WAS IST ORIGIN?

Ars Electronica 2011 / Curatorial Statement

von Christine Schöpf und Gerfried Stocker (Künstlerisches
Direktorium Ars Electronica)

Der unstillbare Hunger nach Erkenntnis; die Lust daran, Neuland zu betreten und altes Wissen auf den Kopf zu stellen; der Wunsch, herauszufinden woher wir kommen; die Sehnsucht, unserer Existenz eine Bedeutung zu geben und uns in einem gesamtheitlichen Modell des Universums zu verankern. Die Befriedigung, wenn es gelingt diesen Dingen nahe zu kommen, sie zu erklären, zu beschreiben, auszudrücken. Diese so ganz und gar grundlegenden Wesenszüge des Menschen sind die gemeinsamen Quellen für Kunst wie für Wissenschaft. Sie sind die Triebkräfte aus denen Neues entsteht.

ORIGIN – wie alles beginnt

In Zusammenarbeit mit CERN, an dem über 8000 WissenschaftlerInnen aus zig Nationen die Grenzen unseres naturwissenschaftlichen Verständnisses durchbrechen, um die Entstehung des Universums und den Ursprung aller Materie nachvollziehen zu können, widmet sich die Ars Electronica 2011 der faszinierenden Welt der Spitzen-­ und Grundlagenforschung.

Dabei geht es aber auch um einen neuen Blick auf die eigentliche Bedeutung von Orten und Einrichtungen wie CERN: Sind sie doch Modell für Freiräume des Denkens und Erfindens, wie sie nicht nur für die Wissenschaft unverzichtbar sind, sondern auch für das Entwickeln zukunftsfähiger Gesellschaftsentwürfe so dringend notwendig wären.

Ars Electronica auf der Suche nach dem Ursprung

Wenn man einmal die Anlagen von CERN aus nächster Nähe betrachten konnte, ja vielleicht sogar die hundert Meter unter der Erde liegenden riesigen Detektoren gesehen hat, dann kann man nicht umhin, dies alles als das technisch und wissenschaftliche Weltwunder unserer Zeit anzusehen. Und vielleicht muss man es wirklich selbst gesehen haben, selbst dort gewesen sein, um diese Begeisterung zu verspüren, angesichts der gigantischen Dimensionen und der schier unendlich vielen technischen Komponenten, mit denen man Teilchen auf der Spur ist, die nur wenige Nanosekunden lang existieren und nur unter Energiedichten entstehen, wie sie eine Milliardstel Sekunde nach dem Urknall geherrscht haben. Denn erst die Dimensionen dieser Anlagen im Vergleich zum eigenen Körper geben diesen völlig abstrakten Termini etwas Begreifbares – zumindest einen Hauch davon.

Noch viel mitreißender als die technischen Anlagen aber sind die Begeisterung und Hingabe der ForscherInnen, denen man auf Schritt und Tritt begegnet. Denn zum wahren Weltwunder wird CERN erst durch die mehr als 8000 Menschen, die hier arbeiten, und die vielen Länder, die all dies finanzieren.

Und wie ein Wunder scheint es auch, dass es in unserer so radikal auf Effizienz und auf schnellen Return on Investment ausgerichteten Welt einen solchen Ort überhaupt (noch?) geben kann. Einen Ort, an dem über 15 Jahre lang an einem Messinstrument gebaut wurde (das größte dieser Art weltweit übrigens), das nun wiederum für viele weitere Jahre zum Einsatz kommt, um Dinge zu erforschen, die zumindest auf sehr lange Sicht keinen industriellen Nutzen hervorbringen, sondern „nur“ unser Wissen über die Grundlagen der Materie ein kleines Stück erweitern werden.

Vielleicht geht es aber gar nicht so sehr darum, ob man am CERN nun das Higgs-­Teilchen findet oder nicht. Vielleicht liegt die wahre Rechtfertigung für CERN vielmehr in dem einzigartigen Freiraum, der damit geschaffen wurde, dessen Wert für unsere Gesellschaft in der kompromisslosen Widmung für die Grundlagenforschung liegt und in dem, was tausende von jungen WissenschaftlerInnen an Motivation, Austausch und Inspiration von dort mitnehmen. Und so muss man CERN auch als ein Modell sehen – ein Modell dafür wie Orte beschaffen sein müssen, um Neues entstehen zu lassen. Und zwar nicht nur neue Erkenntnisse der Physik, sondern neues Denken überhaupt. Neue Paradigmen und neue Ideen.

Denn nur aus solchen Freiräumen heraus können wir auf die wirklich notwendigen, auf die unerwarteten, radikalen Neuerungen, auf Ideen und Konzepte hoffen, die wir so dringend brauchen, um Wege in eine tragfähige Zukunft zu entwickeln.
Natürlich gilt das nicht nur für ein großes Forschungszentrum wie CERN. Sondern auch für die vielen kleinen Forschungseinrichtungen und die vielen verschiedenen Bereiche der Grundlagenforschung, Etwa für die Quantenphysik, die uns knapp hundert Jahre nach ihrer Entdeckung immer noch an unsere kognitiven Grenzen führt und in wunderbarer Weise dazu zwingt, neue Wege des Denkens zu beschreiten.

