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Ars Electronica 1986
Festival-Programm 1986
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Die Technologie menschlichen Überlebens im Zeitalter der Raumfahrt


'Kenneth E. Boulding Kenneth E. Boulding

(Zusammenfassung eines Vortrags bei der Ars Electronica in Linz, Österreich, am 24. Juni 1986)

Es ist uns allen bewußt, daß die menschliche Rasse und vielleicht der gesamte Evolutionsablauf auf dieser Erde einer schweren Krise, wenn nicht sogar dem Untergang, entgegengeht. Bei dem gegenwärtig herrschenden System der einseitigen nationalen Verteidigung ist die uns am unmittelbarsten drohende Krise die große Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs. Es ist ein Grundprinzip, daß etwas, das mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten kann, auch innerhalb absehbarer Zeit eintritt. Wenn das gegenwärtige System der einseitigen nationalen Verteidigung fortdauert, ist ein Atomkrieg in etwa 100 bis 500 Jahren praktisch sicher, seiner Wahrscheinlichkeit entsprechend. Es gibt dabei so viele unbekannte Faktoren, daß wir uns über die Konsequenzen im unklaren sind, aber der "schlimmste Fall" eines nuklearen Winters und der weitgehenden Auslöschung der Arten ist wiederum in gewissem Grad wahrscheinlich und kann nicht ausgeschlossen werden. Die Wahrscheinlichkeit, daß Europa eine Atomwüste ohne Leben wird, ist jedenfalls höher als die Wahrscheinlichkeit, daß dies der ganzen Welt droht.

Es ist das sich steigernde Anwachsen menschlichen Wissens, das zu dieser Situation geführt hat, hauptsächlich aufgrund der Entwicklung der Subkultur der Naturwissenschaft. Ohne Wissenschaft hätten wir weder atomare Sprengköpfe, Langstreckenraketen, Unterseeboote mit Atomantrieb, die Mittel der chemischen und biologischen Kriegsführung noch die andauernde Erforschung und Entdeckung weiteren Zerstörungsmaterials. Man muß freilich hinzufügen, daß wir auch nicht die Beglückung der Weltraumforschung, den Sieg über viele Krankheiten, die Verdoppelung der Lebenserwartung, die Möglichkeiten von Reisen und Kultur in der ganzen Welt und so weiter erlebt hätten. Es ist jedoch für menschliche Gesellschaften sehr schwierig etwas zu "verlernen". Fast alles, das wir einmal wußten oder konnten, weiß oder kann noch irgend jemand. Die einzige Antwort auf die nukleare Krise ist, noch mehr zu lernen. Das heißt aber nicht, daß man noch mehr über Mittel der Zerstörung lernt, sondern daß man Wertigkeiten setzen und die wahre Natur gesellschaftlicher Systeme verstehen lernt. Denn die sozialen Systeme und die unangemessenen Wertigkeiten sind es, die uns zu zerstören drohen, nicht die physikalischen oder biologischen Systeme als solche. Physikalische Katastrophen wie der Aufprall eines Asteroiden, oder biologische Katastrophen wie die Mutation eines todbringenden Virus, sind eher unwahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit, daß der "Krieg der Sterne", diese Lieblingsidee einer Strategic Defense Initiative (SDI) von Mr. Reagan, die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe verringern wird, ist äußerst niedrig. Offensivwaffen, wie die Kanone, waren defensiven Strukturen wie Rüstungen und Stadtmauern anscheinend immer überlegen – so hat die Erfindung der Kanone das Feudalsystem zerstört und den Nationalstaat geschaffen. Die Atomwaffe bedeutet nun für die nationale Verteidigung, was die Kanone für die Feudalherren bedeutete.

Wir müssen daher eine neue Technik menschlichen Überlebens lernen. Das heißt,

  1. daß menschlichem und evolutionärem Überleben der höchste Wert und absolute Priorität eingeräumt werden muß. Wir können den Nationalstaat nicht verteidigen, indem wir die menschliche Rasse vernichten!

  2. Methoden der Verteidigung gegen unerwünschte Veränderung zu entwickeln und erwünschte Veränderung zu ermutigen, die den Fortbestand der menschlichen Rasse nicht gefährdet. Das erfordert politische Richtlinien für einen stabilen Frieden (etwas, das es innerhalb einer großen Gruppe von Nationen bereits gibt und auf die übrige Welt ausgedehnt werden muß). Die Dynamik dieses Prozesses muß durch politische Abkommen (dafür wäre der Westfälische Friede aus dem Jahr 1648 ein gutes Modell), durch neue Interpretationen der Geschichte, eine Verlagerung auf defensive und nicht gewalttätige zivile Verteidigung und so weiter in Gang gesetzt werden.
Auf weitere Sicht ist das menschliche Wohlergehen außerdem, wenn wahrscheinlich auch nicht vom Untergang, so doch von einer nicht wiedergutzumachenden Katastrophe bedroht: dem unkontrollierten Anwachsen der menschlichen Bevölkerung, Umweltverschmutzung und dem Versiegen der natürlichen Ressourcen. Man könnte das als das Problem des Club of Rome bezeichnen. Auch hier ist die einzige Antwort, mehr zu lernen, und hier erlauben die Aussichten einen bescheidenen Optimismus in bezug auf die "letzte Ressource" der menschlichen Lernfähigkeit, die noch sehr groß ist. Eine weitere Zukunftsvision sind die Kolonien im Weltall, die uns aus den Gefahren der "einen Welt" – wo gleich alles schiefgeht, wenn etwas schiefgeht – erlösen würden und ein System "vieler Welten" schaffen, so wie wir es vor einigen Jahrhunderten auf dieser Erde hatten, wo keine Katastrophe universal sein kann, sondern nur lokal. Die Wahrscheinlichkeit dieser Lösung ist schwer abzuschätzen.