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Ars Electronica 1986
Festival-Programm 1986
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Festival 1979-2007
 

 

Ausstellung: Imagining Antarctica




20. Juni bis 31. August 1986
Stadtmuseum Linz/Nordico

ANTARKTIS – VORSTELLUNG UND WIRKLICHKEIT

Konzept: Rachel Weiss

(Zu dieser Ausstellung ist ein eigener Katalog erschienen. Stadtmuseum Linz/Nordico, Bethlehemstraße 7, A–4020 Linz, Telefon [0 73 2] 23 93/19 12)

TEILNEHMENDE KÜNSTLER
Francesc Abad (USA)
Marjorie Agosin (Chile)
Mel Alexenberg (Israel)
(ART)n Incorporated (Ellen Sandor, Randy Johnson, Daniel John Sandin) (USA)
José Bedia Valdés (Kuba)
Matt Belge (USA)
Hermann-Josef Berk (BRD)
Lowry Burgess (USA)
Donald Burgy (USA)
Luis Camnitzer (USA)
Ben Davis (USA)
Agnes Denes (USA)
José M. De Prada Poole (Spanien)
Wolfgang Hahn (BRD)
Richard Harrington (USA)
Nigel Helyer (Australien)
Nancy Holt (USA)
Nicole Jolicoeur (Kanada)
Dotte Larsen (USA)
Thorbjörn Lausten (Dänemark)
Franz Lazi (BRD)
Mit Mitropoulos (USA)
Herbert Ponting (England)
Elliot Porter
Ricardo Rodriguez-Brey (Kuba)
Gernot Schwaiger (BRD)
Todd Siler (USA)
Robert Smithson (USA)
Michelle Stuart (USA)
Charles Swithinbank (England)
Natalie Talec (Frankreich)
Vladimir Tamari
Lutz Weidler und Claudia Kölgen (BRD)
Rachel Weiss (USA)
Joseph Yoakum (USA)
ANTARKTIS – VORSTELLUNG UND WIRKLICHKEIT
Mindestens seit der Zeit des Aristoteles hatten die Menschen eine vage Vorstellung von der Antarktis. Seit damals war die Antarktis eine mächtige, sagenhafte Phantasiewelt, unnahbar, geheimnisvoll und in ungewöhnlichem Maß dazu angetan, die Einbildungskraft der Menschen anzuregen. Trotz und geradezu wegen aller Erkenntnisse über diesen Kontinent in unserem Jahrhundert, bleibt er voller Widersprüche und rätselhaft; ein Ziel des fundamentalen schöpferischen Wunsches, die Grenzen des schon Bekannten zu überschreiten.

Die Vorstellung von der Antarktis als Antipodenwelt (Antipode heißt wörtlich "Gegenfüßler"), welche der bekannten Welt (nördliche Hemisphäre) gegenüberliegt und sie ausgleicht, war von grundlegender Bedeutung für die Symmetrie und Ordnung, die das klassische griechische Denken von der Welt verlangte. Schon auf den ältesten Landkarten der südlichen Hemisphäre, die von Orontius und Mercator im 16. Jahrhundert angefertigt wurden, wird das Vorhandensein eines "großen Südkontinents" (Terra Australis Incognita) behauptet, obwohl eine solche Landmasse noch nie gesichtet worden war. Tatsächlich war der südliche Ozean bis zum Jahr 1700 von keinem Schiff befahren worden. In diesem Jahr lieferte Edmund Halleys Reise die ersten Beweise dafür, daß das südlichste Gebiet der Erde eine Eiswüste war und nicht ein tropisches Paradies, wie es bis dahin "traditioneller Wissensbesitz" gewesen war. Trotz dieser Beweise blieb der Traum von der Antarktis bestehen. Im Jahr 1772 schrieb der französische Forschungsreisende Kerguelen: "Kein Zweifel, man wird Holz, Mineralien, Diamanten, Rubine, Edelsteine und Marmor finden. Selbst wenn man keine Menschen einer anderen Spezies entdeckt, werden dort wenigstens Menschen sein, die nichts von den Schlichen der zivilisierten Welt wissen und im Naturzustand leben."

