Nach Revolution, von Innen: Interview mit Lina Ben Mhenni

Dies ist ein Gastartikel von David Sasaki, gemeinsam mit Isaac Mao Kurator vom Public Square Squared symposium am 4. September 2011.

Ich habe Lina Ben Mhenni zum ersten Mal beim zweiten Arab Bloggers Meeting in Beirut, Libanon vor zwei Jahren kennengelernt. Das Treffen, von der Global Voices Advocacy und der Heinrich Boll Stiftung organisiert, zielte darauf ab, das regionale Netzwerk von arabischen Bloggern, OnlineaktivistInnen und Zivilorganisationen zu stärken. Lina bloggte schon seit 2006 von Tunesien aus, oft über das eingeschränkte Recht auf Meinungsäußerung, aber erst im Jahr 2009 sollte sie zu einer Vollblutonlineaktivistin werden, als sie die Kampagne zur Befreiung von Mohamed Soudani koordinierte, einem jungen tunesischen Studenten, der inhaftiert wurde, nachdem er internationalen Medien Interviews gegeben hatte.

Vor zwei Jahren konnte man nicht wirklich eine tunesische Revolution vorhersagen, die das Ende der 25 jährigen Diktatur von Präsident Zine El Abidine Ben Ali bedeuten würde. Lina war sowohl aktive Teilnehmerin an als auch Beobachterin der Protestbewegung, die zur Revolution führen sollte. Sie hat vor kurzem ihr Buch veröffentlicht, das hoffentlich bald in Englisch erscheinen wird, in dem sie über ihre Erfahrungen als Aktivistin und Journalistin spricht.

Lina Ben Mhenni wird uns in Linz aus erster Hand über ihre Erfahrungen während der tunesischen Revolution berichten, und außerdem zeigen, wo ihr Land gerade hinsteuert. Ich habe ihr im Vorfeld ein paar Fragen per email geschickt, um einen Einstieg in die Diskussion während der Ars Electronica zu schaffen.

Lina

David Sasaki: Von außen betrachtet habe ich den Eindruck, dass zunächst sehr wenige internationale Medien über die Anti-Regierungsproteste in Tunesien berichteten und erst als eine kritische Masse erreicht war, haben einige Gruppen, wie beispielsweise Anonymous oder Wikileaks begonnen, sich als Verantwortliche für diese Bewegung zu präsentieren. Wie sieht diese Situation für jemanden, der direkt an der Quelle des Geschehens beteiligt war, aus?

Lina Ben Mhenni: Zu Beginn berichteten wenige internationale Medien über die Proteste, weil einerseits viele von ihnen die Wichtigkeit dieser Bewegung unterschätzten, und andererseits hatten sie mit strengen Richtlinien seitens der Regierung zu kämpfen. Als eine gewisse Größe der Bewegung erreicht war, stieg naturgemäß das Interesse, einigen gelang es, sich im Land zu bewegen, andere verwendeten Bilder und Videos von tunesischen Cyber-AktivistInnen. Aber ich glaube nicht, dass Anonymous oder Wikileaks hier eine große Rolle spielten. Die von Wikileaks veröffentlichten Depechen waren lediglich eine Bestätigung dessen, was das tunesische Volk bereits über die Regierung, über Ben Ali, seine Frau und seine Familie wusste. Später (2. Jänner 2011) unterstützte Anonymous die tunesischen Cyber-AktivistInnen, in dem sie Website der Regierung angriffen. Die Tunesierinnen und Tunesier, die an den Protesten beteiligt waren, waren sich der Wichtigkeit von Informationen bewusst und verbreiteten soviel Bild- und Videomaterial wie möglich.

DS: Es sieht so aus also ob zwei gegensätzliche Katalysatoren zu dieser Revolution geführt hätten. Die eine Seite sieht die Jugendarbeitslosigkeit und der Selbstmord von Mohamed Bouazizi als zentralen Faktor, die andere sieht die fehlende Meinungsfreiheit, die Korruption und den Einfluss von Wikileaks als wichtiger an. Auf Global Voices hast du über beide Probleme gesprochen, lange bevor die englischsprachige Presse sich irgendwie für diese Thema interessierte. Letzten November hast du detailliert über die Anti-Zensur-Kampagne „Launch a Blog“ und über Nawaat’s Tunileaks-Projekt geschrieben. Im Dezember hast du über die Onlineorganisation von Protesten, die auf den Selbstmord von Mohamed Bouazizi reagierten, geschrieben. Was war der zündende Funke für die Revolution?

LBM: Wie gesagt, ich glaube nicht, dass Wikileaks der Katalysator für die Revolution war. Ganz sicher haben die Menschen, die nach der Selbstanzündung von Mohamed Bouazizi auf die Straße gingen noch nie etwas von Wikileaks gehört. Die Mehrheit der Leute, die den Protest austrugen, haben noch nie das Internet benutzt. Sie gingen auf die Straße wegen Arbeitslosigkeit, Armut, Ungerechtigkeit, Einschränkgung der persönlichen Freiheit, Unterdrückung usw. Es hat nichts mit Wikileaks zu tun.

DS: Lass uns über Tunesien heute sprechen, nach der Revolution. Es gab Pläne, im Juli eine vorläufige Regierung zu wählen, doch die Wahlen wurden auf den 23. Oktober verschoben. War diese Entscheidung richtig? Gibt es Befürchtungen, dass die gleichen Leute aus Ben Alis Regierung wieder an die Macht kommen, wenn man nicht sofort neue Leute wählt?

LBM: Zunächst war ich gegen die Verschiebung der Wahlen, aber mit der Zeit habe ich verstanden, dass es die richtige Entscheidung war. Wir müssen uns Zeit lassen mit den Vorbereitungen auf diese Wahl. Und was deine zweite Frage angeht: Ja, es gab Befürchtungen, dass wieder die selben Leute, die für Ben Ali arbeiteten, wieder an die Macht kommen. Sie geben ihr bestes, um diese zu erreichen, haben sich bereits wieder in politischen Parteien organisiert.

DS: Jetzt wo die Diktatur abgeschafft wurde, kann ich mir vorstellen, dass der nächste Schritt in Richtung Demokratie der ist, dass man möglichst viele tunesische BürgerInnen zu den Wahlen bringt. Du hast auf Global Voices geschrieben, dass sich bis jetzt relativ wenige Leute für die Wahl registriert haben, was junge BloggerInnen inspirierte, die „Time To Register“-Kampagne zu starten. Von denen, die vorhaben, zur Wahl zu gehen, wissen 54% noch nicht, wen sie wählen würden. Fruchtet die „Time To Register“-Kampagne? Wieso sind die TunesierInnen so zurückhaltend, wenn sie so hart für Demokratie gekämpft haben?

LBM: Ich glaube, dass die Kampagne ein wenig geholfen hat, besonders unter den jungen Menschen, die das Internet und Facebook nutzen. Die Wahlbehörde hat auch eine großangelegte Kampagne gestartet, die die Leute auffordert, zur Wahl zu gehen. TunesierInnen sind zurückhaltend, weil sie den Prozess noch nicht verstehen. Manche wissen nicht, wen sie wählen sollten, insbesondere mit dem plötzlichen Auftauchen von hunderten von Parteien. Andere trauen der Regierung nicht und der Art und Weise, wie die Wahlen koordiniert werden.

Sie können Lina Ben Mhenni beim Public Square Squared symposium am 4. September sehen.

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