Die überbelichtete Stadt (1)
'Paul Virilio
Paul Virilio
Zu Beginn der 60er Jahre, mitten in der Revolte der schwarzen Ghettos, erklärte der Bürgermeister von Philadelphia:"Von nun an verlagern sich die Grenzen ins Innere der Städte." Dieser Satz brachte für die diskriminierten amerikanischen Bürger eine politische Realität zum Ausdruck, doch vor allem führte er eine viel weitere Perspektive ein, da ja die "Berliner Mauer" soeben, das heißt am 13. August 1961, im Zentrum der ehemaligen Reichshauptstadt errichtet worden war. Seither hat diese Behauptung nichts an Aktualität verloren: Belfast, Londonderry, wo einige Straßen noch vor wenigen Jahren mittels eines gelben Bandes die protestantische von der katholischen Seite abgrenzten, bevor die einen und die anderen wegzogen und ein abgeriegeltes Niemandsland zurückließen, das noch deutlich ihre Wohnbezirke schied. Schließlich Beirut mit seinen Ost- und Westvierteln, seinen inneren Grenzen, seinen verminten Korridoren und Straßen … In der Tat enthüllte der Satz des Verantwortlichen der großen amerikanischen Metropole ein allgemeines Phänomen, das gerade im Begriff war, die Hauptstädte wie die Provinzzentren zu erfassen, nämlich das Phänomen der erzwungenen Introversion, wo die Stadt die ersten Auswirkungen einer multinationalen Wirtschaft nach Art von industriellen Unternehmen zu spüren bekam, eine echte urbane Umstrukturierung, welche bald zur Entsiedlung bestimmter Arbeiterhochburgen wie Liverpool oder Sheffield in Großbritannien, Detroit oder Saint Louis in den USA oder auch Dortmund in der BRD beitragen mußte, und dies genau zu einem Zeitpunkt, wo andere Ballungszentren rund um einen gigantischen internationalen Flughafen einen METROPLEX entwickelten, einen metropolen Komplex, wie etwa Dallas/Fort Worth. Seit den 70er Jahren, zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, mußte der Bau dieser Flughäfen außerdem den Imperativen einer Verteidigungsstrategie gegen "Luftpiraterie" Genüge tun.
Die Anlage wurde nicht mehr nach Maßgabe traditioneller technischer Zwänge errichtet, sondern der Entwurf sollte künftig den Gefahren einer "terroristischen Verseuchung" Rechnung tragen und die Ausstattung der Orte ausgehend von einer Unterscheidung zwischen steriler Zone (Abflug) und nicht-steriler Zone (Ankunft) konzipiert werden. Alle Wege und Stationen der Lasten (Passagiere, Gepäck, Fracht … ) sowie die verschiedenen Transitbewegungen mußten einem System der Umleitung des (inneren/äußeren) Verkehrs unterworfen werden, und die architektonische Form der Anlage ergab sich von nun an weniger aus der Persönlichkeit des Architekten als aus den Vorsichtsmaßnahmen in Hinblick auf die öffentliche Sicherheit. Als letztes Tor des Staates wurde der Flughafen auf diese Weise zu dem, was einst das Fort, der Hafen oder der Bahnhof waren, also zum Ort einer Regulierung des Austauschs und der Kommunikation und daher auch zum Ort einer nachdrücklichen Erfahrung der Kontrolle und Überwachung für eine "Luft- und Grenzpolizei", deren antiterroristische Großtaten durch die Nachrichten gehen sollten, der Geiselnahme von Mogadischu und dem Einsatz des deutschen Grenzschutzes GSG9, mehrere tausend Kilometer von seinem eigentlichen Veranwortungsbereich entfernt … Von nun an ging es nicht länger darum, wie in der Vergangenheit, den "Seuchenträger" oder den Verdächtigen durch Einschließen zu isolieren, sondern vor allem darum, ihn auf seinem Weg abzufangen und einen Moment lang seine Kleidung bzw. sein Gepäck zu kontrollieren daher auch diese rasche Ausbreitung von Kameras, Radars und Detektoren in den Durchgangsbereichen, die man passieren muß. Erwähnen wir außerdem, daß die französischen Gefängnisse, die über "Hochsicherheitstrakte" verfügen, mit den gleichen magnetischen Sicherheitskontrollen ausgestattet wurden, die seit mehreren Jahren in den Flughäfen gebräuchlich waren. So diente paradoxerweise eine Ausstattung für einen Ort maximaler Bewegungsfreiheit als Modell für die Ausstattung von Gefängnissen. Schon war in zahlreichen amerikanischen Wohnvierteln der Polizeischutz nur mehr durch CCTV(2) gewährleistet, welches mit dem zentralen Posten der Stadt verbunden war. In den Banken, den Supermärkten sowie auf den Autobahnen, wo die Mautstellen das spiegelbildliche Gegenstück zum ehemaligen Stadttor abgaben, war der Transitionsritus nicht länger bloß eine Unterbrechung, er wurde wesenhaft.