Freiräume, Freigeister, Spielräume … wo alles beginnt

Mit der Bezugnahme auf CERN geht es der Ars Electronica 2011 um ein Statement für die Wichtigkeit von avancierter Grundlagenforschung und um eine Faszination, die darin liegt, die Grenzen unseres Wissens und Verstehens zu erweitern.

Noch vielmehr geht es aber um die Frage nach den Umständen und Rahmenbedingungen, die notwendig sind, damit Neues entsteht und wie daraus eine gesellschaftliche Dynamik entwickelt werden könnte. Und damit sind wir an einem Punkt, an dem sich Forschung und Kunst ganz eng nebeneinander finden und nicht mehr nur Ausdruck menschlicher Sehnsucht nach Erkenntnis sind, sondern Garant und Indikator für Offenheit, Entwicklungs-­ und Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft werden.

Unter dem Eindruck der immer schwerwiegenderen Folgen des ökologischen Raubbaus, einer rücksichtslosen und enthemmten Wirtschaft und einer zunehmend machtlosen und gestaltungsunfähigen Politik wird allerorts das Fehlen von zukunftsfähigen Modellen und Visionen, von politischen wie philosophischen Utopien beklagt. Doch wo sind die Quellen für jene Dynamiken, für den Mut und die Risikobereitschaft, die wir brauchen, um eine Gesellschaft aus einer Position der Prosperität heraus zu hinterfragen und erneuern? Diese Suche nach neuen gesellschaftlichen Paradigmen, nach Lebens-­ und Gesellschaftsentwürfen, die uns aus den Krisen unserer Zeit heraushelfen können, scheint genauso schwierig, wie aus bis zu einer Milliarde Proton-­Kollisionen pro Sekunde und den Millionen von Messwerten, die dabei anfallen, die Spuren genau jenes Teilchens herauszufinden, von dem man noch nicht einmal mit Sicherheit sagen kann, ob es überhaupt existiert.

So ist die Suche nach dem Ursprung von Materie, wie sie in CERN vorangetrieben wird, mehr als nur eine symbolische Analogie für die Bewältigung der großen Herausforderung der wir uns gegenübersehen, wenn wir diese Welt auch für unsere Enkelkinder erhalten wollen.

Die Kavernen tief unter dem Jura-­Massiv sind mit ihren ultimativen technischen Anlagen nicht nur die Kathedralen unserer Zeit. CERN ist auch Refugium, für das, was uns vielleicht mehr als alles andere zu Menschen macht: Unser unstillbarer Hunger nach Erkenntnis. Denn auch wenn wir alle wissen, dass wir den Ursprung nie erreichen werden: Der Weg dorthin – oder vielmehr diesen Weg zu suchen – ist das Ziel und jeder Schritt auf diesem Weg ist ein Manifest des Menschlichen, unseres Genies genauso wie unserer Hybris.

Die Geschichte des ARS ELECTRONICA FESTIVALS

Wenn wir aufhören, Kunst und Wissenschaft zu betreiben, hören wir auf, Menschen zu sein.Am 18. September 1979 beginnt das allererste ARS ELECTRONICA FESTIVAL. Ein Pilotprojekt, das die heraufziehende digitale Revolution zum Anlass nimmt, nach der Zukunft zu fragen und diese Recherche an der Schnittstelle von KUNST, TECHNOLOGIE und GESELLSCHAFT ansiedelt. Mit dieser bis heute gültigen Philosophie legen der damalige Intendant des ORF-Landesstudios Oberösterreich HANNES LEOPOLDSEDER, Elektronikmusiker HUBERT BOGNERMAYR, Musikproduzent ULRICH RÜTZEL und der Kybernetiker und Physiker HERBERT W. FRANKE den Grundstein für die Erfolgsgeschichte der Ars Electronica.

Vom Pilotprojekt zum Welterfolg

Binnen weniger Jahre entwickelte sich die Linzer Veranstaltung zu einem der wichtigsten internationalen Festivals für Medienkunst. Symposien, Ausstellungen, Performances, Interventionen und Konzerte – zunächst nur alle zwei Jahre ausgerichtet, gestaltet sich das Festival ein ums andere Mal facettenreicher. Ab 1986 findet das Festival jedes Jahr statt und verschreibt sich stets einem spezifischen Thema. Auch sucht man nun gezielt nach „neuen Orten“, überhaupt wird das konsequente Verlassen klassischer Konferenz- und Kulturräume und das Hinaustragen der künstlerisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung in den öffentlichen Raum schon bald zum Markenzeichen. Ob im Linzer Hafen oder Bergstollen, im Kloster oder in der Industriehalle, das Festival versteht sich stets als Auseinandersetzung mit und in der Öffentlichkeit.

Einzigartiger Spirit

Bestritten 1979 noch 20 KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen das Programm des Festivals, beteiligen sich mehr als drei Jahrzehnte später mehrere Hundert KünstlerInnen, Netzwerk-NomadInnen, TheoretikerInnen und TechnologInnen aus aller Welt. Rund 550 JournalistInnen und BloggerInnen berichten jedes Jahr von der Ars Electronica. Vor allem aber die rund 35.000 BesucherInnen tragen maßgeblich zum einzigartigen Spirit des Festivals bei – ein bunter Mix aus „alten Bekannten“ und „neuen Gesichtern“.

Informationen zu den bisherigen Festivals finden Sie im Archiv.

Visualization by Joao Pequenao, Atlas Experiment © 2011 CERN, siehe Festivalsujet