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Ars Electronica 1989
Festival-Program 1989
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Festival 1979-2007
 

 

Ein interaktives Kino
Einige Zeit- und Zeitformmodelle

'Grahame Weinbren Grahame Weinbren

AUSDRUCK INSENSIVIERT
Stellen Sie sich ein filmisches Werk vor, wo der Zuschauer für das, was auf der Leinwand erscheint, verantwortlich ist, ohne daß er auf irgendeine Art und Weise an der Produktion beteiligt gewesen wäre. Ein solches Kino ist technisch schon möglich, und es ist schon einiges dafür produziert worden. Ich will hier beschreiben, was ich als bestimmte wesentliche Charakteristika dieses Mediums betrachte, wenn es als Interaktionskino erfolgreich sein soll.

Es ist im Alltag nicht ungewöhnlich, daß ein Zuschauer mit einem Videobild konfrontiert wird, das er oder sie so oder so beeinflussen kann. Dazu gehört die Erfahrung des idealen Videospiels; tatsächlich sind Videospiele durch die Einschränkung der möglichen Veränderungen, die der Spieler bewirken kann, stark behindert – sogar in neueren Spielen, die eine hohe Qualität (nach Computer-Standard!) graphischer Animation verwenden. Dazu gehört auch die Erfahrung einer Videokamera/Monitor-Kombination, die oft in der Auslage eines Elektrogeschäfts montiert wird, wo man manchmal Passanten sieht, die vor einer Auslage herumspielen und einer Reihe von Monitoren gleichzeitig zuschauen. Den Zuschauern wird es aber bald langweilig, da sie nie etwas anderes sehen als sich selbst.

Videospiele und Schaufensterauslagen gehören aber nicht in den Bereich des Kinos. In einem Interaktionskino wird der Zuschauer die Verantwortung außerdem nicht nur für die einzelnen Details des Bildes teilen – wie bei einem Videospiel –, sondern auch für den Inhalt und den Sinn des Werkes.

Nach meiner Vorstellung von Interaktionskino wird die Beziehung zwischen Zuschauer und Leinwand durch zwei verschiedene epistemologische Zustände definiert. Der eine ist aktiv – das Bild ist auf der Leinwand, weil der Zuschauer so gehandelt hat; der andere ist konjunktiv – wenn der Zuschauer anders gehandelt hätte, wäre ein anderes Bild auf der Leinwand. Zusammen ziehen diese zwei Geisteszustände den Zuschauer in den Leinwandkomplex hinein und definieren seine Beziehung dazu neu. Während der erste Zustand den Zuschauer ermutigt, das Bild mit einem Sinn zu füllen – es ist, in gewisser Weise, "sein" Bild, "ihr" Bild –, soll der zweite den Zuschauer bewegen, die Unvermeidlichkeit des Bildes in Frage zu stellen. Er/sie soll erkennen, daß das Bild ersetzbar ist, und die Leinwand als einen Behälter oder Cache möglicher Bilder sehen. Ich glaube, daß diese doppelseitige Einstellung eine Intensivierung des kinematographischen Ausdrucks ermöglicht. Und aufgrund dieser Intensivierung des Ausdrucks betrachte ich das Interaktionskino als eine wichtige Entwicklung in der Geschichte der Kommunikation.
ZUFALLSZUGANG UND LINEARE STRUKTUR
Die Basis des interaktiven Kinos ist bisher die LaserVideodisk (1), ein Video-Speichermedium, bei dem ein beliebiger Zugriff in beliebiger Reihenfolge zu den gespeicherten Daten möglich ist. Dieser "Random Access" hat weitreichende Konsequenzen. In erster Linie heißt es, daß die Bildersequenz immer wieder verändert werden kann, nachdem das Werk fertiggestellt worden ist. Das ist das Herzstück des interaktiven Kinos – die Bilderdatabase ist im großen und ganzen schon vorgegeben, doch die Bildersequenz wird vom Zuschauer gesteuert. Was dieser Steuerfunktion zugrunde liegt, wieviel Kontrolle der Zuschauer ausüben kann, und auch wieviel er glaubt, ausüben zu können, das sind alles offene Fragen, die je nach individuellem Einsatz des Mediums bestimmt werden. Der springende Punkt ist, meiner Meinung nach, daß es durch Zuschauersteuerung einer Sequenz möglich wird, die Anfang-Mitte-Ende-Struktur des herkömmlichen Kinos zu durchbrechen. Die Videodisk ermöglicht eine neue Konstruktionsart im kinematographischen Medium, eine Konstruktion, die das Lineare umgehen kann.