In dieser horizontlosen Perspektive, wo der Zugang zur Stadt kein Tor, kein Triumphbogen mehr war, sondern ein System elektronischer Anhörung, war die Anwesenheit der Benutzer weniger mit der von Bewohnern, von privilegierten Ansässigen zu vergleichen, als mit der von Gesprächsteilnehmern in einer permanenten Transitsituation. Von nun an vollzog sich der Bruch der Kontinuität nicht mehr so sehr im Raum eines Katasters, der Grenze einer urbanen Parzelle, sondern in der Dauer eine "Dauer", in welche die fortschrittlichen Technologien sowie die sich neu entfaltende Industrie ständig eine Reihe von Unterbrechungen (Schließung von Betrieben, Arbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung … ) und sukzessiven oder simultanen Verschleierungen einbauten, welche das städtische Milieu in einem solchen Maße organisierten und desorganisierten, daß der Niedergang, die irreversible Abwertung der Orte hervorgerufen wurde, wie dies etwa in jenem großen Komplex in der Nähe von Lyon der Fall war, wo die "Rotationsrate" der Bewohner zu hoch geworden war (ein Jahr Seßhaftigkeit), was zum Ruin einer Siedlung führte, die dennoch alle übereinstimmend als befriedigend beurteilt hatten …
In der Tat hat der Begriff der Grenze seit den Einfriedungen der Urzeit Veränderungen erfahren, die zugleich die Fassade wie auch das Gegenüber betreffen. Vom Bretterzaun zum Bildschirm über den Steinwall der Festungsbauten hat die Oberfläche (surface) der Grenze ständig wahrnehmbare oder nicht wahrnehmbare Veränderungen verzeichnet, deren letzte wahrscheinlich die des Interface ist. Es empfiehlt sich daher, das Problem des Zutritts zur Stadt neu anzugehen: Besitzen die großstädtischen Ballungszentren noch eine Fassade? … In weichem Augenblick bietet uns die Stadt die Stirn? … Der umgangssprachliche französische Ausdruck "aller en ville" ("in die Stadt gehen"), welcher das "aller à la ville" des vergangenen Jahrhunderts abgelöst hat, drückt zumindest eine Unsicherheit, was das "Auge in Auge", das Visavis betrifft, aus (gerade so, als ob wir niemals mehr vor der Stadt, sondern immer schon drinnen wären). Wenn die Metropole noch einen Ort, eine geographische Position hat, wird diese nicht mehr mit der alten Kluft Stadt/Land verwechselt, und im übrigen auch nicht mit der Opposition Zentrum/Peripherie. Lokalisierung und Axiologie des städtischen Dispositivs haben seit langem schon ihre Eindeutigkeit verloren. Nicht nur die Vororte trugen zu der uns bekannten Auflösung bei, sondern der Gegensatz"intra-muros" und"extra-muros" selbst ist mit der Revolution des Transportwesens und der Entwicklung der Kommunikations- und Telekommunikationsmittel verschwunden, woher auch diese nebulose Konurbation der städtischen Randgebiete kommt. In der Tat wohnen wir einem paradoxen Phänomen bei: die Opazität der Baumaterialien löst sich in nichts auf. Die Trägerstrukturen, der "Mauervorhang", für den die Transparenz und Leichtigkeit bestimmter Materialien (Glas, verschiedene Kunststoffe) den Apparat aus Fassadensteinen ersetzen, treten hervor, und dies gerade zu einem Zeitpunkt, wo in den Entwürfen die Lichtpause, das Rhodoid und das Plexiglas das opake Trägermaterial Papier ablösen.
Andererseits erlangt mit dem Interface des Bildschirms (Computer, Fernseher, Telekonferenz … ) die Oberfläche der Einschreibung (also das, was bislang nicht opak war) eine Existenz als "Distanz", die Schärfentiefe einer neuen Repräsentation, einer Sichtbarkeit ohne Gegenüber, wo das ehemalige Visavis der Straßen und Avenuen verschwindet, sich auslöscht … Hier ist es die Differenz der Position, die verblaßt, und mit ihr all das, was sie am Ende an Fusion und Konfusion bedingt. Seiner objektiven Grenzen verlustig, beginnt das architektonische Element in einem elektronischen Äther ohne räumliche Dimensionen, einzig eingeschrieben in die Temporalität einer momentanen Diffusion, zu driften, zu flottieren. Von jetzt an kann sich keiner mehr durch ein physisches Hindernis oder durch zu lange "Zeitdistanzen" für getrennt betrachten; mit der Inter-Fassade der Monitore und Überwachungsbildschirme beginnt das anderswo hier, und umgekehrt. Diese plötzliche Umkehrung der Grenzen und Gegensätze führt dieses Mal im öffentlichen Raum das ein, was bislang auf dem Gebiet der Mikroskopie galt: das Volle existiert nicht mehr, an seiner Stelle breitet sich eine grenzenlose Weite in einer falschen Perspektive aus, die durch das leuchtende Emittieren der Apparate erhellt wird. Seitdem hat der bebaute Raum etwas von einer elektronischen Topologie an sich, wo die Eingrenzung des Blickpunkts und die Rasterung des digitalen Bildes die städtische Parzelle ersetzen. Auf die einstige Trennung von Privatem und Öffentlichem, von Wohn- und Verkehrsbereich folgt eine Überbelichtung, wo der Unterschied zwischen "nah" und "fern" auf dieselbe Weise aufhört, relevant zu sein, wie bei der elektronischen Abtastung durch die Mikroskope der Unterschied zwischen "mikro" und "makro" verschwindet.
