www.aec.at  
Ars Electronica 1989
Festival-Program 1989
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Phänomenologie der Synthese


'Konrad Becker Konrad Becker

"What you hear is what you get, but you get what you hear"
(Prof. Reiner Lärm).
Das interaktive Gewebe unserer kulturellen Organisation wird in zunehmendem Maße als Simulation erklärt. Dieser Begriff ist wohl nicht erst in einer von Computertechnologie geprägten Gesellschaft von Bedeutung, sondern scheint ein Schlüssel zu den verschiedenartigsten Ausprägungen kultureller Identität. In diesem Zusammenhang erscheinen kulturelle Kontinuitäten bzw. Synchronizitäten von Interesse, die sich als (rote?) "Fäden" durchs Raumzeitkontinuum schlängeln. Nimmt man das Bild eines kulturellen Nervengeflechts, an dessen Kreuzungen und Synapsen sich quasizufällige Wirklichkeitsentstehungen in symphathetisch interaktiven Mustern immer aufs neue herausbilden, erscheinen die Grenzen der Zufälligkeit dieser selbstähnlichen Muster von besonderer Attraktivität. Untersucht man die Kreuzungspunkte dieses Systems von Informationskanälen, so stößt man auf den Begriff der Trivialität.

Das Wort "trivial", in einem Quasi-Esperanto als Kreuzungspunkt von (mindestens) drei Wegen zu deuten (tri via), also einem traditionell um Mitternacht verrufenen Ort, an dem die Geister beschworen wurden, hat sich im deutschen Wort "Allgemeinplatz" erhalten.

Ein triviales Beispiel einer kulturellen Kontinuität/Synchronizität zeigt sich anhand des Öl/Wasser-Komplexes: Der reisende Pilger aus geschichtlicher Zeit "bedankte" sich an den besonders gekennzeichneten (sakralen) Stationen seiner Reise mit Opferungen von Ölprodukten und versorgte sich mit "geweihtem" Wasser, während heute der zeitgenössische Reisende sein Automobil an fast denselben Stellen, den totemhaft geschmückten "Tankstellen", "betankt" und mit Wasser und "peumatischem Service" versorgt. In einem beunruhigend engen Zusammenhang finden wir dann noch den "Butterberg" der EWG, den neutestamentlichen "Ölberg", Tannhäusers "Venusberg", den nachsintflutlichen "Ölzweig", die "Ölkrise" und weiß der Teufel was für fremdartige und irrationale Ritualisierungen einer obskuren Ikonographie.

Es scheint, daß der Allgemeinplatz und sein Zwischenraum in einer geheimnisvollen Beziehung zum "kulturellen Feld" stehen.

Nachdem die Physik bereits Feldtheorien vorgestellt hat, entstehen nun z.B. in der Biologie Theorien, die sich aus unzureichend geklärten Fragen der Muster und Formbildung ergeben haben und – über einen "hardwaremäßigen" Aspekt der biologischen Organisation hinausreichend – beispielsweise über "morphische Felder" spekulieren.

Nachdem sich der Computer als Erklärungsmodell unserer Informationsverarbeitung nicht sonderlich bewährt hat, könnten auch auf diesem Gebiet neue Aspekte ins Blickfeld rücken. In zunehmendem Maße drängt sich die "verborgene" Welt der Wellen und Felder ins Bewußtsein: vom Elektromagnetismus zur "unsichtbaren" Radioaktivität, von Röntgen und Radar bis Mikrowelle und Satelliten-TV.

Ist die Zeit reif für eine kulturelle "Feldtheorie"? Das bedeutet aber möglicherweise auch, sich im "radioaktiven" Chaos wiederzufinden.

Und wenn man einen weitreichenden Teil unserer neurologischen Organisation als portables "Radio" identifizieren könnte, erklärt sich auch, warum die kleinen grünen Männchen vom Mars Antennen auf dem Kopf haben!
CHAOS IN ORDNUNG (1987)
Natur und Geisteswissenschaft ist zunehmend mit dem Paradoxen und Unangreifbaren konfrontiert. In Wissenschaft und Kunst entstehen Formen, sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen, die nicht ohne Auswirkungen auf unsere Kultur und Gesellschaft bleiben können.