Es ist eine Binsenwahrheit, daß die Zeit nur in einer Richtung fließt: Jede Erfahrung beginnt zu einem bestimmten Zeitpunkt und endet auch wieder zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt. Mit diesem Argument könnte man dagegen sagen, daß ein Werk des interaktiven Kinos sehr wohl noch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat und daß die Zuschauersteuerung der Sequenz dieses Grundprinzip nicht ändert. Was ich jedoch sagen will, ist nicht, daß ein Werk des interaktiven Kinos irgendwie die Zeit umgeht, sondern daß es eine lineare STRUKTUR vermeiden kann. Wenn ein Zuschauer das Werk in der Zeit ergründen kann, neue Teile einbringen und andere Teile in neuen Zusammenhängen wiederholen, überlagern und in Schleifen zusammenstellen kann, dann werden die herkömmlichen Erzählstrukturen (die klassische Drei-Akte-Entwicklung z.B.) überflüssig. Mit dieser neuen Form kann der Filmemacher endlich davon wegkommen, ein Werk um wiederholte Klimax und Antiklimax, Konflikt und Auflösung, Spannung und Aufhebung strukturieren zu müssen. Oder, anders gesagt, wenn Zuschauerinput das Ende eines Werkes bestimmt, oder – noch radikaler – ob es überhaupt ein Ende hat, dann ist es sinnlos, ein Werk als eine von einer zeitlichen Hülle definierte Gestalt zu betrachten: Seine Form in der Zeit wird nur in der jeweiligen Realisation bestimmt.
ZUSCHAUERINTERVENTION
Der wichtigste Unterschied für den Zuschauer zwischen interaktivem und linearem Kino ist nicht, daß es eine Intervention erlaubt, sondern jedes in einer anderen Zeitlichkeit funktioniert. Doch wenn Zuschauerintervention wirksam sein soll, muß die Innovation in der cinematischen Struktur damit Schritt halten. Das Standard-Interaktionsvideo bleibt am Ende von jedem Segment stehen und bietet dem Zuschauer eine Auswahl von kommenden Segmenten. Dies ist immer noch eine lineare Organisationsmethode; es wäre das Gleiche – bis auf die Bequemlichkeit –, jemanden vor den Kontrollen eines Videowiedergabegeräts mit einem Regal voll mit Videofilmen sitzen zu lassen. Die Erfahrung des Interaktionskinos kann nicht gleich wie die Bedienung einer kostenlosen Musikbox sein. Die Kontrolle in den Mittelpunkt zu stellen genügt nicht. Der Zuschauer muß das Gefühl haben, daß er eine qualitative Änderung bewirkt.

Um dieses Ziel zu erreichen, muß das System ein Gleichgewicht zwischen Kontinuität des Programms und Unterbrechung seitens des Zuschauers herstellen. Auch wenn der Zuschauer das Programm unterbricht und dadurch eine Änderung bewirkt, soll ein Gefühl der durchgehenden Logik und cinematischen Entwicklung erhalten bleiben.

Sind cinematische Entwicklung und Logik möglich in einer nichtlinearen Struktur? Meine Antwort auf diese Frage wird in drei Teilen erfolgen:
  • Der erste beschreibt einige Taktiken, die in dem Video "Der Erlkönig" (The Erl King) verwendet wurden, ein interaktives Videowerk, das ich in Zusammenarbeit mit Roberta Friedman 1986 fertigstellte.

