When Cybernetics meets Aesthetics
'Dieter Daniels
Dieter Daniels
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'Claus Pias
Claus Pias
„Studiert die Kybernetik!“ Mit diesem Appell hob 1977 eine Einführung in die Kybernetik für junge Leser an.(1) Es sollte einer der letzten emphatischen Aufrufe bleiben, denn Mitte der 1970er Jahre war die erste Begeisterungswelle der Kybernetik zum Erliegen gekommen. Was sich jedoch in den davor liegenden gut 25 Jahren ereignet hatte, ist der vielleicht bedeutsamste Umbruch in der Wissensgeschichte des 20. Jahrhunderts. Im Zusammenwirken von Neurologie, Rechnerbau und Informationstheorie hatte die Kybernetik es unternommen, eine universale Theorie der Regulation, Steuerung und Kontrolle zu entwickeln, die für Lebewesen ebenso wie für Maschinen, für ökonomische ebenso wie für psychische Prozesse, für soziologische ebenso wie für ästhetische Phänomene zu gelten beansprucht. Aus einem allgemeinen Modell logischer Maschinen (Warren McCulloch), einem nicht-deterministischen Konzept von Rückkopplung (Norbert Wiener) und einer stochastischen Theorie des Symbolischen (Claude Shannon) war eine philosophische Herausforderung und zugleich eine technologische Utopie erwachsen. Martin Heidegger sollte angesichts der Kybernetik das Ende der Philosophie konstatieren. Für Arnold Gehlen bedeutete sie die Vollendung der Technik und damit die letzte Stufe der Menschheitsgeschichte. Und Pierre Bertaux zog gar die Konsequenz, dass nun ein „neuer Mensch“ entstehen müsse. So sehr jedoch viele der hoch fliegenden Spekulationen der 1950er und 1960er Jahre enttäuscht wurden, so sehr hat die Kybernetik zugleich jene epochale Veränderung herbeigeführt, die seit den späten 1960er Jahren als „Wissens-“ (Lane), „Informations-“ (Lyotard), „Kontroll-“ (Deleuze) oder „postindustrielle Gesellschaft“ (Bell) beschrieben wurde.
Eine These könnte daher lauten, dass jene „Sciencefiction“, die Kybernetik zu einem guten Teil immer auch war, mittlerweile unbemerkt in Erfüllung gegangen, aber eine übergreifende Theorie zu ihrem Selbstverständnis abhanden gekommen ist. Unsere Gegenwart ist von Informations-, Steuerungs- und Feedbackprozessen zwischen Menschen, Medien und Maschinen bestimmt, die als eine „zweite Natur“ die Sphären der Kultur und der Technik überbrücken. Der von der Kybernetik abgeleitete „Cyberspace“ der 1980/90er Jahre hat im Rückblick die kybernetischen Konzepte eher verunklärt oder sie auf technische Lösungen reduziert. Aus der Distanz eines halben Jahrhunderts jedoch wird nicht nur die Radikalität einer epistemischen Erschütterung in ihren historischen Bedingungen prägnanter, sondern wird derzeit auch jene Schwelle erreicht, an der sich üblicherweise der Sprung vom „kommunikativen“ ins „kollektive“ Gedächtnis ereignet. Es ist der Moment, das lange Zeit vergessene und missachtete utopische Potenzial der Kybernetik wiederzuentdecken und für eine Diagnose unserer Gegenwart fruchtbar zu machen.
Dazu gehört vor allem die Hoffnung, dass eine metadisziplinäre Analyse von Prozessen der Steuerung, Regelung und Rückkoppelung zu einer Überwindung des Bruchs zwischen den „zwei Kulturen“ von Technik und Naturwissenschaft einseits, Kunst und Geisteswissenschaft andererseits führen kann. Der Kunst kam bei diesem Überwindungsversuch immer schon eine exemplarische Rolle zu. Theoretiker wie Max Bense oder Abraham Moles forderten die Tieferlegung der Ästhetik auf eine mathematische und technologische Sprache, die sie mit den exakten Wissenschaften teilen sollte. Sie insistierten auf der strukturellen Gleichartigkeit technischer und ästhetischer Realitätssetzungen und forderten Künstler auf, sich der Neuen Technologien anzunehmen, damit die Kunst nicht „außerhalb der Zivilisation“ (Bense) gerate. Sucht man also nach den konzeptuellen Ursprüngen einer „Third Culture“ (Brockman), so wird man sie in der Kybernetik und insbesondere schon in ihren Gründungsakten, den Macy-Konferenzen, finden.(2)
Eine zweite These könnte daher lauten, dass die Geschichte der Kybernetik Aufschluss über die gegenwärtige Situation der Medienkunst gibt. Gleichwohl um 1968 die Traditionslinie der Informationsästhetik in Europa unterbrochen wurde und die kybernetischen Ansätze in den USA in die Counterculture einmündeten, sind die Anstrengungen zu einer Überwindung der „zwei Kulturen“ präsent und problematisch zugleich geblieben. Die technisch avancierte Medienkunst steht bis heute sowohl ideologisch wie faktisch zwischen den Kulturen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an ihrer Situation „zwischen den Stühlen“, da sie weder zur Musealisierung noch zur Implementierung in den technischen Alltag taugt. Die Medienkunst-Euphorie der 1990er ist deshalb einer zunehmenden Unklarheit ihrer Ab- oder Eingrenzung gewichen, da sie angesichts einer völlig mediatisierten Gesellschaft und Kultur ihre Spezifik und Legitimation verloren zu haben scheint. Doch gerade diese Situation macht eine Rückbesinnung auf die Einzigartigkeit von Medienkunst möglich: als privilegierter Ort, wo tatsächlich ein Dialog der „zwei Kulturen“ stattfindet.
