinden.

Nach diesem Projekt versuchte ich auszuloten, ob eine Verzerrung des echten Raumes auch mit Festkörpern statt Bildern möglich wäre. Auf diese Idee brachte mich eine Installation, die ich bereits 1988 geschaffen hatte: 3 Dimensional Zoetrope. Das Zoetrop, ein Vorläufer des (Zeichentrick-)Films, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Bei diesem Projekt befestigte ich in der Trommel des Zoetrops Puppen aus Papiermaché statt Papierstreifen mit Bildern, sodass der Eindruck entstand, dass die Puppen zum Leben erwachten. Damals machte ich auch eine seltsame Beobachtung: Wenn man durch die seitlichen Sehschlitze der Trommel spähte, wirkten die Puppen vorne fett und die hinten dünn. Der Raum im Inneren der Trommel schien verzerrt – eine Tatsache, die ich sehr faszinierend fand. Einige Jahre später, nachdem ich bereits Another Time,
Another Space
geschaffen hatten, fiel mir mein 3 Dimensional Zoetrope wieder ein, und ich begann zu überlegen, ob ich Raum auf eine ähnliche Weise verzerren könnte. Ich führte einige Experimente durch. Zuerst befestigte ich in einer rotierenden Trommel mit einem spiralförmigen Sehschlitz einen Stab, den ich manuell bewegte. Der Stab schien seine feste Form zu verlieren. Dann beschloss ich, ein rotierendes Objekt zu beleuchten, indem ich das Objekt in einer Dunkelkammer durch eine Scheibe mit einem Schlitz mit Licht aus einer Lichtquelle bestrahlte. Ich machte die Beobachtung, dass das Objekt verzerrt erschien, ähnlich wie ein Dokument, das aus Unachtsamkeit während des Scannens in einem Kopiergerät bewegt wird. Auf Grundlage dieses Phänomens entstand Morphovision als Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit NHK Science & Technical Research Laboratories. In der aktuellen Version wird das Modellhaus permanent gescannt, indem ein rotierender Polygonspiegel die schlitzförmigen, vom Computer generierten Projektionsbilder reflektiert. Synchronisiert man den Scanvorgang mit der Rotation des Hauses, so kann man die Form des Hauses in 3D verzerren; ändert man das Muster des projizierten schlitzförmigen Lichtstrahls, kann die Form des Hauses unterschiedlich verändert werden.

Während der Entwicklung von Morphovision erfuhr ich, dass Joseph Plateau, der Erfinder des Phenakistiskops – des weltweit ersten Geräts zur Projektion bewegter Bilder – bereits 1829 das Anorthoskop entwickelt hatte. Dieses einzigartige Gerät ermöglicht es, ein verzerrtes Bild durch rotierende Schlitze in seiner ursprünglichen Form zu betrachten. Während das Phenakistiskop zur Entwicklung des Zoetrops und anderer Geräte zur Darstellung von Bewegungsabläufen aus Einzelbildern führte und mit der Erfindung des bewegten Bilds und der Geburtsstunde der heutigen Filmkultur in Verbindung gebracht werden kann, verschwand das Anorthoskop von der Bildfläche. Nach einer Pause von etwa 180 Jahren erwacht das Anorthoskop nun allerdings in Morphovision wieder zum Leben. Ich bin der Ansicht, dass Bildbearbeitungssysteme wie Morphovision, die mit realen Objekten arbeiten, sich eines Tages zu neuen 3D-Bildbearbeitungsgeräten entwickeln und neue Möglichkeiten der plastischen Gestaltung eröffnen werden.

Aus dem Englischen von Sonja Pöllabauer