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Ars Electronica 1992
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Hauptklammer


'Claire Roudenko-Bertin Claire Roudenko-Bertin

ZUM WERK VON CLAIRE ROUDENKO-BERTIN
Man ist von der mystischen Dimension im Schaffen Claire Roudenko-Bertins ergriffen. Ihre russische Herkunft ist von daher nicht fremd, auch nicht diese zwingende Notwendigkeit, das Unsichtbare sichtbar, den äußeren und inneren Raum, sichtbar zu machen.

Nicht nur das Bild, das sich ständig herausbildet wie von einer matritzenhaften Dynamik getrieben, nimmt hier einen Stellenwert ein, auch die Sprache kommt in ihrem Werk zum Tragen. Es ist eine Mischung von Sprachen verschiedenen Ursprungs, wo man die Wissenschaft, die Informatik genauso wiederfindet wie die Kunstgeschichte. Man versteht also die Bedeutung der "Notation", die jedes ihrer Werke einleitet und begleitet, insbesondere die HAUPTKLAMMER. Der folgende Text ist aus diesen Zeichen zusammengesetzt, die das lebendige Rohmaterial ihrer Arbeit darstellen.

HAUPTKLAMMER umfaßt zwei Gruppen, "le UMI" und "le SACRIFICE INFINITESIMAL DU MOTIF", die wie zwei Atome in einem Molekül vereint sein sollen.
Martine Bour
AUSZÜGE AUS DEN ARBEITSAUFZEICHNUNGEN DER KÜNSTLERIN
Die [UMI]

Die [UMI]: Unité de mésure indéfinissable (undefinierbare Maßeinheit) beruht wie das Eichmaß auf einem Postulat.

Code S: "Code Skladka" ist die Auflösung von Bild und Raum (s/i), das Bild versieht den Raum mit Indices und bewirkt seine Beugung.

S. ist ein Maß des Verlustes, des Fallens und der Arbeit selbst, insofern als Code S. ein Zwischencode der Definition ist, wobei die "Rolle des Betrachters" als Ausgangspunkt des Werkverständnisses wieder in einen Kontext gestellt wird. Ein Verständnis außerhalb des kartesianischen Bereichs und der sas der Bedeutung, die durch die GLOBALE PARENTHESE, die den Code S nicht mehr mit einschließt, zum Ausdruck gebracht wird, (die Entwicklung des Codes war eine der entscheidendsten Raum/Bildauflösungen, die in der Arbeit mit Computern, Video und gebauten Räumen zwischen 1989 und 1991 verwendet wurden).

In Übereinstimmung mit dem anhaltenden Bestreben, den grundlegenden Codes ihre ursprünglichen und existentiellen Bilder wieder zuzuordnen, gibt es auch den Wunsch nach einem quantifizierbaren Wert des Bildes, um es als Material definieren zu können, als molekulares, von seinen Stützen gehaltenes Dasein: ein Maß eines Codes. Die Existenz des Werkes wird im Maß der Abwesenheit vorausgesetzt. Die beiden Klammern die die UMI umgaben, können als die zwei Außenteile einer hölzernen Ikonostase* gelesen werden. TELEVISIONS ANTERIEURES (früheres Fernsehen) besteht zum Beispiel aus Birkenrinde, die in der Form eines Samens gestaltet wurde, der dann gemäß dem Verfahren der Ikonostase 19 mal mit verschiedenen Substanzen gestrichen wird, wobei die 19. Schicht die Öffnung des Heiligenbildes bedeutet, die Absonderung der extremen Repräsentation, denn hinter dieser vollkommenen Manifestation des Visuellen ist nichts zu sehen. Die zweite Absonderung, der Träger der Ikonostase, ist der hölzerne Teil, die eine Konfrontation mit der Gegenwart bedeutet, (vgl. LA BARRIERE OBJECTALE).

* Die gesamte Arbeit nimmt Bezug auf 3 bildersprachliche Gebiete (Untersuchung von 3 Codeträgern und des begrifflichen und materiellen Austauschs zwischen ihnen):

1) elektronisches Bild an einer Seite und holografisches Bild am äußersten Ende

2) biologisches Bild (der organische Träger, der die Information in den Körper bringt)

3) russische Ikone (als ein unzweifelhafter Erfolg hinsichtlich der Verschlüsselung von Sinn in Materie)

Die sichtbaren formalen Resultate (Raum und elektronische Bilder) rühren von jenen Punkten her, an denen der Austausch zwischen diesen drei menschlichen Wahrnehmungs- und Repräsentationsversuchen am nachdrücklichsten stattfindet.


Die Arbeit verdichtet die Faktoren, – je leichter sie zu finden sind, desto kürzer der Weg zur Produktion eines Bildes direkt aus dem Sinn und ohne jeglichen Gegenstand.

Eine andere Arbeitsmethode wurde forciert, um der "Renaissanceverschlüsselung" entgegenzutreten – (das photographische Bild soll angeblich 100 Einheiten an Informationen über die Realität wiederherstellen und wird als objektive Realität empfunden während das Gehirn 1 Million Einheiten eidetischer Informationen für jedes S erzeugt).