Die Konferenz When Cybernetics meets Aesthetics bringt daher die Neubewertung der Kybernetik in den Dialog mit der notwendigen Neudefinition des Status von Medienkunst. Wie kann der Gegensatz der „zwei Kulturen“ in der künstlerisch-technischen Medienarbeit ein Konvergenz-Ziel finden? Lässt sich die heutige „Art of Complexity“ der Simulation von sozialen Netzwerken, natürlichen Regelsystemen oder ökonomischen Rückkoppelungsdynamiken als kybernetischer Prozess verstehen? Welche aktuellen Perspektiven eröffnet ein Rückblick auf die Theorie und Praxis kybernetischer Kunst der 1950/60er?
Die Referenten der Tagung sind Medien-, Kultur- und Kunstwissenschaftler, die zur Neubewertung der Kybernetik beitragen, sowie Zeitzeugen aus der Entstehungszeit kybernetischer Kunst. Das Themenfeld umfasst einen Rückblick auf zentrale Momente der kybernetischen Kunst der 1960er Jahre wie die 9 Evenings: Theater and Engineering von „Experiments in Art and Technology“ (1966) sowie die Ausstellung Cybernetic Serendipity (1968). Dabei wird auch die Frage der Dokumentierbarkeit solcher Kunst untersucht. Parallel dazu werden übergreifende theoretische Aspekte der Aktualität kybernetischen Denkens thematisiert und Querverweise auf das Leitmotiv des Symposiums der Ars Electronica zur Komplexitätstheorie gezogen.
Diese Themen sollen zugleich als Ausgangspunkt für die Positionierung des 2005 in Linz neu gegründeten Ludwig Boltzmann Instituts Medien.Kunst.Forschung. dienen, das sich aus einer übergeordneten wissenschaftlichen Perspektive mit den Grundlagen der Beschreibung und Dokumentation von Medienkunst und digitaler Kultur befasst.
(1) Viktor Pekelis, Kleine Enzyklopädie von der großen Kybernetik, Berlin (Ost) 1977, S. 10 (Erstausgabe Moskau 1973). zurück
(2) Cybernetics/Kybernetik. Die Macy-Konferenzen 1946–1953, 2 Bde., hrsg. v. C. Pias, Berlin / Zürich 2003/04. zurück
When Cybernetics meets Aesthetics A conference being held in conjunction with the 2006 Ars Electronica Festival
Organizer: Ludwig Boltzmann Institute Media.Art.Research, Linz, in cooperation with the University of Vienna, Department of Philosophy
Concept: Prof. Dr. Dieter Daniels (Ludwig Boltzmann Institute Media.Art.Research) in collaboration with Prof. Dr. Claus Pias (University of Vienna)
Participants: Cornelius Borck, Canada Research Chair in Philosophy and Language of Medicine, McGill University, Montreal Barbara Büscher, Professor of Media Dramaturgy, Leipzig University of Music and Theater Dieter Daniels, Professor of Art History and Media Theory and Director of the Ludwig Boltzmann Institute Media.Art.Research, Linz Claus Pias, Professor of Epistemology and Philosophy of Digital Media, University of Vienna, Department of Philosophy Jasia Reichardt, curator of the Cybernetic Serendipity exhibition in London Stefan Rieger, adjunct lecturer at the University of Cologne’s Department of German Language and Literature; currently recipient of a Heisenberg Grant from the DFG – German Research Foundation Margit Rosen, Cologne Academy of Media Arts and the Karlsruhe University of Design Edward A. Shanken, Professor of Art History, Savannah College of Art & Design
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