Die Darstellung der zeitgenössischen Stadt wird daher nicht mehr durch das Zeremoniell des Öffnens der Tore, das Ritual der Prozessionen und Umzüge, die Abfolge von Straßen und Avenuen bestimmt; die städtische Architektur muß sich von nun an mit der Öffnung eines "technologischen Zeit-Raums" abfinden. Das Zugangsritual der Teleinformatik ersetzt nun das des Portals. Dem Trommelwirbel am Stadttor folgt der der Datenbanken, Transitionsriten einer technischen Kultur, die maskiert voranschreitet, maskiert durch die Immaterialität ihrer Komponenten, ihrer Netze, verschiedener Wege und Netze, deren Raster sich nicht länger in den Raum eines gebauten Gefüges einschreiben, sondern in die Sequenzen einer unmerklichen Zeitplanung, wo das Interface Mensch/Maschine die Fassaden der Gebäude, die Oberflächen der Ansiedlungen ersetzt …
Wenn das Öffnen der Stadttore einst mit dem Wechsel von Tag und Nacht verbunden war, dann muß man feststellen, daß sich der Tag verändert hat, seit man nicht mehr nur die Fensterläden öffnet, sondern auch den Fernseher einschaltet: dem Sonnentag der Astronomie, der zweifelhaften Helligkeit von Kerzenlicht, dem eiektrischen Licht fügt sich nun ein falscher, elektronischer Tag hinzu, dessen Kalender einzig von den "Kommutationen" der Informationen bestimmt wird, ohne jeglichen Bezug zur Realzeit. Auf die vergehende Zeit der Chronologie und der Geschichte folgt so eine Zeit, die sich augenblicklich exponiert. Auf dem Bildschirm des Terminals wird die Dauer wörtlich – oder eher kinematisch – zum "Oberflächenträgermaterial" der Einschreibung: die Zeit taucht an der Oberfläche auf. Dank des nicht wahrnehmbaren Materials der Kathodenröhre werden die Dimensionen des Raumes ununterscheidbar von ihrer Transmissionsgeschwindigkeit. Die Stadt, eine Einheit des Ortes ohne Einheit der Zeit, verschwindet nun in der Heterogenität des Zeitsystems der neuen Technologien. Die Form der Stadt kommt nicht mehr durch irgendeine Abgrenzung, eine Trennungslinie zwischen hier und dort zum Ausdruck, sie ist zur Programmgestalterin eines "Zeitplans" geworden. Ihr Tor bezeichnet weniger einen notwendigen Durchgangsort als ein audiovisuelles Ritual, wobei die Anhörung und der Zuhörerindex die Aufnahme des weltweiten Besucherstroms ersetzen. In dieser trügerischen Perspektive, wo das Bevölkern der Transport- und Transmissionszeit das Bevölkern des Raumes, der Wohngebiete verdrängt, tendiert die Trägheit dazu, die einstige Seßhaftigkeit, den Fortbestand urbaner Stätten zu ersetzen. Mit dem Mittel der augenblicklich wirksamen Kommunikation (Satellit, TV, Kabel, Teleinformatik …) verdrängt die Ankunft die Abreise: alles "passiert", ohne daß eine Ortsveränderung notwendig wäre. Wenn in der Tat das städtische Ballungszentrum noch gestern eine Bevölkerung "intra muros" einer Bevölkerung außerhalb der Stadtmauern entgegenstellte, so unterscheidet die Metropole ihre Einwohner heute nur mehr in der Zeit: die der langen historischen Dauer, die immer weniger mit dem Stadtzentrum, sondern nur mehr mit einigen Denkmälern identisch ist und die einer technischen Dauer, die kein gemeinsames Maß mit irgendeinem Arbeits-Zeitplan, irgendeinem kollektiven Gedächtnis hat, außer mit dem der Computer; eine Dauer, die dazu beiträgt, eine permanente Gegenwart einzuführen, deren Intensität ohne morgen die Rhythmen einer zunehmend schnellebigeren Gesellschaft zerstört. "Denkmal"? – nicht mehr so sehr die verzierte Säulenhalle, die großartige Allee mit prächtigen Bauten, sondern die Untätigkeit, das endlose Warten auf Dienstleistungen vor den Apparaten, Kommunikations- oder Telekommunikationsmaschinen, vor denen jeder unterdessen den Geschäftigen spielt … Warteschlangen an den Mautstellen der Autobahnen, Checkliste der Bordkommandanten, Nachttisch der Konsolen der Teleinformatik. Schließlich ist das Tor (porte) das, was wegbringt (emporte): Fahrzeuge, verschiedene Vektoren, deren Kontinuitätsbrüche weniger einen Raum als eine Art Konto gegen den Strich bilden, wo die Dringlichkeit der Arbeitszeit das Zentrum der Zeit darstellt und die freie Zeit der Ferien, der Arbeitslosigkeit das Zentrum einer Peripherie – einen Vorort der Zeit, ein Freilegen von Aktivitäten, wo jeder in ein Privatleben in allen Bedeutungen des Wortes (3) verbannt ist.
Wenn trotz der Versprechen der postmodernen Architekten die Stadt von nun an ohne Tore ist, so deshalb, weil die urbane Umgrenzung seit langem unendlich viele Öffnungen, Brüche in ihren Einfriedungsgrenzen hervorgebracht hat, die gewiß weniger offensichtlich als die der Antike, aber ebenso zweckdienlich, ebenso zwingend und trennend sind. Die Illusion der industriellen Revolution des Transportwesens hat uns über die Unbegrenztheit des Fortschritts getäuscht. Die industrielle Strukturierung der Zeit ersetzte ganz allmählich die Destrukturierung ländlicher Gebiete. Wenn im 19. Jahrhundert die Anziehung Stadt/Land den Agrarraum um seine (kulturelle/ soziale) Substanz gebracht hat, ist es im ausgehenden 20. Jahrhundert der städtische Raum, der seinerseits seine geopolitische Realität verliert, was ausschließlich diesen augenblicklich wirksamen Deportationssystemen zugute kommt, deren technologische Intensität unaufhörlich die sozialen Strukturen erschüttert: Deportation von Personen bei der Verlegung von Produktionsstätten, Deportation von Aufmerksamkeit, des menschlichen Auge-in-Auge, des städtischen Visavis in Richtung Interface Mensch/ Maschine. In der Tat ist all dies mit einer anderen Form der Konzentration, einer "post-urbanen" und transnationalen Konzentration verwandt, deren Vormarsch durch eine Reihe von Ereignissen der jüngsten Zeit angekündigt wird.
Trotz des konstanten Steigens der Energiekosten räumen die amerikanischen Mittelschichten die Ballungszentren im Osten des Landes. Nach der Abwertung der Stadtzentren, die zu Ghettos verkommen sind, verlieren nun die Städte als Zentren der Regionen an Wert.