  • Der zweite schlägt einige breitere Erzählungsmodelle vor, die den Zielen des Interaktionskinos wie oben dargestellt entsprechen.

  • Der dritte untersucht die allgemeine Frage, welches Paradigma dieses Medium generell leiten könnte.
DER ERLKÖNIG
Es ist ein Hauptziel des "Erlkönigs", ständige Zuschauerintervention aufnehmen zu können, eine cinematische Maschine zu schaffen, die jederzeit Zuschauerinput aufnehmen und dementsprechend reagieren kann. Obwohl diese Beschreibung auch auf Fernsehen zutrifft – man kann auch jederzeit den Sender wechseln –, bemühen wir uns ernsthaft, einen Vergleich mit dem Fernsehmodell zu vermeiden. Eine vom Zuschauer bewirkte Änderung muß sowohl ersichtlich (sonst könnte der Zuschauer glauben, die Maschine funktioniert nicht) wie auch organisch sein (d.h., sie soll nicht willkürlich oder zufällig wirken). In dem Werk "Erlkönig" haben wir versucht, dieses Gleichgewicht mit Hilfe verschiedener Techniken herzustellen.

Eine Technik ist die, mindestens ein Element des am Bildschirm erscheinenden Komplexes durch jede Unterbrechung hindurch zu behalten (z. B. Fortsetzung des Tons durch Bildveränderung; neue Tonüberlagerung ohne Bildveränderung oder ein neues Bild oder einen neuen Text auf ein schon vorhandenes Bild darüberlegen). In der ersten Filmsequenz z.B. singt die Sopranistin Elisabeth Arnold Schuberts "Erlkönig". Wenn man den Bildschirm berührt, während Arnold singt, wird das Bild der Sängerin durch verwandte Bilder ersetzt, während die Musik sich ohne Unterbrechung fortsetzt. Wenn das Backup-Bild (so heißt diese Struktur in unserem Autorensystem "Limousine") zu Ende geht, kehrt die Sängerin automatisch zum Bildschirm zurück. Dadurch wird den Zuschauern der Eindruck vermittelt, daß sie mit der Maschinerie bei der Fortsetzung des Stückes zusammenarbeiten. Die Musik setzt sich unablässig fort, während auf Bilder, die der Musik entsprechen, durch Zuschauerinput zugegriffen wird.

Eine andere Strategie, die im "Erlkönig" oft verwendet wird, ist mehr direkt. Das Berühren des Bildschirms bewirkt einen Bildwechsel, der auch ohne Zuschauerinput stattgefunden haben könnte. Zum Beispiel: Wenn man die Bildschirmecke unten rechts während der Darbietung des "Erlkönigs" berührt, erscheint eine englische Übersetzung von dem, was gerade gesungen wird. Die Musik setzt sich fort, und nach einigen Sekunden kommt wieder die Sängerin auf den Bildschirm. Ein ähnlicher Schnitt könnte ebensogut in einem linearen Werk erscheinen, wo der Zuschauer nicht eingreifen kann. Es gibt auch viele andere Beispiele, wo das Berühren des Bildschirms einen "guten Schnitt" bewirkt. An einer anderen Stelle kann man den Bildschirm während einer Sequenz von Blumengemälden berühren, und es erscheint sofort ein Bild von künstlichen Blumen, die in einem Fluß gespiegelt werden, und ein Mann am Fluß fängt dann an, eine Geschichte zu erzählen. Wiederum an einer anderen Stelle kann man das Kleid der Sopranistin berühren, und es folgt eine Geschichte von Freuds Mantel, in der das Kleid den Mantel "spielt". Indem auf verschiedenes Material, das mit dem Schubert-Goethe-"Erlkönig" assoziiert wird, zugegriffen wird und durch die allgemeine Verwendung solcher verbindenden Schnitte, die durch Zuschauerinput eingebracht werden, bewegt sich der Zuschauer durch das Werk. In dieser Erforschung entwickelt der Zuschauer allmählich das Gefühl einer narrativen Landschaft, über die das Gedicht aus dem 19. Jahrhundert einen dominierenden Schatten wirft; diese Landschaft widerspiegelt im Grunde das Interesse von Roberta Friedman und mir an dem Gedicht und seiner Erzählung.