S-VATCIA 500

Die Genese dieser Formel war ein Versuch, einem Code, der aus dem Aufsprengen des Benannten resultierte, einen NAMEN zu geben, wobei das Ergebnis in der Befähigung besteht, den Terminus PRONUNCIATION auf ein 500stel seiner selbst (im Russischen: svatb) umzuformen. Dieses 500stel PRONUNCIATION beinhaltet zwei deutsche Unbekannte. Die zwei Unbekannten führten nach einer etymologischen, historischen sowie genetischen Kürzung zu folgender Formel:

(B)TX(u)1,666. Die Auflösung der deutschen Unbekannten aus der russischen Bekannten ergab daher:
EINEN TISCH OHNE VIBRATION DER GENAU MISST UND VON DEM DAS S FÄLLT

Ein Instrument zur Bestimmung des Raums durch die Träger des verschärften Abbilds des Abbilds besteht seit 1988 im PRELEVEMENT DU VIDE (in der Entdeckung der Leere), wobei ein schwerer Tisch (wie vom Holographen verwendet), dessen Oberflächenstruktur in einen doppelten, quer hindurchlaufenden Schnitt transformiert wird, hier aufgrund seiner zwei- und dreidimensionalen Entwurfsmöglichkeiten als HYPER-SPACE verwendet wird. Aus diesen Deduktionen gelangt man zu der Erkenntnis, daß die "Messung der Leere" die Grundlage der UMI (d.h. der undefinierbaren Maßeinheit) ist.

L'ÉVACUATION DU PRETEXTE (die Evakuierung des Vorwands) war ein Versuch, das episkopale System loszuwerden, welches (aus sentimentalen und grammatikalischen Gründen) eine poetische und grundlegende russische Linguistik als effektvollen Kurzschluß verwendet und als Mittel zur Erzeugung von Formen, die in ihrer Funktion rätselhaft und in ihrer Rigidität plastisch sind. Es wurde daher beschlossen, das Werk in seiner Gesamtheit von seinem Daseinsvorwand, von seiner automatischen Funktionsspirale, zu befreien, um zu ermitteln, ob ein Raum oder Daseinsgrund übrig bleibt. Ergebnis war eine Beschreibung bzw. Anti-Definition, die sich als sehr nützlich für die Bewertung des mysteriösesten Ortes der Welt erwies: des letzten, mit der GEGENWART verbundenen Repräsentationsraums … Beschr.: MISE EN MOUVEMENT DE VIDES BRODES DEVANT LIMAGE OU L´ESPACE (das Inbewegungsetzen von geschmückten Leeren vor dem Bild oder dem Raum)

Ein als solches 1620 erfundenes typografisches Zeichen (offene und geschlossene Klammern) wurde zur Enklave, wurde in der Entdeckung der Leere verdichtet, zum vollen Raum, d.h. positiv leer (als Form/Zeichen eine Zwischenenklave der Bedeutung bestimmend), um die Schaffung eines Korridors für das Lesen und die Visualisierung zu ermöglichen.

Die HAUPTKLAMMER und die Konstruktionsunterbrechung wurden unabdingbar.

Seit 1990 besteht der spezielle Ansatz zum Werk als Ganzem im Konzept einer GLOBALEN PARENTHESE (Hauptklammer), die die Arbeit zwischen einem Code in der Mitte des Aufsprengens und einem anderen in der Mitte der Aussprache ansiedelt. GLOBAL steht für den Körper des Werks, es ist auch der Code S, jener Code, der den Raum beugt und der in der UMI als Definition verschwindet, wobei letztere die "Evakuierung des Vorwands" verursacht und die GLOBALE PARENTHESE (Hauptklammer) zum gnadenlosen Auseinanderplatzen bringt und damit jeden Versuch, das Werk zu verorten, sprengt. Die "Evakuierung des Vorwands" schafft daher für das Werk und die Arbeiten generell eine wirkliche AUTONOMIE, merkwürdig aber ist, daß dieser brutale Gruß seinen eigenen Begriff dekonstruiert (Ausräumen des Vorwands = Kraftstoff der UMI: Instrument des Verlustes der Definition zur neuerlichen Strukturierung einer komplementären Bedeutung außerhalb des Gegenstands. Die "Evakuierung des Vorwands" bringt daher eine räumliche FUNKTION hervor, die die letzte Gefahr für das Bild, die letzte Absonderung, in Bewegung versetzt.

Die deutsche KLAMMER, bei der die UMI ihre Definition zu verlieren suchte, ist im Gegensatz dazu verbunden mit der Verwendung der Annahme als einer Maßeinheit und ist nur in diesem beschränkten Kontext möglich, mangels eines Zeichens der Auflösung (das Werk als Ganzes verliert sich selbst), der Vorhof des Unbenannten, dem assistiert wird durch die beiden Unbekannten, die die Möglichkeit, das Kunstwerk als FUNKTION zu sehen, eröffnen. Zum Beispiel im Deutschen, wo das Wort TISCH sein S verliert um zur "definierten Stille" zu werden, kondensiert sich der ANTIANALOGISCHE RAUM* selbst bis zu dem Punkt, der seine Abmessungen und dreidimensionalen Stützen zum Auseinanderbrechen bringt. Die Begriffe einer doppelten Einflußsphäre, einer Versöhnung durch das Werk und seine Materialien, wobei der Raum eine physiologische Komponente darstellt, und die Rolle des Betrachters sind für die Bedeutung des Werkes ausschlaggebend.

*ANTI-ANALOGISCHER RAUM wurde, aufgrund der permanenten Fragestellung dieser Arbeit (Wo ist der Platz des Bildes im Raum und wie beeinflußt das Bild den Raum?), erfunden, um Videosysteme mit einer maximalen Sicherheit in Bezug auf ihr eigenes Verfahren und jenes des Betrachters einzusetzen. Es ist dies auch der Ort, an dem der Repräsentationsplan in seiner eigenen Undurchsichtigkeit analysiert werden kann.

Das Projekt wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung von F.N.A.C.,Paris; Galerie de Tugny Lamarre, Paris; Akademie Schloß Solitude, Stuttgart, Martine Bour (Ministère Culture/Délégation aux Arts Plastiques, Paris).