James Cooks Entdeckungsfahrten im achtzehnten Jahrhundert, die ersten, bei welchen der südliche Polarkreis überquert wurde, beendeten für immer den Traum von einem reichen südlichen Gebiet mit gemäßigtem Klima, das von mythologischen Geschöpfen und Völkern bewohnt wird. Trotzdem führten seine Berichte über die reiche Fauna im südlichen Eismeer kurz darauf zur Entwicklung der Robben- und Walfangindustrie und dadurch zu den darauffolgenden Erkenntnissen über die Verletzlichkeit der Umwelt unseres Planeten, durch die die Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert so viel lernte. Nachdem er die wirklichkeitsfremden Hoffnungen auf die Antarktis zerstört hatte, ersetzte sie Cook, der ein ausgesprochener Pragmatiker war, unabsichtlich durch eine wirtschaftliche Begründung mit einem realen Kern.

Um diese Zeit war die griechische Vorstellung von der Antarktis ("Anti-Arktis") als eine ausgleichende und stabilisierende Kraft schon ganz aufgegeben und durch die modernere Ansicht ersetzt worden, die Polargebiete seien ein äußerst menschenfeindliches und bedrohliches Gebiet. Die Welt gab sich nicht mehr einfach damit zufrieden, nur anzunehmen, daß ein südlicher Kontinent vorhanden sei; es wurde immer mehr zur fixen Idee, dieses Unbekannte erobern zu müssen. Die aggressive Suche nach der Antarktis, die im neunzehnten Jahrhundert begann, wurde durch den Glauben angefeuert, daß aus irgendeinem Grund, wenn man buchstäblich das "Ende der Welt" berühre, etwas Wesentliches für den menschlichen Geist offenbar werde und dadurch eine Stufe menschlicher Errungenschaften zu erreichen sei. Die Antarktis war jedoch immer noch nicht gesichtet worden.

Endlich, im Jahr 1821, in einem Augenblick, der gewissermaßen ganz im Einklang mit der Geschichte der Antarktis zu stehen scheint, erblickten Nathaniel Palmer (USA) und Thaddäus von Bellinghausen (Rußland) den Kontinent und einander, als sich dichter Nebel gelichtet hatte. Die Antarktis wurde zu einer sichtbaren Wirklichkeit, und eine Mischung aus Nationalstolz und fieberhaftem expansionistischem Ehrgeiz bildete den Ansporn für buchstäblich Dutzende von Forschungsreisen nach Süden während der restlichen Zeit des Jahrhunderts. Nachdem das Interesse an diesem legendären Land schon früh geweckt worden war, wurde es bald so groß, daß der Kongreß der USA mehr als zwanzigmal über Vorschläge zur Entsendung von Expeditionen in den Süden beriet.

Diese Vorschläge beruhten zum Teil auf der bizarren Idee (verfochten von einer überraschend großen Gruppe angesehener Personen, darunter Edgar Allan Poe), daß am Südpol buchstäblich ein Loch im Globus sei, durch welches Forschungsreisende eine zivilisierte Welt erreichen könnten, die man in der "Schale der Erde" vermutete. Diese Idee wurde übrigens 1960 wieder aufgegriffen durch den Amerikaner Raymond Bernard, der Admiral Richard Byrds Bemerkungen über das "Land jenseits des Pols" als Bezugnahme auf diese geheimnisvolle "Innenwelt" auslegte. Daraus knüpfte Bernard die "bemerkenswerte" Theorie, die Polarlöcher seien auch Start- und Landepunkte für Ufos und deshalb habe der CIA ihr Vorhandensein im Interesse der nationalen Sicherheit streng geheimgehalten. Die Tendenz, sich die Antarktis als einen "Hafen des Lebens" vorzustellen, ob nun in Abwesenheit von diesbezüglichen Beweisen oder in direktem Gegensatz zur Erfahrung, war überaus zählebig.

Obwohl keine dieser vorgeschlagenen Expeditionen in dieses "Zauberland" jemals stattfand, nahmen die Impulse für die Erforschung der Antarktis ständig zu. Einige größere Expeditionen machten es sich zur Aufgabe, den magnetischen Südpol zu finden. Eine davon wurde von Jules Sébastien Cesar Dumont D'Urville geleitet, dem übrigens auch die Entdeckung der Venus von Milo zu verdanken ist. Dieses farbenprächtige Zeitalter der Entdeckungen, gekennzeichnet durch seinen Enthusiasmus für die spektakuläre Geschichte seiner Heldentaten, gipfelte schließlich im Wettlauf zum (geographischen) Südpol, der seither Stoff für Legenden lieferte und nicht zufällig die bekannteste Geschichte aus der Antarktis geworden ist. Das große Ringen zwischen dem Engländer Robert F. Scott und dem Norweger Roald Amundsen wurde 1911 von dem zuletzt Genannten gewonnen und ist seit damals eine fortwirkende und tragische Metapher für die westliche Fixiertheit auf Eroberung und Heldentum.