Eine dritte allgemeine Taktik ist in Interaktionsmedien schon eher konventionell. Eine Frage erscheint am Bildschirm, und die Antwort des Zuschauers bestimmt, was als nächstes passieren soll. Normalerweise werden Fragen am Ende eines Segments gebracht und werden in der Form "Mehr … T" gestellt. Dieser Mechanismus wird im "Erlkönig" sehr selten verwendet. Er identifiziert das vorangegangene Segment und läßt den Zuschauer eine Wahl treffen: z. B. "Mehr Ausführungen vom Psychoanalytiker Stuart Schneiderman?", "Noch eine Volkserzählung von dem Erlkönig?" oder "Mehr von Zev und den Posaunen-Jims?" Diese Struktur ist die einzige in dem Werk, die mit einem "Aufforderungsapparat" – um die unelegante geläufige Computerteiminologie zu verwenden – eine Ähnlichkeit besitzt.

Unser Interesse an der Verarbeitung des "Erlkönigs", neben der Faszination durch seine Figuren und deren gegenseitige Beziehungen, war eine Erforschung der verschiedenen Möglichkeiten, Filmmaterial auf eine interaktive Weise darzustellen. Mit anderen Worten, ich habe nicht versucht, ein Subjekt zu finden, das zu dem Medium paßt, sondern nach Möglichkeiten gesucht, das Medium nach einem vorgegebenen Subjekt zu richten. Dieser Zugang hat sowohl Vorteile wie auch Grenzen. Der wichtigste Vorteil ist die Möglichkeit, die Wirksamkeit verschiedener Techniken zu untersuchen, von denen manche als Anfang einer Sprache des interaktiven Kinos verwendet werden können. Die radikalste Folge, die dieser Zugang erreichen kann, ist jedoch, daß einige Ideen, Bilder und Texte in diesem Medium besser präsentiert werden können als in einem linearen System. Es wäre eine gute allgemeine Strategie, Material auszusuchen, das sich den Möglichkeiten der linearen Präsentation widersetzt, passendes Material für das Interaktionskino.
DER WOLFSMANN
Die Fallstudie von Freud "Aus der Geschichte einer infantilen Neurose" (1918) ist inzwischen als die "Wolfsmann"-Fallstudie besser bekannt, zum Teil wegen der besessenen Angst des Patienten vor Wölfen, aber noch mehr, weil sie von einer Traumanalyse handelt, worin Wölfe die Hauptrolle spielen. Auf der Suche nach Strukturen für das sich entwickelnde Interaktionskino nehme ich diese paradigmatische Analyse von Freud, weil sie eine Art Erzählungsmodell darstellt, die sich nicht effektiv durch lineares Kino präsentieren läßt.

Der Traum, der dem Arzt von dem jungen Neurotiker erzählt wird, handelt von weißen Wölfen mit buschigen Schwänzen, die auf einem Baum sitzen und den Träumer mit aufgerichteten Ohren anstarren. Der Junge träumte diesen Traum immer wieder, und Freuds Analyse davon bildet einen Schlüssel zu den Ursachen der Neurose des Patienten. In diesem Zusammenhang sind nicht die Details der Analyse wichtig, sondern die Methode und die Struktur der Analyse. Freud deckt allmählich die Komponenten des Traums auf und verbindet jedes Element mit einer Begebenheit aus dem Leben des Patienten. Diese Bedeutung des Traums für den Patienten, die überwältigenden Emotionen, die der Traum in ihm erweckt, können durch die Tatsache erklärt werden, daß der Traum seine größten Ängste als verwandelte Erinnerungen an die Begebenheiten, die sie verursachten, verkörpert. Der Traum ist eine Verdichtung dieser geistigen Bilder, eine Destillation einer Gruppe von emotional stark beladenen Erinnerungen. Aus der Tatsache, daß der Traum in einem wichtigen Sinn diese Bilder verkörpert, entsteht auch seine starke Wirkung. Freud betont immer wieder, daß jede Komponente aus einer gewissen Sicht von dem Träumer verstanden wird: Jede versinnbildlicht eine bestimmte Angst, Hoffnung, Sehnsucht oder einen bestimmten Glauben. Wenn man die Bilder durch die Augen des Träumers sieht – wenn man versteht, wie hintergründige Bilder-Erinnerungen durch die emotionale Situation des Träumers zu Komponenten des Traumbildes verwandelt werden –, dann kann man den Traum verstehen. Und dadurch versteht man wiederum etwas von dem Menschen, der diesen Traum träumt.