Von Washington bis Chicago, von Boston bis Saint Louis in Missouri entvölkern sich die großen urbanen Zentren. Am Rande des Bankrotts verlor New York 10% seiner Bevölkerung. Detroit verzeichnete einen Verlust von mehr als 20% seiner Einwohner, Cleveland 23%, Saint Louis 27% … einige Viertel dieser Städte ähneln schon diesen Phantomstädten, die durch das amerikanische Kino unsterblich geworden sind. Als Vorzeichen einer drohenden "post-industriellen" Enturbanisierung müßte dieser Exodus alle entwickelten Länder erreichen. Vorhersehbar seit rund 40 Jahren, hat diese Deregulierung des städtischen Dispositivs ihren Ursprung in einer (ökonomischen, politischen) Illusion über den Fortbestand jener Anlagen, die in der Ära der (automobilen) Ausstattung der Zeit, in der Epoche der Entwicklung der (audiovisuellen) Techniken der Retina-Persistenz konstruiert wurden."Jede Oberfläche ist ein Interface zwischen zwei Medien, wo eine konstante Aktivität in Form eines Austauschs zwischen den beiden in Kontakt gebrachten Substanzen herrscht." Diese neue wissenschaftliche Definition des Begriffs der Oberfläche (surface) zeigt die sprachliche Kontamination, die gerade wirksam ist: die "Oberfläche der Grenze" wird zu einer osmotischen Membran, einem Löschblatt … selbst wenn diese zuletzt zitierte Etymologie strenger ist als die vorangegangenen, zeugt sie nicht weniger von einer Veränderung, die den Begriff der Begrenzung erfaßt. Die Begrenzung des Raumes wird austauschbar, die radikale Trennung, der erzwungene Durchgang, der Transit einer konstanten Aktivität, einer Aktivität des unaufhörlichen Austauschs, wechselt zwischen zwei Medien, zwei Substanzen. Was bislang die Grenze einer Materie, das "Terminal" eines Materials war, wird zu einem dissimulierten Zugangsweg zu der am wenigsten wahrnehmbaren Einheit. Künftig verbirgt das Äußere der Oberflächen eine geheime Transparenz, eine Dichte ohne Dichte, ein Volumen ohne Volumen, eine unmerkliche Quantität …
Wenn diese Situation der Realität der Fakten, die die Physik des unendlich Kleinen betreffen, entspricht, so erfaßt sie auch die Physik des unendlich Großen: wenn das, was für den Blick nichts war, zu "etwas" wird, dann verdunkelt umgekehrt die größte Distanz nicht länger die Wahrnehmung; die größte geophysische Ausdehnung zieht sich zusammen, konzentriert sich. Im Interface des Bildschirms ist alles bereits da, unmittelbar sichtbar in einer augenblicklich wirksamen Übertragung. Als beispielsweise Ted Turner 1980 in Atlanta beschließt, CNN auf den Markt zu bringen, einen Fernsehkanal, der 24 Stunden pro Tag die Ausstrahlung von Live-Nachrichten sichern sollte, verwandelt er die Wohnung seiner Zuseher in eine Art von "Regieplatz" der Weltereignisse.
Dank der Satelliten bringt das Kathodenfenster jedem von ihnen mit dem Anbruch eines neuen Tages die Gegenwart von Antipoden. Wenn der Raum das ist, was verhindert, daß alles am gleichen Ort ist, führt diese plötzliche Einengung alles, absolut alles, an diesen "Ort", an diese Stätte ohne Stätte zurück … die Entleerung des Raumes und der Zeitdistanzen setzt jeden Ort, jede Position in eins. Da man die Ereignisse live überträgt, werden die Orte nach Belieben austauschbar.
Die Augenblicklichkeit der Allgegenwart endet in der Atopie eines einzigen Interface. Nach den Raum- und Zeitdistanzen schafft die Distanzgeschwindigkeit den Begriff der physischen Dimension ab. Die Geschwindigkeit wird plötzlich wieder zu einer primitiven Größe, diesseits von jedem Maß der Zeit wie des Ortes. Diese Verarmung kommt faktisch einem Trägheitsmoment der Umgebung gleich. Das einstige Ballungszentrum verschwindet nun in der intensiven Beschleunigung der Telekommunikationen, um eine neue Form der Konzentration entstehen zu lassen: die Konzentration eines Ansässigwerdens ohne Zuhause, wo die Eigentumsgrenzen, die Einfriedungen und Abgrenzungen nicht mehr so sehr mit dem permanenten physischen Hindernis, sondern mit einer Sendeunterbrechung, einer elektronischen Schattenzone zusammenhängen, welche diejenige des Sonnenlichts ersetzt – ein Schatten, der von den Einrichtungsgegenständen verursacht wird … Eine merkwürdige Topologie verbirgt sich hier in der Evidenz der Fernsehbilder. Auf die Pläne des Architekten folgen die Plansequenzen (4) einer unsichtbaren Montage. Dort, wo die Gestaltung des geographischen Raumes, ausgehend von der Geometrie einer (ruralen oder urbanen) Grenzsteinsetzung vorgenommen wurde, geschieht die Gestaltung der Zeit nun ausgehend von einer unmerklichen Fragmentierung der technischen Dauer, wo der Schnitt, die plötzliche Unterbrechung an die Stelle der dauernden Verfinsterung treten, da das Programmraster (grille des programmes) auf die Gitter (grillages) der Zäune folgt, wie einst der Zugfahrplan auf die Ephemeriden, die Tabellen des täglichen Gestirnstandes folgte.