Durch die Einsicht, daß polare und oft paradoxe Gegensätze durch subtile Wechselwirkungen miteinander verbunden sind, ergab sich der Begriff der Komplementarität. Er bezieht sich z.B. auf das Teilchen/Welle-Paradox des Photons beziehungsweise Elektrons, das unter verschiedenen Beobachtungsbedingungen gegensätzliche Eigenschaften aufweist. In ähnlicher Weise wurden Raum und Zeit in dem Begriff Raumzeit zusammengefaßt, Energie und Masse in der Formel e = mc2 vereint. Der Verifikation einer Theorie wurde die Falsifikation zur Seite gestellt, und der österreichische Quantenphysiker Erwin Schrödinger entdeckte eine Katze, die gleichzeitig lebendig und tot ist. Auch der Dualismus von Geist und Materie scheint fragwürdig, da es Materie in der traditionellen Bedeutung des Wortes garnicht gibt. Bei einer Verfeinerung unserer Sinnesorgane würden wir die Welt nur als nebeligen Schleier wahrnehmen.

Arthur Koestler nannte die Wahrscheinlichkeitstheorie den Sprößling des Paradoxen, der sich mit der Mathematik vermählt hat. Dieser Verbindung verdanken wir u.a. die Errungenschaften der Computertechnologie. Trotz der langsamen und mühsamen Anerkennung des Zufalls durch die Wissenschaft scheint die Erforschung der komplexen Dynamik des Zufalls ein Schlüssel zu den Grundlagen unseres Weltverständnisses zu sein. Offensichtlich gewinnt in diesem Zusammenhang auch das sogenannte Chaos einen neuen Stellenwert. Obwohl Chaos vielfach einen schlechten Namen bekommen hat, steht es doch in Komplementarität zu Ordnung. Chaos oder Ordnung hängt vom jeweils gewählten Beobachtungsrahmen ab, wie die Dekodierung einer verschlüsselten, scheinbar chaotischen Information nur die Anwendung des jeweils richtigen Bezugsrahmens erfordert.

James Joyce prägte in seiner Erzählung "Finnegan's Wake" das Wort Chaosmos, das eine Synthese dieses Paradoxes ausdrückt.

"Chaos ist in Ordnung", mag sich Niels Bohr gedacht haben, als er das chinesische Yin-Yan-Symbol der Verschmelzung der Gegensätze zu seinem Wappenzeichen wählte. Chaos bedeutete ursprünglich nicht nur Unordnung, in dem Sinne, wie z.B. Lilien auf einem Feld blühen, sondern auch das leere Nichts, die Öde. Apeiron, das griechische Wort für Unendlichkeit, bezeichnete auch das ursprüngliche Chaos, aus dem die Welt entstand.

Offensichtlich gibt es schon seit langer Zeit kulturelle Strömungen, in denen nicht nur die Komplementarität der Leere erkannt wurde, sondern auch der praktischen und persönlichen Erfahrung von Leere durch psychophysische Techniken große Bedeutung zugemessen wird. Der amerikanische Wissenschaftler John Lilly bezeichnete den von ihm entworfenen Isolationstank, in dem durch den Entzug aller Sinnesreize, einer Konfrontation mit nichts als sich selbst, Zustände veränderten Bewußtseins ausgelöst werden, als ein Loch im Universum.

Aber auch die moderne Physik erforscht die chaotische Leere, in der sie, verschärft durch die Unschärferelation von Heisenberg, sich mit Kratzern und Flecken in einer Schattenwelt verwischter Spuren der Materie beschäftigt. Ausgehend von einem Begriff des Paläontologen Cuvier im vorigen Jahrhundert, entwickelte sich in der mathematischen Differentialtopologie die Katastrophentheorie. Stanislaw Lem prognostizierte in seinem Buch "Das Katastrophenprinzip" die kreative Zerstörung zum Leitthema des 21. Jahrhunderts. Er beschreibt die Welt als eine Anhäufung zufälliger Katastrophen – von strengen Gesetzen bestimmt – und nennt schwere globale und intergalaktische Katastrophen als Vorbedingung für die Entwicklung menschlichen Lebens. Die Biologie hat ein besonderes Augenmerk auf dissipative Strukturen gerichtet, offene, instabil fluktuierende Systeme dynamisch/komplexer Rückkoppelungen, die in höhere Ordnungen zusammenbrechen und an der biologischen Organisation lebender Organismen beteiligt sind. In ähnlicher Weise wurden mit sogenannten Mandelbrotfractals, mit Hilfe von Computern, die Phasenübergänge von geordneten zu angeordneten Zuständen, aber auch die Mechanismen der Morphogenese und Selbstähnlichkeit untersucht. In der Entwicklung rückbezüglicher Schleifen (feedback) zeigt sich eine enorme Komplexität (Apfelmännchen).