Man könnte sagen, daß Freuds Traumbegriff eine Vorstellung des Narrativen ist. (2) Die Ent-dichtung eines Traums ist die Ent-deckung der Erzählung von den ineinanderverwobenen emotionalen Zuständen des Träumers und die Figuren, die die Objekte seiner Gefühle ausmachen. Dies ist jedoch keine Geschichte, die sich zeitlich entwickelt – alle Elemente sind gleichzeitig präsent, wenn auch in einer komprimierten oder veränderten Form. Freud bemüht sich sehr, einen zeitlichen Sinn zu vermitteln, es ist aber ein Argument, das sich sogar für ihn kaum ausdrükken läßt.

Wenn jedoch eine vorstellungskräftige Bildprojektion (im cinematischen Sinn!) durch Zuschauerinteraktion in die einzelnen Komponenten "aufgeteilt" werden kann, kann die wichtigste Bedeutung der Freudschen Traumvorstellung vermittelt werden. Das wichtigste Merkmal des interaktiven Kinos, das ich hervorheben will, ist, daß der Zuschauer sich in einem "konjunktiven" Zustand befinden kann – d.h., es bleibt ihm unübersehbar bewußt, daß es "hinter" oder innerhalb jedes Bildes auch andere Bilder und Bildsysteme gibt, die nicht unbedingt in jeder individuellen Vorführung des Werkes sichtbar werden. Wenn dieses Bewußtsein in eine Vorstellung verwandelt werden kann, daß diese Hintergrundbilder die am Bildschirm sichtbaren Bilder irgendwie ausmachen, dann haben wir eine nichtlineare Erzählung, die der Freudschen Traumerzählung entspricht.
DRAMA
Um diese Idee zu verallgemeinern, kann man sich eine dramatische Handlung vorstellen (einen Mord, eine Liebesgeschichte, einen Streit, einen Krieg oder eine Heimkehr), die am Bildschirm so präsentiert wird, daß der Zuschauer den Verlauf jederzeit unterbrechen kann, um die Bedeutung, die Ursachen, die Konsequenzen und die emotionale Wirkung auf die mitspielenden Charaktere zu ergründen, und danach wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Verschiedenartige Handlungen des Zuschauers könnten auf verschiedene Parallelbereiche zugreifen: z.B. eine abrupte Bewegung mit der Maus oder über den Bildschirm ruft die emotionalen Implikationen des Augenblicks auf, während eine langsame Bewegung eine rationale, erklärende Antwort vom Apparat hervorruft. Die Art, wie ein Zuschauer den dramatischen Augenblick wahrnimmt, wäre durch die Erkenntnis stark erweitert, daß mehrfache Ausdehnungen eines jeden Augenblicks, komprimiert an jedem Punkt, im Werk enthalten sind. Diese Intensivierung hängt nicht davon ab, ob der Zuschauer die verschiedenen Zugriffsmöglichkeiten in Anspruch nimmt – allein das Wissen um ihre Existenz genügt, um die Ausdruckswirkung des Dramas zu verändern.