"Die Kamera ist zu unserem besten Aufseher geworden" erklärte John F. Kennedy, kurz bevor er in einer Straße von Dallas erschossen wurde … und tatsächlich gestattet uns die Kamera heute, live oder zeitverschoben, gewissen politischen Ereignissen, gewissen optischen Phänomenen beizuwohnen: sowohl Phänomenen der Effraktion, wo sich die Stadt völlig sehen läßt, als auch dem Phänomen der Diffraktion, wo ihr Bild jenseits der Atmosphäre zurückgeworfen wird bis zu den Grenzen des Raumes, und dies zu einem Zeitpunkt, wo das Endoskop und der Scanner die Grenzen des Lebens sichtbar machen. Diese Überbelichtung verdient insofern unsere Aufmerksamkeit, als sie das Bild einer Welt ohne Antipoden, ohne verborgene Seiten definiert, wo die Undurchsichtigkeit nur mehr ein momentanes "Zwischenspiel" ist. Merken wir jedoch an, daß die proxemische (5) Illusion kaum von Dauer ist. Dort, wo die Polis einst ein politisches Theater mit der Agora, dem Forum, einweihte, bleibt heute nur mehr ein elektronischer Bildschirm, auf dem sich Schatten – die Gespenster einer im Verschwinden begriffenen Gemeinschaft – hin und herbewegen, auf dem der Kinematismus das letzte Auftauchen eines Urbanismus propagiert, das letzte Bild eines Urbanismus ohne Urbanität, wo Takt und Kontakt dem Einfluß des Fernsehens weichen: nicht nur die "Telekonferenz", welche Besprechungen auf Distanz erlaubt, mit all dem Fortschritt, den das Fehlen einer Ortsveränderung bedingt, sondern auch die "Televerhandlung", die es umgekehrt gestattet, auf Distanz zu gehen, zu debattieren, ohne seine sozialen Partner an dem Ort zu treffen, und wo dennoch eine unmittelbare physische Nähe existiert; ein wenig erinnert das an diese Telefonfetischisten, für die der Hörer dem Spielraum der Sprache, der Anonymität einer ferngesteuerten Aggressivität förderlich ist.
Wo beginnt demnach die Stadt ohne Tor? Wahrscheinlich im Geist, in dieser vorübergehenden Unruhe, welche jene erfaßt, die von einem langen Urlaub zurückkommen und einen unerwünschten Brief, einen Einbruch, die Verwüstung ihres Eigentums fürchten. Vielleicht auch umgekehrt, in dem Wunsch, einen Augenblick lang dieser bedrückenden technischen Umgebung zu entfliehen, zu entkommen, um sich wieder ein wenig zu besinnen, zu sich zu kommen, sich zu erholen. Aber auch hier ist zwar die Flucht im Raum oft möglich, die kleine Flucht aus der Zeit allerdings wohl kaum. Außer wenn man die Entlassung als "Ausgangstür", als die Extremvariante des bezahlten Urlaubs betrachtet, ist die Flucht vorwärts in der Zeit eine illusorische Form "post-industriellen" Denkens, dessen Nachteile langsam spürbar werden. Schon die Theorie eines "Lohnes auf der Basis von geteilter Zeit" führt zu einer neuen Dimension des Gemeinwesens, indem sie jedem eine Alternative anbietet, bei der der Gebrauch der geteilten Zeit sehr wohl zu einer Neuverteilung des Gebrauchs des Raumes führen könnte, zur Herrschaft einer unendlichen Peripherie, wo das Homeland und die Siedlungskolonie die Industriestadt und ihre Vororte ersetzen würden. (Als Vergleich zu diesem Punkt bietet sich das COMMUNITY DEVELOPMENT PROJECT an, welches das Entstehen lokaler, auf den eigenen Kräften der Gemeinwesen basierender Entwicklungsprojekte fördert, die dazu bestimmt sind, die englischen INNER-CITIES aufzusaugen.)
Wo beginnt das Jenseits der Stadt? Wo entsteht das Tor ohne Stadt? Wahrscheinlich in den neuen amerikanischen Technologien der Destruktion, die in Sekundenschnelle Hochhäuser zur Explosion bringen, was gleichzeitig eine Politik der systematischen Zerstörung sozialer Wohnbauten ankündigt, von denen man meint, sie seien "dem neuen Lebensstil der Franzosen nicht angemessen", wie in Venssieux, La Courneuve oder Gagny … Eine unlängst von der "Gesellschaft für die Entwicklung der Kommunikation" durchgeführte Wirtschaftsstudie kommt zu folgenden Ergebnissen: "Die Zerstörung von 300.000 Wohnungen in 5 Jahren würde 10 Milliarden Francs pro Jahr kosten, aber sie würde auch 100.000 Arbeitsplätze schaffen. Hinzu kommt, daß am Ende der Operation Zerstörung/Wiederaufbau die Steuererträge um 6 bis 10 Milliarden höher wären als die Summe der investierten öffentlichen Gelder."
Hier drängt sich eine letzte Frage auf: Sollte in einer Zeit der schweren Krise die Zerstörung der Großstädte auf dem besten Weg dazu sein, die traditionelle Politik der öffentlichen Bautätigkeit abzulösen? Wenn dies der Fall wäre, könnte man die natürliche Unterscheidung zwischen (wirtschaftlicher, industrieller) Rezession und Krieg nicht länger aufrechterhalten.