Es scheint, daß auch die Katastrophe vom unendlichen Rückzug der Berechnungen in eine schöpferische Perspektive umzuschlagen beginnt. Die seltsamen Eigenschaften von rückbezüglichen Schleifen, die in die Unendlichkeit, aber auch ins Nichts weisen, wurden unter anderem in dem Buch "Gödel, Escher, Bach" beschrieben, sind aber auch in der "nichteuropäischen" Welt von besonderer Bedeutung gewesen. In dem Maße, in dem sich bei uns der Wissensstrom zu einer nichtmechanischen Wirklichkeit entwickelt, erscheint auch das Weltall in zunehmendem Maße eher als ein großer Gedanke, als eine große Maschine, vergleichbar mit der nicht raumzeitlichen Ausdehnung unseres Denkens.

Nachdem schon die Leere des Vakuums als hochenergetische Wechselwirkung virtueller Teilchen erkannt wurde, arbeitet die Naturwissenschaft inzwischen bereits mit dem Imaginären und Immateriellen, wie z.B. einer zusätzlichen Dimension durch imaginäre Zahlen bei Fraktalen oder dem Psi-Feld eines immateriellen "Mediums", in dem sich Teilchenwellen bewegen, oder auch dem imaginären "Dämon" Maxwells.
Es sieht so aus, als entwickelte sich das Zeitalter des Materialismus zum Zeitalter des Chaos. Vielfach zeigen sich verfehlte Ansätze von "Ordnungsliebe" in unserer Zivilisation anhand der Entropiegesetze: Gigantische Zerstörung überlebenswichtiger biologischer Netzwerke, Umweltverseuchung etc. sind Folgen des "ordnenden" Eingriffs von Menschen und geben eine immer deutlichere Vorstellung von den Auswirkungen eines einseitigen Weltbilds.

Zwei Seiten einer Medaille zu betrachten sollte wohl das Minimum einer Beobachtung sein. Quantenlogik erfordert zumindest eine dreiwertige Logik, bestehend nicht nur aus ja oder nein, sondern aus ja, nein und vielleicht.

Es scheint einiges darauf hinzuweisen, daß wir lernen müssen, mit einer noch höherwertigen Logik umzugehen, z.B. in der vierfachen Form von ja, nein, ja und nein sowie weder ja noch nein. Diese perspektivische Erweiterung ist wohl auch die Vorbedingung für die Erfahrung "polymorpher Sinnlichkeit". In jedem Fall erweist sich die mehrwertige Logik als die höhere Logik, indem sie uns eine Wahrnehmung des Poliversums erlaubt.
WELTEMPFÄNGER
Echtzeitkomposition für einen tropfenden Wasserhahn und 12 Radioweltempfänger

Transkontinentale Frequenzkoppelung als experimentelle Kultursynthese im Sinne von "cultural engineering". Multisynchron-Funk als polyrhythmische Schule transkultureller Perzeption, struktureller Vielklang als assoziative Logik.

Superposition von Ordnungen als komplexe Ordnung, Chaos und mehrdimensionale Ordnung, z.B. in Dissonanz und Mehrdeutigkeit, wird zu einer neuen Qualität des Bezugsrahmens. Monotonie und "Reizübersteuerung" als "Identifizierungsspiel" zwischen Signal und Geräusch.

Regeneratives Prinzip bei Umsetzung "aus der Luft gegriffener" Programmstrukturen, "geerdet" durch den Rhythmus eines tropfenden Wasserhahns, "verankert" als aktives Symbol nichtlinearer Oszillation (Der tropfende Wasserhahn – ein Instrument zur Erfassung des Phasenraums "Seltsamer Attraktoren"), in einer Komplementärsituation von (Radio-) Welle und Partikel (Tropfen). "Musik" als offenes, instabil fluktuierendes System zwischen "Chaos" und "Code".

Das Mischpult als zentrales Instrument einer Reise in den Klang wird zur Ikone des transkulturellen "Megamix", Synthese zum zentralen Element auraler Nautik "subjektiver Wissenschaft".