Horizontale und vertikale Untersuchungen: Avantgarde Film

Diese Ideen stehen in Beziehung zu der Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Entwicklung, wie sie von der Filmemacherin und Schriftstellerin Maya Deren auf dem vieldiskutierten Symposium über "Poesie und Film" 1963 (3) dargestellt wurde. Die Idee von Deren war, daß es möglich sei, die emotionalen Implikationen eines Augenblicks in einer narrativen Zeit als "vertikale Untersuchung" zu ergründen, neben oder anstatt der Entwicklung des Dramas in einer fortlaufenden Erzählung, die sie als "horizontale Entwicklung" bezeichnete. Die Darstellung dieser Unterscheidung von Deren wurde mit Feindseligkeit und Zynismus von zwei berühmten Mitdiskutierenden, Dylan Thomas und Arthur Miller, aufgenommen, und die Implikationen des Themas für das Kino wurden nicht weiter überlegt. Ein offensichtlicher Punkt, der dort nicht zur Sprache kam, ist, daß die Unabwendbarkeit der cinematischen Zeit eine Unterscheidung zwischen vertikaler Untersuchung und horizontaler Entwicklung innerhalb eines Filmwerks sehr schwierig macht. Um diese Zweideutigkeit aufzulösen, bedienen sich Filmemacher oft eines Übergangstricks, wie z.B. eines Wischers oder einer Blende, aber diese können leicht falsch interpretiert werden. Doch die Möglichkeit, den Filmverlauf zu unterbrechen, findet eine natürliche Entsprechung in dieser Vorstellung von Deren. Es ist einem Zuschauer bewußt, daß sein eigener Input einen Abbruch in dem cinematischen Verlauf verursacht, und dieses Bewußtsein wird sicherlich seine Wahrnehmung der Bilder, die durch den Abbruch entstehen, beeinflussen.

Mit dem Namen Maya Deren kommen wir zum Avantgardekino im allgemeinen und einer breiteren Perspektive des interaktiven Kinos. Dies entsteht aus dem Paradigma, das von den Theoretikern des Avantgardefilms oft vorgeschlagen wird, nämlich, daß der Film ein Modell des menschlichen Geistes (model of the mind) darstellt. Eine Tradition des Avantgardekinos betrachtete bestimmte Filme als Versuche, das Geistige darzustellen, meistens als eine Technik der Psycho-Autobiographie. (4) Einige Filmemacher setzen voraus, daß eine treue Widerspiegelung eines inneren Zustands die Komplexität des geistigen Prozesses einbeziehen muß; daß Wahrnehmungen, Sehnsüchte, Hoffnungen, Überzeugungen und emotionsgeladene Erinnerungen gleichzeitig im Bewußtsein präsent sind. Eine solche Gleichzeitigkeit von mehrfachen Geisteszuständen ist jedoch ein Gral der Darstellungskunst, fast unmöglich im linearen Film zu erreichen.

In der geistigen Aktivität des Alltags steht ein einziger Zustand oder Prozeß im Vordergrund; gleichzeitig merkt man, daß es auch andere Geisteszustände gibt, die durch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit in den Vordergrund des Bewußtseins gerückt werden könnten. Der Bildschirm eines Interaktionskinos funktioniert auf eine ähnliche Weise. Während ein Bild präsent ist, steht ein ganzer Komplex von verwandten Bildern zur Verfügung, die man irgendwie als "dahinter" wahrnimmt. Auf diese Weise kann das interaktive Kino ein Gefühl von vielen gleichzeitig präsenten Elementen aufgrund der anfangs dargestellten konjunktiven Wahrnehmung leicht vermitteln. So entsteht ein offeneres Paradigma der Struktur des Interaktionskinos: das Modell eines inneren Zustands im Prozeß – weder der des Zuschauers, noch der des Künstlers, sondern ein fiktiver Geist, der im Werk geschaffen wird.
FALSCHE VORSTELLUNG
Die Vorstellung eines Interaktionskinos als einer Maschine, die die Geschichte erzählt, die dem Zuschauer am besten paßt, habe ich bisher ausgelassen. Nach diesen Vorstellungen wählt der Zuschauer die Elemente der Geschichte aus, wählt Episoden oder Enden oder Charakterzüge, und die Maschine erfindet eine Erzählung, die diesen Elementen entspricht. Der letztendliche Ausdruck dieser Idee ist eine Maschine, die an das Gehirn des Zuschauers anschließt und seine Phantasien veräußerlicht, eine Maschine, die Psycho-Cinema ohne jede wirkliche Produktion produziert. Eine solche Maschine ist nicht nur bis zu einem absurden Grad unmöglich, sie ist das letzte Gerät, das man sich nur wünschen könnte. Die Vorstellung des Interaktionskinos als eines Motors, der Geschichten nach den Wünschen des Zuschauers herstellt, lehne ich ab. An einem Interface, das dem Zuschauer das Gefühl gibt, er hätte eine Geschichte erfunden, bin ich nicht interessiert. Das ist nicht nur eine Illusion, sondern es setzt eine invalide Ästhetik voraus. Kunst hat die Funktion, die eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen zu erweitern, nicht zu verengen, dem Zuschauer eine Vision der Welt zu geben, nicht ihn glauben zu lassen, er hätte eine erfunden.