Architektur oder Postarchitektur? Alles in allem scheint die Diskussion um die Moderne etwas von einem Derealisierungsphänomen an sich zu haben, das gleichzeitig die Disziplinen des Ausdrucks, die Darstellungs- und Informationsweisen betrifft. Der gegenwärtige MEDIEN-Streit, der sich hier und dort aus Anlaß bestimmter politischer Fakten und ihrer gesellschaftlichen Vermittlung verschärft, berührt auch das Ausdrucksmittel Architektur, das von der Gesamtheit der Kommunikationssysteme insofern nur undeutlich abgegrenzt werden kann, als es die ganze Zeit die direkten oder die indirekten Auswirkungen verschiedener "Kommunikationsmittel" (Auto, audiovisuelle Medien etc.) zu spüren bekommt. In der Tat gibt es – vergessen wir nicht – neben den Techniken der Konstruktion auch die Konstruktion der Techniken, die Gesamtheit der räumlichen und zeitlichen Veränderungen, welche mit dem Bereich des Alltagslebens ständig die ästhetischen Darstellungen unseres heutigen Lebensraumes neu organisiert. Als bebaut gilt der Raum daher nicht nur durch den materiellen und konkreten Effekt der Baustrukturen, die Permanenz der Elemente und die architektonischen oder urbanistischen Anhaltspunkte, sondern auch durch das plötzliche Wuchern, die unaufhörliche Vermehrung von Spezialeffekten, welche, wenn man sich der Zeit und der Distanz bewußt ist, die Wahrnehmung der Umgebung beeinflussen.
Diese technologische Deregulierung verschiedener Bereiche ist auch "topologisch", in dem genau gleichen Verhältnis, wie sie nicht länger ein deutlich wahrnehmbares Chaos nach Art von Verfalls- oder Zerstörungsprozessen (Unfall, Älterwerden, Krieg … ) schafft, sondern umgekehrt und paradoxerweise eine unmerkliche, unsichtbare Ordnung, die jedoch genauso zweckmäßig ist wie jene des Baumeisters oder des Straßenbauamtes. Heute ist es sogar mehr als wahrscheinlich, daß das Wesentliche dessen, was man noch immer als URBANISMUS bezeichnet, durch diese Transfer-, Transit- und Transmissionssysteme, diese Transport- und Transmigrationsnetze, deren immaterielle Gestalt die der Katasterorganisation, den Bau von Denkmälern ersetzt, sowohl strukturiert als auch destrukturiert wird. Wenn es heute noch "Denkmäler" gibt, so sind diese trotz der Mäander der architektonischen Maßlosigkeit nicht länger von der Ordnung des Sichtbaren; diese "Disproportion" schreibt sich weniger in die Ordnung der wahrnehmbaren Erscheinungen, in die Ästhetik des Auftauchens von unter der Sonne zusammengefügten Volumen ein, sondern in das kalte Leuchten der Terminals, der Bedienungspulte und anderer "Nachttische" der Elektronik. Man vergißt allzu rasch, daß die Architektur – außer daß sie ein Ensemble von Techniken ist, die uns vor den Unbilden des Wetters schützen sollen – zuallererst ein Meßinstrument, eine Summe von brauchbarem Wissen ist, um den Raum und die Zeit der Gesellschaften zu organisieren und uns der natürlichen Umgebung anzupassen. Nun gerät diese "geodätische" (6) Fähigkeit, die darin besteht, eine Einheit der Zeit und des Ortes für die Tätigkeiten zu definieren, mit den strukturalen Fähigkeiten der Massenkommunikationsmittel in offenen Konflikt.
Zwei Verfahrensweisen treffen hier aufeinander: die eine ganz materiell, bestehend aus körperlichen Elementen wie Mauern, Schwellen, waagrechten Flächen, die alle ganz exakt angeordnet sind; die andere immateriell ihre Darstellungen, Bilder, Botschaften besitzen keinen Ort, keine Dauerhaftigkeit, da sie ja die Vektoren eines momentanen, augenblicklichen Ausdrucks sind, mit all dem, was dies an Sinnmanipulation, an irrtümlichen Interpretationen bedingt. Die erste, von architektonischer und urbanistischer Ordnung, organisiert und konstruiert den geographischen und politischen Raum dauerhaft, die zweite baut den Zeit-Raum, das Kontinuum der Gesellschaften, leichtfertig sowohl auf als auch ab. Hier geht es klarerweise nicht um ein manichäisches Urteil, das Physik und Metaphysik in Gegensatz bringt, sondern lediglich um den Versuch, die Rolle der zeitgenössischen Architektur, insbesondere der Stadtarchitektur, im verwirrenden Zusammenspiel der fortschrittlichen Technologien genauer zu betrachten. Wenn sich die Baukunst mit dem Aufstieg der Stadt, der Entdeckung und Kolonisierung neu aufgetauchter Länder entwickelt hat, ist die Architektur seit Vollendung dieser Eroberungen ständig regrediert und hat den Niedergang der großen Ansiedlungen begleitet. Da sie die ganze Zeit in die interne technische Ausstattung investierte, hat sich die Architektur immer stärker nach innen gewandt, sie wurde immer introvertierter, eine Art von Maschinengalerie oder Ausstellungshalle für Naturwissenschaft und Technik, eine Technik, die aus dem industriellen Maschinenglauben hervorgegangen ist, aus der Revolution des Transportwesens und schließlich aus der nur allzu bekannten "Eroberung des Raumes". Es ist im übrigen absolut enthüllend, daß, wenn heute von Technologien des Raumes die Rede ist, es nicht mehr um Architektur geht, sondern einzig um das Engineering, das dazu dient, uns ins Weltall zu expedieren …