Gebietsansprüche in der Antarktis wurden immer wichtiger und wurden vorherrschend, je weiter das zwanzigste Jahrhundert fortschritt. Man erkannte immer mehr die strategische Bedeutung dieses Gebietes und bis 1943 wurde der größte Teil des Kontinents von bestimmten Ländern als Hoheitsgebiet beansprucht, einige Teile sogar von mehreren Ländern. Wahrscheinlich die dramatischste Kundgebung dieser Art war der Anspruch, den Adolf Hitler für Deutschland geltend machte durch das Abwerfen von Hunderten von gußeisernen Hakenkreuzen auf das Eis, jedes einzelne sorgfältig so ausbalanciert, daß es senkrecht auf der Eisoberfläche stehen konnte. Diese Hoheitszeichen liegen wahrscheinlich noch immer unter dem Eis der Antarktis begraben, als geschichtliche Zeugnisse für ihre Zeit, ähnlich den Schichten vulkanischen Staubes, welche von anderen Zeitaltern künden.

Als sich im Internationalen Geophysikalischen Jahr 1957 das ernsthafte und weitreichende wissenschaftliche Interesse auf die Antarktis konzentrierte, bestand schon eine so lebhafte Vorstellung von diesem Kontinent (die größtenteils falsch war), daß die nüchternen Forschungsergebnisse der Wissenschaftler fast dazu bestimmt schienen, eine jahrhundertealte romantische Geschichte zu zerstören, die von einem der letzten großen unerforschten Gebiete der Erde handelt. Es trat aber genau das Gegenteil ein: die Legende der Antarktis wurde langsam Wirklichkeit, da die gesammelten Informationen das Bild eines komplexen und stimmungsvollen Landes ergaben, dessen natürliche Zyklen und Lebensabläufe mit den unseren aufs engste verbunden sind. Antarktis, die mythische Eisfeste am Ende der Welt, wurde in unserer Vorstellung zur Verkörperung des Unerbittlichen, eine epische und unveränderliche Erscheinung. Ironischerweise ist sie in Wirklichkeit äußerst verwundbar durch Veränderungen und hat eine überraschend zerbrechliche Umwelt und ein Ökosystem, das sehr empfindlich auf jeden Eindringling reagiert. In Anbetracht der Symbiose zwischen den Polargebieten und der übrigen Welt fungiert die Antarktis als ein gewaltiges, sehr empfindliches "Meßgerät", das die Wirkungen menschlicher Tätigkeiten anzeigt.

Seit der Unterzeichnung des Antarktis-Abkommens (1961) hat sich der Kontinent überaus stark verändert. Wahrscheinlich am bedeutendsten ist der allgemein verbreitete gute Ruf, daß die Antarktis zu einem Gebiet friedlichen Austausches und internationaler Zusammenarbeit geworden sei. Dadurch bekam die Antarktis weltweit eine besondere Funktion, während der Kampf um den Aufbau einer Weltgemeinschaft weitergeht, welche der Zukunft mit Vernunft und mit Optimismus entgegensehen kann.

Die Richtigkeit dieser Vorstellung könnte jedoch ernsthaft in Zweifel gezogen werden.

Anschuldigungen über das Zurückhalten wissenschaftlicher Daten (die angeblich frei zugänglich gemacht werden müßten) durch einzelne Staaten, über Verletzungen der Umweltbestimmungen, die in dem Vertrag und den folgenden Abmachungen enthalten sind, die andauernden UNO-Debatten über die Zukunft der Antarktis zwischen den Vertragsländern und einer immer größer werdenden Gruppe von Entwicklungsländern, all dies scheint auf eine Kluft zwischen dem Mythos und der Wirklichkeit der Antarktis hinzuweisen. Daß diese Kluft schon seit der Zeit vorhanden ist, seit der sich Menschen Vorstellungen von der Antarktis machten, vermindert nicht den Ernst der gegenwärtigen Lage. Es stand noch nie so viel auf dem Spiel: Wir haben heute die Fähigkeit, Bedingungen und Ereignisse herbeizuführen, die tragische Folgen für die ganze Welt haben könnten. Der Verlust der Antarktis, sowohl als Symbol als auch als Modell für eine freimütige Lösung internationaler Streitfälle auf der Basis einer Zusammenarbeit wäre ein Verlust, den wir alle bedauern müßten.