Ich glaube, daß die Anforderung an den Zuschauer, bei einem Interaktionsvideo Entscheidungen zu treffen, keine Befreiung, sondern eine Belastung ist. Mein Standpunkt zu diesem Thema steht im Gegensatz zu der angeblichen Verbindung zwischen Wahl und Freiheit, die ein Fundament der westlichen Ideologie bildet. Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung wird in dieser Ideologie etwas beiseitegeschoben, doch es ist der Sinn für Verantwortung für das, was auf dem Bildschirm erscheint (ohne daß es gewählt wurde), der mich interessiert. Das allgemeine Paradigma, das ich vorschlage, ist das einer Maschine, die auf die Antwort des Zuschauers Antwort gibt. Aufgrund sofortiger Erfahrung des Werkes bewirken Handlungen des Zuschauers entsprechende Änderungen am Bildschirm.
DIE ANTWORTGEBENDE MASCHINE
Ein wirksames Bild kann den Wunsch nach anderen Bildern hervorrufen: Film-editing hängt von diesem Prinzip ab. Im Gegensatz zu diesem Wunsch stimmt irgendetwas wahrscheinlich nicht, wenn ein Bild in einem Zuschauer den Wunsch nach Kontrolle (6) erweckt. Bilder rufen Antworten hervor, und ich stelle mir eine Maschine vor, die darauf reagiert. Es ist ähnlich wie ein Gespräch, wo die Reaktion des einen Gesprächspartners die Meinung oder das Verhalten eines anderen beeinflussen kann, aber der eine Gesprächspartner wählt nie aus, was der andere als nächstes tun oder sagen wird.

Autor Gene Youngblood beschreibt interaktive Kunstwerke als "Gespräch" (conversational) (7)" wobei er meint, daß sie bestenfalls als Umgebung funktionieren, wo man Kommunikation durch die Maschinerie mit dem Künstler aufnehmen kann. Meiner Meinung nach ist diese Position von Youngblood zu einengend. Ich stelle mir lieber vor, daß die Interaktion zwischen dem Zuschauer, dem Künstler und einem Netzwerk von Hardware, Software und Programmen stattfindet. Das System kann als ein Vertreter des Künstlers betrachtet werden, wenn man nur erkennt, daß jedes Medium seinen Verwendern Grenzen setzt, während es gleichzeitig unvorhergesehene Möglichkeiten ausnutzt. Was zum Ausdruck gebracht werden kann, ist im allgemeinen eine Funktion des verwendeten Mediums: Das gilt insbesondere für das Interaktionskino, wo es noch kein System der Konventionen gibt. Mit anderen Worten, die Systeme, die für den Entwurf und die Vorführung eines Werks des Interaktionskinos verwendet werden, müssen als ein Beitrag zu der Aussage des Werkes betrachtet werden: Die Stimme der Maschinerie ist fast so laut wie die des Künstlers.