All das vollzieht sich so, als ob die Baukunst nur eine Hilfstechnik wäre, längst überholt von jenen Techniken, welche die beschleunigte Ortsveränderung, Reisen zu den Sternen gestatten. Hier stellt sich die Frage nach dem Wesen baulicher Leistungen, nach ihrer die Erde betreffenden Funktion und nach der Beziehung einer bestimmten technischen Kultur zum Boden. Schon die Entwicklung der Stadt als Aufbewahrungsstätte antiker Technologien hatte mit der demographischen Konzentration, mit der extremen vertikalen Verdichtung des städtischen Bereichs – ganz im Gegensatz zur Agrarorganisation dazu beigetragen, die Architektur zu vervielfachen, indem sie sie in alle Richtungen des Raumes projizierte; die fortschrittlichen Technologien versuchten seither ständig, diesen "Vorstoß", diese unbedachte Expansion sowie alle, insbesondere die mit dem Aufstieg der Transportmittel verbundenen Richtungen der Baukunst zu verlängern. Heute schießen die Spitzentechnologien, die aus der militärischen Eroberung des Raumes hervorgegangen sind, den Wohnsitz und morgen vielleicht die Stadt in die Planetenbahn. Mit den bewohnten Satelliten, den Raumschiffen und -stationen – Hochburgen der technologischen Forschung und der Industrie der Schwerelosigkeit – schickt man die Architektur fröhlich in die Luft, was nicht folgenlos für das Schicksal der Gesellschaften, post-industrieller Gesellschaften bleibt, deren kulturelle Anhaltspunkte mit dem Niedergang der Künste und dem langsamen Rückzug der ersten Technologien nach und nach verschwinden.Sollte die Stadtarchitektur im Begriff sein, eine ebenso überholte Technologie wie die extensive Landwirtschaft zu werden? (daher auch die Schäden der Stadtregion). Ist die Baukunst etwa nichts anderes als eine abgewertete Form der Beherrschung des Bodens mit ähnlichen Folgen, wie sie die maßlose Ausbeutung der Rohstoffe zeitigte…? Ist der Verfall zahlreicher Metropolen nicht zur Metapher des industriellen Niedergangs und der erzwungenen Arbeitslosigkeit geworden, zum Symbol des Scheiterns des wissenschaftlichen Materialismus … ? Hier ist der Rekurs auf die Geschichte, wie es die Anhänger der "Postmoderne" vorschlagen, bloß eine simple Ausrede, mit deren Hilfe man die Frage nach der Zeit vermeiden kann, die Frage nach dem Bereich "transhistorischer" Temporalität, der aus technischen Ökosystemen entstanden ist. Wenn es heute eine Krise gibt, so ist diese zuerst eine der (ethischen, ästhetischen … ) Bezugssysteme – die Unfahigkeit, das Ausmaß von Ereignissen in einer Umwelt, wo die äußeren Anzeichen gegen uns sind, abzuschätzen. Da das wachsende Ungleichgewicht zwischen direkter und indirekter Information, ein Ergebnis der Entwicklung verschiedener Kommunikationsmittel, dazu neigt, leichtfertig die durch Medien vermittelte Information zuungunsten der der Sinne zu privilegieren, scheint der Realitätseffekt die unmittelbare Realität zu ersetzen. Die Krise der großen Erzählungen der Moderne, von der Lyotard spricht, drückt hier die Wirkung der neuen Technologien aus, wobei die Betonung von nun an eher auf den "Mitteln" als auf den "Zielen" liegt.
Auf die großen Erzählungen der theoretischen Kausalität folgten auf diese Weise kleine Erzählungen von praktischer Zweckmäßigkeit und schließlich Mikro-Erzählungen der Autonomie. Die Frage, die sich stellt, ist daher nicht mehr so sehr die nach der "Krise der Moderne" als fortschreitendem Verfall gemeinschaftlicher Ideale, als Urbegründung für den Sinn von Geschichte zugunsten mehr oder weniger knapper Erzählungen, die mit der autonomen Entwicklung der Individuen verbunden sind, sondern die nach der Erzählung selbst, d.h. nach einem offiziellen Diskurs oder Darstellungsmodus, der bislang als Erbe der Renaissance mit der universell anerkannten Fähigkeit die Realität zu sagen, zu beschreiben und einzuschreiben verbunden war. So scheint die Krise des Begriffs "Erzählung" wie die Kehrseite der Krise des Begriffs "Dimension", verstanden als geometrale (7) Erzählung, als Diskurs der Messung von Realität, die sichtbar allen angeboten wird.
Da die Krise der großen Erzählungen zugunsten der Mikro-Erzählungen sich letztendlich als Krise der Erzählung des "Großen" wie des "Kleinen" herausstellt, als Aufkommen einer Desinformation, wo das Unmaß, die Unermeßlichkeit für die "Postmoderne" das wäre, was das philosophische Lösen aktueller Fragen und die Auflösung des (gemalten, baukünstlerischen) Bildes zu Beginn der "Aufklärung" waren.
Die Krise des Begriffs der Dimension erscheint daher als Krise des Vollständigen, anders gesagt als Krise eines homogenen, substantiellen Raumes, ein Erbe der altertümlichen griechischen Geometrie, zugunsten eines zufälligen, heterogenen Raumes, wo die Teile, die Brüche wieder wesentlich werden, die Atomisierung, die Zersetzung der Figuren, der sichtbaren Anhaltspunkte, die allen Transmigrationen, allen Transfigurationen förderlich sind, doch deren städtische Topographie immer die Folgen tragen muß, geradeso wie es bei den Landschaften und Böden vor der Mechanisierung landwirtschaftlicher Betriebe der Fall war. Dieses plötzliche Aufbrechen von Formen der Vollständigkeit, diese Zerstörung der Eigenschaft der Einzigartigkeit durch die Industrialisierung ist jedoch trotz der Destrukturierung der Vororte weniger im Raum der Stadt als in der Zeit spürbar, nämlich in der sequentiellen Wahrnehmung des Äußeren der Städte. In der Tat hat die Transparenz schon seit langem die Apparenzen, die Erscheinungsformen, ersetzt und die Schärfentiefe der klassischen Perspektive findet sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Zeittiefe der fortschrittlichen Technologien wieder. Nach dem Durchbruch der großen Boulevards kam wenig später der Aufschwung der Filmindustrie und der Luftfahrt. Auf die Haussmansche Parade folgte das flotte Vorbeiziehen der Lumiérschen Bilder, auf die Esplanade des Invalides die Invalidation, die Ungültigkeitserklärung des Stadtplans, und der Bildschirm wurde plötzlich zum Ort, zum Kreuzungspunkt der Massenmedien.