Da die Antarktis ein Gebiet ist, das die meisten Menschen nicht persönlich besucht haben, haftet sie in unserem Geist wie ein Nachbild, das von einem plötzlichen und hellen Aufblitzen zurückbleibt. Genau wie das Eis, das 95 Prozent der Oberfläche der Antarktis bedeckt, wurde dieser Kontinent zur Metapher für Klarheit und Reinheit und für den langsamen, aber unvermeidlichen Ablauf der Zeit, dem Menschen und Dinge unterworfen sind.

Die scheinbare Einfachheit der antarktischen Landschaft und ihres Ökosystems täuschen über verborgene Ordnungssysteme hinweg, die widersprüchlich, komplex und reichhaltig sind. Wenn man darangeht, diese unbekannten Schichten freizulegen, welche nicht sofort wahrgenommen werden können, ergibt sich eine ungewöhnliche und unverhoffte Parallele zwischen der Arbeit von Künstlern und Wissenschaftlern.

In den frühen Tagen der Erforschung der Südpolgebiete nahmen Künstler als "Dokumentatoren" an den Kundfahrten teil, aus Gründen, die sowohl die Wissenschaft als auch die übrige Öffentlichkeit betrafen. Seit dieser Zeit entwickelte sich eine Tradition unter Malern und Fotografen, die in der antarktischen Landschaft ein ungewöhnliches und unwiderstehliches Thema fanden. Darauf geht es hauptsächlich zurück, daß einem bei der bloßen Erwähnung der Antarktis sofort das Bild von Pinguinen und Eisbergen in den Sinn kommt. In den letzten Jahren bekam die Antarktis jedoch wesentlich mehr Bedeutung. Es ist ein Gebiet, dessen Bedeutung weit über seine geographischen Gegebenheiten hinausgeht und tief hineinreicht in das Streben aller Menschen, die Zukunft zu gestalten.

Alle Künstler dieser Ausstellung zeigen eine Verbundenheit mit der Antarktis und empfinden sie als ein Land von großer Schönheit und poetischer Resonanz. In diesem Sinn ist ihre Antwort auf die Antarktis die Folge einer langen Tradition. Für viele dieser Künstler ist diese Wertschätzung mit ihrem Glauben verbunden, daß die schwierigen Fragen über Politik und Umwelt, welche alle Gespräche über die Zukunft des Gebiets beherrschen, genau in den Bereich der künstlerischen Auseinandersetzung fallen. Ihre Arbeiten schlagen ein neues Bild der Antarktis vor, ein Bild, das eine neu entstehende Rolle für die Kunst vorsieht, die sich nicht mehr damit zufrieden gibt, einfach über Gesehenes zu berichten oder es zu bejubeln. Dadurch, daß sie ein Gebiet betreten, das traditionell der wissenschaftlichen Forschung und politischen Debatten vorbehalten war, setzen diese Künstler eine Rolle für die zeitgenössische Kunst durch, welche in einer starken Wechselbeziehung mit dem größeren Gesamtgefüge der Gesellschaft steht und welche die Wechselbeziehung zwischen der Antarktis und ihren bewohnten Nachbarerdteilen im Norden verstärkt.

Durch unsere Vorstellungen von der Zukunft und durch die Erwartungen, die wir in sie setzen, schaffen wir die Möglichkeiten und die Grenzen für das, was Wirklichkeit werden kann. Dadurch, daß diese Kunstwerke mehr als einfache Beschreibungen und Erklärungen bringen, bieten sie die Möglichkeit der Änderung von Entwicklungen, die sonst unvermeidbar scheinen würden. Die menschliche Vorstellungskraft hat buchstäblich die Geschichte und das Vermächtnis der Antarktis geschaffen. Unsere Vorstellungen bilden eine Brücke zwischen dem Vertrauen und dem Exotischen und bringen uns dadurch mit Dingen in Verbindung, die wir nicht kennen können oder die wir niemals erfahren können. Die Forschungstätigkeit wird inspiriert von einer Mischung aus sehr persönlichen Wünschen und breitgefächerten kulturellen Anschauungen und bringt ebenso Aufklärung auf verschiedenen Ebenen.

VORSTELLUNG VON DER ANTARKTIS faßt, für kurze Zeit, die Ideen von Künstlern zusammen, die miteinander eine Zukunft für die Antarktis – und damit letztlich auch für uns – vorschlagen.
Rachel Weiss, Boston 1986