In der Interaktionskino-Produktion muß man, meiner Meinung nach, einen klaren Weg durch Kontrolle, Mitwirkung und passive Wahrnehmung ansteuern. Ein unkontrollierbares Spektakel, das sich mit der Zeit entfaltet und wie eine Welle über den Zuschauer rollt, ist ein wichtiger Genuß des Kinos. Das InteraktionsKINO muß das richtige Gleichgewicht zwischen Kontrolle durch und Kontrolle über den Zuschauer finden, wenn es die Stärke des traditionellen Kinos behalten will.

"Ersatzreisen" (surrogate travel) ist die Metapher, die am ehesten mit diesem Medium in Verbindung gebracht wird; der Zuschauer verwendet den Mechanismus, um Geographie zu erforschen. Doch Reisen muß nicht begrenzt sein. Der Topos der Erforschung kann eine narrative Landschaft sein oder eine musikalische, eine poetische, eine psychologische oder eine philosophische. Jede Landschaft bietet eigene Belohnungen und Genüsse, doch keine findet man außerhalb des Interaktionskinos.

Ursprünglich abgedruckt in NEW OBSERVATIONS, New York, Nr. 70, 1989, ausgewählt und redigiert von Regina Cornwell

(1)
Vor kurzem sind zwei Methoden zur digitalen Lagerung von auf Photographie basierenden Bildern auf Compaet Discs entstanden; eine ist CD-I (Compact Disc Interactive), die andere ist DVI (Digital Video Interactive). Bis jetzt kann keine dieser Methoden ein Bewegungsbild mit annehmbar hoher Auflösung erzeugen, um als ernsthafter Kandidat für das Interaktionskino in Frage zu kommen.zurück

(2)
Siehe: Roy Schafer, Narration in the Psychoanalytic Dialogue, in: Critical Inquiry, Vol. 7, No. 1, Autumn 1980.zurück

(3)
Poetry and the Film: A Symposium with Maya Deren, Arthur Miller, Dylan Thomas, Parker Tyler. Chairman, Willard Maas. Organized by Amos Vogel, in: Film Culture Reader, P. Adams Sitney (Hg.), New York: Praeger 1970.zurück

(4)
Siehe: P. Adams Sitney, Autobiography in Avant-Garde Film; Annette Michelson, Toward Snow, beide in: P. Adams Sitney (Hg.), The Avant-Garde Film: A Reader of Theory and Criticism (New York: New York University Press 1978).zurück

(5)
Stan Brakhage und Yvonne Rainer, in den meisten Belangen zwei sehr verschiedene Filmemacher, können manchmal einen Grundton der Ideen in ihren Filmen beihalten. Z.B. in "Journeys to Berlin" (Reisen nach Berlin) kehrt Rainer immer wieder zu Variationen über ein Bild eines Kaminsimses zurück, so daß das Bild in den Gedanken des Zuschauers durch den ganzen Film präsent bleibt, während die verschiedensten anderen Themen auftauchen und wieder verschwinden. Dieses wiederholte Bild funktioniert wie ein sich wiederholender Traum oder eine Zwangsvorstellung: Es ist immer da in den Gedanken und färbt die Reaktion auf jede Erfahrung. Unter Verwendung der fast gegensätzlichen Techniken der subjektiven Kamera und der ausführlichen Schnittarbeit kann Brakhage erreichen, daß ein einziges "Mindset" einen ganzen Film beherrscht. Seine stärksten Werke zeigen momentane emotionale Zustände in ihrer ganzen Komplexität und dienen als Fenster zum Bewußtsein des Filmemachers.

(6)
Man kann sich leicht auch Fälle vorstellen, wo alles in Ordnung ist, ja wo dies die vom Künstler beabsichtigte Wirkung ist. Aber ich glaube, es wird klar sein, daß diese die Ausnahmefälle sind.zurück

(7)
Bei "Continuity and Interruption", eine Konferenz über interaktives Video, Kitchen Center für Video und Music, Januar 1988.
Siehe auch: G. Youngblood, Metadesign, in: P. Weibel (Hg.), Das orbitale Zeitalter, Wien: Hora 1987.zurück