Von der Ästhetik des Auftauchens eines stabilen Bildes, gegenwärtig durch seine Statik selbst, bis zur Ästhetik des Verschwindens eines instabilen Bildes, gegenwärtig durch seine (kinematische, kinematographische) Flüchtigkeit, haben wir einer Veränderung der Darstellungsformen beigewohnt. Auf das Auftauchen von Formen, Volumen, die dazu bestimmt waren, in der Dauerhaftigkeit ihres Trägermaterials fortzubestehen, folgten Bilder, deren einzige Dauerhaftigkeit das Nachbild auf der Netzhaut ist. Schließlich würde Hollywood – viel eher als das Las Vegas von Venturi – eine Doktorarbeit über Urbanismus verdienen, da es nach den Theaterstädten der Antike und der Renaissance doch die erste CINECITTÀ, die erste Stadt der Laufbilder war, wo Dekor und Realität, die Katasterpläne und die Plansequenzen, die Lebenden und die lebend Toten bis zum Delirium verschmolzen. Hier haben sich die fortschrittlichen Technologien mehr als anderswo angenähert, um ein synthetisches raum-zeitliches Gebilde zu gestalten. Ein Babylon der filmischen Entrealisierung, eine Industriezone des falschen Scheins, wurde Hollywood Viertel für Viertel, Avenue für Avenue auf der Abenddämmerung des Anscheins, dem Erfolg illusionistischer Verfahren, dem Aufschwung von Ausstattungsproduktionen wie jener von D.W. Griffith errichtet, bis zur größenwahnsinnigen Urbanisierung von Disneyland, Disneyworld und des EPCOT-CENTERS.
Wenn Francis Coppola heute "One from the heart" realisiert und dabei seine Schauspieler durch ein elektronisches Verfahren in die gedrehten Einstellungen eines Las Vegas in Naturgröße, das in den Studios der Zoetrope Company in Hollywood gebaut wurde, inseriert, so einfach deshalb, weil dieser Regisseur nicht wollte, daß sich seine Dreharbeit der wirklichen Stadt, sondern daß sich diese seiner Dreharbeit anpaßt, indem er dabei weniger die heutige Doppeldeutigkeit der Architektur, sondern den "gespenstischen" Charakter der Stadt und ihrer Bewohner aufzeigt, übertrifft er Venturi bei weitem.
Der "Papierarchitektur" der Utopisten der 60er Jahre fügte sich die video-elektronische Architektur der Spezialeffekte eines Harryhausen oder eines Trumbull hinzu, und dies genau zu dem Zeitpunkt, wo der Computer mit Bildschirm seinen Einzug in die Architekturbüros hielt … "Das Video ist nicht ich sehe, sondern ich fliege", erklärte Nam June Paik. Mit dieser Technologie ist in der Tat das "Überfliegen" nicht länger eine Frage der theoretischen Höhe, d.h. eine der Einstellungsgrößen, es ist zu der eines optisch-elektronischen Interface geworden, das in Echtzeit funktioniert, mit all dem, was dies an Neudefinition des Bildes bedingt. Wenn die Luftfahrt, welche bemerkenswerterweise im selben Jahr wie der Kinematograph aufgetaucht ist, einen Wechsel des Blickpunkts, eine radikale Veränderung der Wahrnehmung der Welt mit sich gebracht hat, werden die infographischen Techniken ihrerseits eine Berichtigung des Realen und seiner Darstellungen zur Folge haben. Diese Behauptung läßt sich im übrigen anhand des "TACTICAL MAPPING SYSTEM", einer von der "Agentur für fortschrittliche Forschungsprojekte für Verteidigungszwecke der USA" hergestellten Bildplatte überprüfen, mit deren Hilfe man die Stadt Aspen kontinuierlich betrachten kann, indem man das Vorbeiziehen von 54.000 Bildern beschleunigt oder verlangsamt, die Richtung oder die Jahreszeit ändert, wie man den Kanal beim Fernsehen wechselt, was die kleine Stadt in eine Art ballistischen Tunnel verwandelt, wo sich die Funktionen des Auges und der Waffe vermischen …
Wenn sich die Baukunst einst wirklich an der Geologie, an der Tektonik natürlicher Formen orientierte, mit den Pyramiden, den Türmen und anderen neo-gotischen Verirrungen, orientiert sie sich von nun an nur mehr an der Spitzentechnologie, deren schwindelerregende Heldentaten uns alle vom Erdhorizont vertreiben. Eine Neo-Geologie, ein "MONUMENT VALLEY" aus dem Pseudolithikum ist die Metropole nur mehr eine Phantomlandschaft, das Fossil vergangener Gesellschaften, wo die Techniken noch direkt mit der sichtbaren Transformation der Materialien verbunden waren und von denen uns die Naturwissenschaften fortschreitend entfremdet haben werden.
(1) Im Original "La ville surexposée, wobei exposer zugleich "belichten" und "ausstellen" meint.zurück
(2) Closed Circuit Television (angewandtes Fernsehen, Industrielles, nicht öffentliches Fernsehen).zurück
(3) Privatleben – vie privée –, wobei privé zugleich "privat" wie auch "beraubt" bedeutet.zurück
(4) Aus dem Französischen übernommener Begriff für eine in einer einzigen langen Einstellung (frz.: plan) gedrehte Sequenz.zurück
(5) Von Proxemik, der Semiotik des Raums.zurück
(6) Von Geodäsie, der Wissenschaft von der Erdvermessung.zurück
(7) Von Geometer – Landvermesserzurück
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